Von wegen ein Volk: Die skandalöse Enteignung des Ostens ist weiter tabu
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Daniela Dahn spricht von feindlicher Übernahme. "Verschwörung" heißt es von Kritikern. Über die unangenehme Wahrheit der deutschen Einheitsgeschichte.
Am Dienstag war es wieder so weit. Jeden 3. Oktober im Jahr wird an die deutsche Einheit, an die Wiedervereinigung der beiden Deutschlands 1990 erinnert. Es ist sicherlich ein positives Datum, neben den vielen unangenehmen und schrecklichen in der deutschen Geschichte.
Feiern ist also durchaus angebracht. Wenn da nicht die Tatsache wäre, dass vielen dabei nicht wirklich zum Feiern zumute ist. Diesmal war es der Aufstieg der rechtsextremen AfD im Osten, der den politischen Feiertagsreden seinen Tribut abknöpfte. Beim Festakt in der Hamburger Elbphilharmonie erklärte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) etwas verschnörkelt: "Auch in herausfordernden Zeiten wie diesen geht es darum, Horizonte zu öffnen."
Aber um Horizonte zu eröffnen, braucht es eine ehrliche Bestandsaufnahme. Ein Rückblick auf das, was geschehen ist und weiter wirkt.
Leider ist es aber so, dass viele, wenn nicht die meisten, die in Deutschland Einfluss und Meinungsmacht haben, davor die Augen verschließen und eine Historie konstruieren, die vom bundesrepublikanischen Westen und den Gewinnern der Einheit erzählt wird.
Die Publizistin Daniela Dahn, einstiges Gründungsmitglied des Demokratischen Aufbruchs, hat den Mut und die intellektuelle Fähigkeit, eine andere Perspektive einzunehmen. Sie betrachtet viele damalige Forderungen weiter als unerfüllt. Ihre Abrechnung bringt Unangenehmes zutage.
Mancher mag hier stutzen: War nicht nach der Wende im Osten alles grau in grau, drohte nicht einigen Innenstädten der Zusammenbruch? Wer heute dagegen in Ostsee-Kurbädern, im barocken Dresden, in der Messestadt Leipzig oder in der Lausitzperle Görlitz Urlaub macht, über neue Autobahnen in den Harz fährt oder in Weimar die deutsche Klassik bewundert, sieht er nicht statt Abbruch Aufbruch, Verbesserungen, Aufblühen gar?
Daniela Dahn leugnet in ihrem Buch "Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute", das 2019 erschien, nicht, dass manches besser ist dreißig Jahre nach der Wende (heute sind es bereits 33 Jahre). Sie will aber nicht "hundertmal Gesagtes" wiederholen, sondern "hundertmal Verschwiegenes" zur Kenntnis bringen.
Denn was in großen Teilen der Öffentlichkeit weiter unter den Teppich gekehrt wird, ist, dass die Einheit ein skandalöser Enteignungsakt gewesen ist. Das ist so offensichtlich, dass es fast schon peinlich ist, daran erinnern zu müssen.
Dahn bringt es mit einer Zahl auf den Punkt: 95 Prozent des volkseigenen Wirtschaftsvermögens sind in westliche Hände übergegangen. Sicherlich legal beziehungsweise legalisiert, was nur den alten Spruch bestätigt, dass man die Frösche nicht fragt, wenn man den Sumpf austrocknet.
Die Auswirkungen sind, wie Dahn bilanziert:
Die Zahl der bundesdeutschen Millionäre verdoppelte sich auf über eine Million, während im Osten mit der ersehnten D-Mark die Zahl der Arbeitslosen von null auf vier Millionen stieg. Die Konstrukteure des wirtschaftlichen Desasters haben es laut Experten fertiggebracht, dem Staat, also den Bürgern, für die Kosten dieser Einheit zwei Billionen Euro in Rechnung zu stellen.
Man könnte so weiter machen. Im Schnitt verdient heute ein Vollbeschäftigter monatlich immer noch über 1.000 Euro weniger als im Westen. Das Vermögen ostdeutscher Eltern ist halb so groß wie das der Westeltern. Viele Ostrenten wurden entwertet.
Ganze Landstriche sind heute deindustrialisiert und ohne wirtschaftliche Perspektive. Viele Menschen sind Richtung alte Bundesländer abgewandert. "Die Bevölkerungszahl in Ostdeutschland entspricht heute der von 1905. Vorindustriell", schreibt Dahn.
Die Gebietsverluste für die Ostdeutschen und Gebietsgewinne für Kapitaleigner und Privilegierte aus dem Westen sind dabei nicht Resultat einer alternativlosen Wiedervereinigungspolitik gewesen, unter schwierigen Bedingungen, mit schmerzlichen Einschnitten für alle vollzogen, so die beliebte Sichtweise im Westen. Sie war nicht einmal eine Pannenshow unter Führung von halb- und viertelkompetenten Politikern und Bürokraten.
Wie Dahn an zahlreichen Beispielen verdeutlicht, war es eine "feindliche Übernahme auf Wunsch der Übernommenen", planmäßig und überfallartig vollzogen. Die Revolution wurde gegenrevolutionär abgewickelt.
Die Verantwortlichen beschleunigten dabei auf destruktive Weise den Übernahmeprozess, wo sie nur konnten. Die "unsichtbare Hand des Marktes" übernahm die Geschäftsführung in den neu gewonnenen Territorien. Nach dem Motto: The winner takes it all.
Auch hier muss eine Auflistung genügen: Harakiri-Währungsunion, gegen den Rat von westdeutschen Bankern schockartig eingeführt. Gesamtdeutsche Wahlen und Hauruck-Integration der DDR ins BRD-System, angetrieben mit Bankrottgerüchten und dem Versprechen von "blühenden Landschaften".
Treuhand-Privatisierungswalze, die Betriebe im Wert von mehreren Hunderten Milliarden D-Mark planierte. (So wurden aus einem Betriebsbestand, taxiert auf bis zu einer Billion D-Mark, am Ende minus 330 Milliarden D-Mark.) Austausch von ostdeutschen durch westdeutsche Professoren an den Universitäten. Und so weiter.
Immer lief es darauf hinaus, den Interessen von westdeutschen Bankern, Unternehmern, Agrarinvestoren, Managern, Politikern und Kultureliten Vorrang vor den Bedürfnissen der Bürger im Osten einzuräumen. Und als ob das nicht schon genug wäre, wurde den Profitmachern der Weg in den Schnäppchen-Osten noch mit deutschen Steuerzahler-Billionen geebnet. Wobei die "Ossis" mit ihren Solidaritätsbeiträgen ihre eigene Enteignung mitfinanzierten.
Das Augenmerk von Daniela Dahn liegt dabei nicht nur auf der materiellen Enteignung (die schlimm genug ist), sondern auch auf der kulturellen Abwertung und Delegitimierung. Schon kurz nach der Wende machten sich Teile der westdeutschen Meinungselite daran, die DDR sowie ihre Bürger pauschal zu diffamieren und abzukanzeln.