Das große Reinemachen vor dem Event
Rio de Janeiro erlebt im Hinblick auf die Fußball-WM im kommenden Jahr sowie die Olympischen Spiele 2016 eine Restrukturierung des städtischen Raums
Innerstädtische Favelas werden "befriedet", die Bewohner müssen zum Teil Sportanlagen und Hotels weichen. Gleichzeitig steigen die Mieten überall in der Stadt. Nun soll die brasilianische Metropole nicht nur sicherer, sondern auch sauberer werden.
"Null Müll" (Lixo Zero) heißt das Programm, mit dem die Behörden neurdings rigoros gegen den Müll in der Stadt vorgehen. Seit vergangener Woche verteilen Beamte von Rios Stadtreinigung Comlurb (Companhia Municipal de Limpeza Urbana) Strafzettel für unachtsam weggeworfene Abfälle, zunächst in den Innenstadtbezirken; später sollen die Routen auf Favelas und die Peripherie ausgeweitet werden. Begleitet werden die Müllmänner auf ihren Touren von jeweils einem Mitarbeiter der Stadtverwaltung von einem bewaffneten Polizisten.
Mit drakonischen Geldbußen versucht die Stadt, die Bevölkerung zu erziehen, den Müll nicht mehr einfach achtlos auf die Straße zu werfen - getreu dem Motto: Das sensibelste Organ des Bürgers ist sein Geldbeutel. Allein in den ersten Tagen wurden weit über einhundert Strafzettel verteilt, zum überwiegenden Teil für weggeworfene Zigarettenkippen, wie lokale Zeitungen berichteten. Dafür, sowie Bonbonpapier, Kaugummi oder Getränkedosen werden künftig 157 Reais (48 Euro) fällig. Bei einem Durchschnittslohn von 763 Reais (235 Euro) eine durchaus empfindliche Strafe. Je nach Vergehen können die Bußen bis zu 3.000 Reais (923 Euro) betragen.
Die Beamten der Stadtreinigung waren im Vorfeld extra trainiert worden, den Erklärungen und Ausreden der in flagranti Erwischten kein Gehör zu schenken. Wer ertappt wird und sich nicht ausweisen kann oder dies verweigert, kann mit auf die Polizeiwache genommen werden. Zudem droht bei Nicht-Begleichung der Bußen ein Eintrag bei Serasa, der brasilianischen Schufa - mit negativen Auswirkungen auf die Kreditwürdigkeit.
Strafen allein aber sind ineffizient, sagt Dan Moche, Spezialist für Umweltmanagement und Abfallwirtschaft, gegenüber der Tageszeitung "O Globo". Die Kampagne müsse durch Aufklärungsarbeit und die Anbringung von mehr Mülleimern begleitet werden.
Mehr Mülleimer - das verspricht der Präsident der Comlurb, Vinicius Roriz: "Wir werden die Anzahl der Müllbehälter von heute 30.000 erhöhen; bis Ende des Jahres werden siebentausend dazukommen. Zudem prüfen wir, größere Modelle anzubringen, vor allem in Gegenden, wo viel Müll produziert wird." Auch werde über die Beschaffung widerstandsfähigerer Behälter, zum Beispiel aus Kokusnussfasern, nachgedacht. Die existierenden Plastikmodelle würden oft beschädigt oder gestohlen und an private Recycler weiterverkauft. Das Problem vieler Müllbehälter in Rio ist zudem die zu kleine Öffnung; große Pappkartons oder selbst Kokosnussschalen passen oft nicht durch. "Aber wenn die Menschen nicht ihre Gewohnheiten ändern, zum Beispiel das Papier in der Hand zu behalten, bis sie am nächsten Abfallbehälter vorbeikommen, bewirkt die Erhöhung der Anzahl von Behältern nichts", so Roriz.
Die Stadt selber ist aber auch nicht gerade ein Vorbild in Sachen Müll: Comlurb trennt kaum mehr als 0,25 Prozent der Abfälle; ein Großteil der städtischen Abwässer wird zudem ungeklärt ins Meer geleitet.
"Befriedung" der Favelas
Das gemeinsame Vorgehen von Müllmännern und Polizisten im Rahmen von "Lixo Zero" aber ist ein schönes Bild. Es steht für die Entsorgung der Vergangenheit. Denn aufgeräumt wird in Rio schon länger. Seit 2008 läuft eine beispiellose Kampagne zur "Pacificação" (Befriedung) der innerstädtischen Favelas. Sie ist Teil des Sicherheitskonzepts für die Fußball-WM 2014 und Olympia 2016.
Die Grundidee ist, den Drogenbanden das Territorium zu entziehen. Um gewalttätige Auseinandersetzungen möglichst zu vermeiden kündigt die Polizei ihre Einsätze vorher an. Drogenhändler und Waffen können so in andere Viertel verschwinden. Hat die Militärpolizei die Favela besetzt, werden Einheiten der sogenannten Befriedungspolizei UPP (Unidade de Polícia Pacificadora) stationiert. Insgesamt 35 Favelas sind auf diese Weise bisher "befriedet" worden.
Trotz aller Unzulänglichkeiten haben die Maßnahmen die Favelas sicherer gemacht, wie eine im vergangenen Jahr erschienene Studie der Universität des Bundesstaates Rio de Janeiro (UERJ) zeigt. Die Probleme beginnen in der Regel, wenn es in einem zweiten Schritt darum geht, die öffentliche Versorgung zu gewährleisten und lokale Wirtschaftsstrukturen zu etablieren. Die Stadt baut lieber teure Seilbahnen auf die Hügel, statt die Gelder beispielsweise in die Gesundheitsversorgung zu stecken, wie von den Anwohnern gefordert. Stattdessen kommt es unter dem Vorwand von Sicherheitsbedenken zu Vertreibungen oder ganze Wohnsiedlungen dem Erdboden gleichgemacht, um Sportanlagen zu errichten oder teuren Wohnraum und Hotels zu schaffen.
Zwangsräumungen und die Säuberung der Stadt
Bereits im April 2011 hatte die UN-Sonderberichterstatterin für das Recht auf angemessenes Wohnen, Raquel Rolnik, harte Kritik an den Behörden von acht brasilianischen Städten wegen Vertreibungen und Räumungen von Favelas im Zusammenhang mit Bauprojekten für die WM 2014 und Olympia 2016 geübt. Sie beschuldigte diese, gegen Menschenrechte zu verstoßen, da tausende Familien zwangsweise aus ihren Häusern vertrieben wurden. Auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International und die Basiskomitees zu WM und Olympischen Spielen rügten erst kürzlich die Zwangsräumungen.
Rios Regierung entledigt sich der Ärmsten, um Plätze mit guter Sicht auf Rio zu schaffen. Selbst die gehobene Mittelschicht zieht es neuerdings zunehmend auf die Hügel in die befriedeten Favelas, wie Jacques Denis in der Le Monde Diplomatique schreibt. Folge ist eine Explosion der Immobilienpreise, eine Entwicklung, die durch die Spekulation mit Wohneigentum noch angeheizt wird. "2005 setzte mit der Aussicht auf Großereignisse wie die Fußballweltmeisterschaft und die Olympischen Spiele eine umfassende Dynamik ein. Die klassischen Voraussetzungen für das Spekulieren mit Grund und Boden sind seither gegeben", zitiert Denis Queiróz Ribeiro vom Forschungsinstitut für Stadt- und Regionalplanung (Ippur) der Bundesuniversität Rio de Janeiro (UFRJ). Ribeiro kritisiert die investorenfreundliche Politik der Stadtregierung: "Sie will dem Markt Zugang zu den informellen Siedlungsgebieten verschaffen, also dort das Grundeigentum auf eine Rechtsgrundlage stellen."
Die ebenfalls an der UFRJ tätige Politikwissenschaftlerin Sônia Fleury spricht von einer "ungerechtfertigten städtischen Säuberung" wegen der Sportgroßereignisse. Durch die Restrukturierung Rios seien rund 30.000 Menschen vertrieben worden, den Interessen von Investoren werde Vorrang eingeräumt, in einem "autoritären, geschlossenen, nicht-transparenten und symbolisch sehr gewalttätigen Entscheidungsprozess".
Ein Musterbeispiel für Aufwertung und Verdrängung, also Gentrifizierung, denn nichts anderes findet in den "befriedeten" Favelas statt, ist Porto Maravilha. Bei diesem Vorzeigeprojekt des konservativen Bürgermeisters Eduardo Paes, dessen Name eng mit dem derzeitigen Umbau Rios verbunden ist, werden die drei bisher vernachlässigten hafennahen Stadtviertel Saúde, Gamboa und Santo Cristo in einen großen Erlebnispark für Touristen mit Shoppingmalls, sanierten Wohnhäusern und Künstlerateliers verwandelt.
Ein weiteres Prestigeprojekt ist der Umbau des Maracanã-Stadions, dem "Sinnbild des neuen Brasilien", wie die FAZ vor zwei Jahren titelte. Die Komplettrenovierung des Fußballtempels war allerdings von Verspätungen und Kontroversen begleitet. Schwerbewaffnete Militärpolizei vertrieb indigene Gruppen, die seit mehreren Jahren in der Gegend um das Stadion gelebt hatten. Wegen diverser anderer Probleme verzögerte sich die Fertigstellung um vier Monate. Kurz vor der feierlichen Einweihung ließ eine Richterin das Stadion aus Sicherheitsgründen sperren, da Fans noch herumliegenden Bauschutt als Waffen benutzen könnten. Ein Berufungsgericht kippte die Entscheidung und beim Confederations-Cup in diesem Sommer bestand das neue Stadion die Feuertaufe.
Aber damit ist noch lange nicht alles eitel Sonnenschein. Aufwertung und Verdrängung finden nämlich nicht nur um das Maracanã-Stadion herum, sondern auch im Stadion selbst statt. Seit dem ersten Umbau 1999 für die Klub-WM im darauffolgenden Jahr sind die Eintrittspreise kontinuierlich teurer geworden. So haben sich die Ticketpreise in den letzten zehn Jahren vervierfacht. Mit Blick auf die WM 2014 wird das Preisniveau zweifellos weiter steigen.
Es ist ein kontinuierlicher Prozess des Wandels der Stadien, in denen die Besucher in erster Linie als Verbraucher und Konsumenten wahrgenommen und die aktiven, engagierten Fans zunehmend verdrängt werden. Ein Trend, der sich auch in anderen Stadien Brasiliens beobachten lässt, was die Wochenzeitung Brasil do Fato dieser Tage zu der besorgten Frage: "Stadium nur für die Reichen?" veranlasste. Eine Frage, die sich genauso auf den gesamten städtischen Raum gerichtet stellen lässt.