Das ist nicht tot, was ewig liegt...
H. P. Lovecraft im Netz und anderswo - Eine aktuelle Bestandsaufnahme zum Cthulhu-Mythos
H. P. Lovecraft: Dieser Name ist heute, 66 Jahre nach dem frühen Tod des zu Lebzeiten kaum gewürdigten Autors, Synomym für ein ganzes Genre unheimlicher Literatur - den "Cthulhu Mythos", manchmal auch als der "Kult der Großen Alten" bezeichnet. Faszinierend daran ist nicht allein die wenig umfangreiche erzählerische Hinterlassenschaft von Howard Phillips Lovecraft, sondern der beispiellose Umstand, dass das von ihm ersonnene mythische Modell - die Menschheit als Spielball einer uralten Rasse, die früher die Erde beherrschte und nun danach trachtet, die Herrschaft wieder an sich zu reißen - nicht nur zu seinen Lebzeiten von Autoren seines literarischen Zirkels wie Clark Ashton Smith, "Conan"-Erfinder Robert E. Howard, "Psycho"-Verfasser Robert Bloch und August Derleth (der in seinem eigens gegründeten Verlag "Arkham Press" nach Lovecrafts Ableben die ersten Buchausgaben der Werke des bislang nur in Groschenheften wie "Weird Tales" veröffentlichten kranken Visionärs herausbrachte), aufgegriffen und weiterentwickelt wurden, sondern bis in die Gegenwart etablierte wie junge Autoren inspiriert.
Deutschlands Phantastik-Top-Seller Wolfgang Hohlbein etwa ist ein anschauliches Beispiel. Vor 20 Jahren wurde er mit seiner ausdrücklich auf der Lovecraft'schen Motivwelt basierenden Romanheftserie "Der Hexer", die eine interessante Ergänzung zu den üblicherweise zwischen Kurzgeschichte und Novelle angesiedelten Beiträgen anderer Autoren darstellt, erst bekannt. Hohlbein, damals noch unter dem Pseudonym Robert Craven, wagte erstmals den Schritt, die Thematik in regelrecht epische Ausmaße weiterzuentwickeln. Leider hat der die Serie herausgebende Bastei-Verlag die ursprünglichen Hefte lediglich in der Form stark gekürzter Paperbacks wiederveröffentlicht, so dass dem Interessierten lange nur die schwierige und teure Suche nach den seltenen, lediglich einmal aufgelegten Originalen blieb. Vernünftigerweise hat der Weltbild-Verlag unlängst eine Hardcover-Nachdruck-Edition begonnen, die alle "Der Hexer"-Texte, sprich die Heftserie und die begleitenden sowie nachgeschobenen Taschenbücher, in der richtigen Reihenfolge wieder veröffentlicht.
Auch der in den letzten Jahren mit seinem vampirischen Buch-Zyklus "Necroscope" enorm erfolgreiche Brian Lumley hat sich um die Weiterentwicklung der Lovecraft'schen Ideen verdient gemacht - seine eindrucksvollsten Beiträge zum Kult wurden vom ehemaligen "Hexer"-Redakteur Michael "Mad Mike" Schönenbröcher in dessen Nachdruck-Reihe "Dämonen-Land" wieder veröffentlicht - die betreffenden Hefte dürften, ganz im Gegensatz zu den gesuchten "Hexer"-Originalen, noch vergleichsweise problemlos über Antiquare wie die Romantruhe zu beziehen sein, wie auch die anderen cthulhoiden DL-Ausgaben aus den Federn von "Perry Rhodan"-Autor Arndt Ellmer und wiederum Hohlbein, der im Rahmen von "Dämonen-Land" nicht nur dem "Hexer" zwei, drei Fortsetzungen folgen ließ, sondern mit der Nummer 23, "Lovecrafts Reise ins Grauen", dem Meister ein literarisches Denkmal setzte. Mit den Nummern 23, 52, 62, 72, 86, 99, 105, 106, 107, 114, 120 und 159 sind insgesamt 12 Bände zum Mythos zu zählen.
Hohlbein hatte die traditionelle Erzählform des Kultes gesprengt; Lumley allerdings blieb es zunächst vorbehalten, die Zeitachse im HPL-Universum weiterzuentwickeln - in seiner Story "Herrschaft der Monster" etwa hat sich die Menschheit bereits auf den Schrecken der Großen Alten eingestellt und benützt unter anderem modernstes technisches Instrumentarium, um den namenlosen Wesen den Garaus zu machen.
Mad Mike Schönenbröcher hat mit diesen relativ auflagenstarken Veröffentlichungen zum Cthulhu-Mythos sicher entscheidend zum HPL-"Revival" der letzten Jahre beigetragen - vor DL gab es neben den bei Suhrkamp veröffentlichten Hauptwerken von Lovecraft kaum adaptive Literatur in deutscher Sprache - von zwei ebenfalls bei Bastei verlegten Taschenbüchern mit Kurzgeschichten ("Cthulhus Schüler" und "Cthulhus Kinder" - beide in der TB-Reihe "Horror-Bibliothek" erschienen) und den in den 1970ern aufgelegten Lumley-Taschenbüchern einmal abgesehen. Leider wurde das ambitionierte Projekt "Dämonen-Land" mit Nummer 176 eingestellt, was unter anderem zur Folge hatte, dass für eine längere Phase wenig Neues aus Ulthar, Kadath oder gar R'lyeh zu vernehmen war.
Die Rettung nahte jedoch einige Jahre später in Form des ambitionierten Verlegers Frank Festa, der gerade den Blitz-Verlag verlassen hatte, um seinen eigenen Festa-Verlag zu gründen. Dort initiierte er "Lovecrafts Bibliothek des Schreckens" - das bislang beste und umfassendste deutschsprachige Angebot in Sachen Cthulhu-Mythos. Bei Festa werden hierzulande bislang nicht erhältliche Werke aus den Federn von Bloch, Copper, Smith oder Derleth verlegt. Auch Robert W. Chambers seltenes Werk "Der König in Gelb" - offensichtliches Vorbild für Lovecraft's "böses Buch" Necronomicon - ist hier erhältlich, genauso wie die ungekürzte Ausgabe von Lyon Sprague de Camps' hervorragender Lovecraft-Biographie (in der Reihe "Spektrum der Phantasten"). Auch der deutsche Autor Michael Marrak hat sein Meisterstück "Imagon" in diesem Rahmen veröffentlicht.
Eine mit Festa locker verbundene Firma ist Lars Peter Luegs Hörbuch-Label LPL Records, das zum Thema bislang einen 4-CD-Schuber namens "Der Cthulhu-Mythos" veröffentlicht hat und für Oktober dessen Fortsetzung sowie die teilweise cthulhoide Kurzgeschichten-Sammlung "Necrophobia - Pickmans Modell" angekündigt hat. Die LPL-Produktionen, neben den erwähnten erscheint bei LPL die deutschsprachige Hör-Fassung von Lumleys "Necroscope", sind erstklassig umgesetzt und gehören zu den interessantesten deutschen Phantastik-Hörbüchern der letzten Jahre.
Der "Kult der großen Alten" hat sich speziell hierzulande in den letzten Jahren sowohl in der ursprünglichen Form des Romanhefts wie auch in Büchern und Hörbüchern weiterverbreitet - aber auch international sind vielfältige Aktivitäten der "Kultisten" zu beobachten. Die Suchmaschine Cthuugle ist da nur die Spitze des Eisbergs.
Speziell bei den Rollenspielern haben sich Yog-Sothoth und seine Spießgesellen im großen Stil eingenistet. Chaosium betreibt schon seit geraumer Zeit mit großem Erfolg das RPG "The Call of Cthulhu", das weltweit mit anhaltender Begeisterung gespielt wird - bislang wurde knapp eine Viertelmillion Exemplare des Spielesets verkauft. Vor drei Jahren hat das englische Team "Headfirst" von "Chaosium" die Lizenz für First-Person-Action-Adventures auf des Basis von TCOC erworben. Das für das erste Quartal 2004 angekündigte Spiel "Call of Cthulhu - Dark Corners of the Earth" soll der erste Teil einer ganzen Serie werden. Der Spieler wird in der Rolle des Privatdetektivs Jack Walters im Jahr 1922 nach Innsmouth reisen, um eine vermisste Person zu finden und den Geheimnissen des Kultes auf den Grund zu gehen. Die auf der Homepage Screenshots sehen unter atmosphärischen Gesichtspunkten sehr viel versprechend aus - auch wenn "Headfirst" im Vorfeld keine Ansichten der Lovecraft'schen Wesen und Gottheiten präsentieren will.
Hochinteressant auch das Projekt The Dream-Quest of unknown Kadath von "Guerilla Productions" - ein Häuflein begeisterter Animations-Freaks um Edward Martin III., die nach diversen Kurzfilmen (u. a. "The Call of Cthulhu") auf einer Low- bis No-Budget-Basis nun ihren ersten "abendfüllenden" Trickfilm fertig gestellt haben; angelehnt übrigens an Jason Thompsons Comic-Adaption der gleichnamigen Geschichte, die bei Mockman Press erschienen ist. Der Animationsfilm "Dream-Quest" feiert seine Premiere passenderweise auf dem H. P. Lovecraft Filmfestival Mitte Oktober in Portland, Oregon, wo auch Brian Yuzna, der schon vorher (teilweise gemeinsam mit Stuart Gordon) mit "From Beyond", "Re-Animator", "Necronomicon" und "Dagon" die kommerziell wohl erfolgreichsten HPL-Bearbeitungen drehte, seinen neuen Beitrag "Beyond Re-Animator", vorstellen wird.
Film, "Pen & Paper"-Rollenspiel, Animation, Hörbuch, 3D-Game, Literatur, Comic - der Einfluss Lovecrafts ist heute offenbar überall festzustellen. Auch wenn sich mancher Kritikus an seiner offensichtlichen Misanthropie stört, auch wenn man ihn aufgrund diverser seltsamer Bemerkungen im Rahmen seines gigantischen Briefwechsels (um die 100 000 Briefe an Gott und die Welt) leichthin als Rassisten abstempeln könnte, auch wenn er vielleicht wirklich der "ganz gewöhnliche Scheißkerl" war, als den ihn ein unlängst ausgestrahltes Arte-Feature ausgemacht hat - der Wert seines wenig umfangreiches und doch imposantes Werk wird von seinen menschlichen Schwächen nicht geschmälert.
Letzten Endes waren es wohl gerade seine paranoide Abneigung der Menschheit gegenüber, sein Gefühl zur falschen Zeit im falschen Körper auf dem falschen Planeten leben zu müssen, sein schizophrenes Quasi-Einsiedlertum - den Großteil seiner sozialen Kontakte wickelte er über den erwähnten Briefverkehr ab - die es diesem vermutlich todunglücklichen Menschen ermöglicht haben, einige der schrecklichsten erzählerischen Phantasien auszuhecken, von denen bislang zu hören war.