Das schwedische Experiment scheint schief zu gehen
Die Regierung setzte mit ihrem Chefvirologen auf die kontrollierte Erzielung der Herdenimmunität durch möglichst wenige Verbote
Mittags um zwei Uhr gerät die Welt des schwedischen Sonderwegs letztens in Unordnung. Denn dann werden die aktuellen Zahlen zur Pandemie verlesen, am Freitag wurden 6078 Ansteckungen registriert (Donnerstag 5466) und 333 Tote (Donnerstag 282). Am Donnerstag kamen 43 neue Todesfälle hinzu, am Freitag 51.
Das sei "leider ein neues Niveau", so der "Staatsepidemologe" Anders Tegnell bereits am Donnerstag auf der Pressekonferenz, wo nun die Journalisten ein wenig Abstand zu einander halten, noch vor einigen Tagen saßen sie dicht gedrängt beieinander. "Die Kurve geht etwas steiler nach oben, sie ist aber immer noch relativ flach", relativiert der Arzt des Gesundheitsamtes, sein Stellvertreter Anders Wallensten gebrauchte am Freitag eine etwas andere Formulierung, sie steige fortwährend. Es war der bislang höchste Zuwachs an Fällen.
Auf die Frage eines norwegischen Journalisten, wie es um die Reiselust der Schweden um Ostern aussehe, erklärte Wallensten, dass man auf die Vernunft der Bevölkerung zähle, doch "total verboten" sei dies nicht.
Nicht gleich zu viel verbieten, so ist das Konzept des Architekten des schwedischen Sonderwegs, Anders Tegnell, der eine Herdenimmunität kontrolliert zulassen will, ein Wort, das der 63-Jährige jedoch nicht mehr in den Mund nimmt.
Sein Konzept sieht so aus: Die Alten und Menschen mit gewissen Erkrankungen sollen geschützt werden, das restliche Leben soll jedoch normal weiter gehen. Dies führt dazu, dass sich die normale Bevölkerung langsam infiziert. Großbritannien und die Niederlande sind von diesem Weg bereits abgerückt, es bleibt allein Schweden.
Dort sind bislang die Grundschulen, die Restaurants weiter geöffnet, EU-Bürger dürfen einreisen. Die großen Städte sind nicht leer wie etwa in anderen Metropolen Europas, die Menschen auf den Straßen und in anderen öffentlichen Räumen halten wenig Abstand zueinander.
Regierung vertraut den Erklärungen des Gesundheitsamts
Auch Johan Carlson, der Chef des schwedischen Gesundheitsamts vertritt die Linie seines Experten. "Es ist ein sehr, sehr kniffliges Experiment, das ganze Volk für vier bis fünf Monate einzuschließen", sagte Carlson Anfang dieser Woche im schwedischen Sender SVT. Eine Retourkutsche auf die internationalen Vorwürfe, die den schwedischen Weg in der Pandemie ein fragwürdiges Experiment nennen.
Die Bevölkerung soll eine eigene Einsicht entwickeln, so das Credo von Carlson und Tegnell. Eine eigentlich seltsame Linie in einem Land, das für seinen bevormundenden Fürsorgestaat bekannt ist, der den Bürger gerne kontrolliert. Als Neuerung will Schweden nun mehr Tests umsetzen, 20.000 bis 30.000 die Woche.
Die rotgrüne Regierung unter Stefan Löfven baut hier ganz auf die Expertise des schwedischen Gesundheitsamts, oft wiederholt Löfven deren Empfehlungen vom Vortag eins zu eins.
Die vergleichsweise lockere Krisenpolitik ließ bislang das Vertrauen in der Bevölkerung gegenüber der Regierung wachsen, von 26 Prozent im Februar zu 44 Prozent Ende März.
Virologen im eigenen Land wie auch auswärts sind kritischer: "So lange die Kinder in den Schulen herumspringen und sich anstecken, wird es auch in der Gesellschaft zu einem Anstieg der Infektionen kommen", meint etwa die pensionierte Virologie-Professorin der Universität Oslo, Björg Marit Andersen.
Nimmt man die Toten pro einer Million Einwohner, steht Schweden im Vergleich zu seinen skandinavischen Nachbarn, die bereits seit Wochen weit rigorosere Maßnahmen ergriffen hatte, schlechter da. In Schweden gibt es derzeit 30,2 Tote pro einer Millionen Einwohner, in Dänemark 21,2, in Norwegen 9,4 und in Finnland 3,4, wo am vergangenen Freitag der Raum Helsinki abgeriegelt wurde, da sich dort ein Großteil der Infizierten aufhält. Solche Maßnahmen wären in Schweden undenkbar. Erst Anfang dieser Woche war die Versammlung von mehr als 50 Personen verboten worden, zuvor waren noch 500 erlaubt.
Zum weiteren Vergleich: In Deutschland kommen derzeit 13,3 Tote auf eine Million, in den USA 18,1, in Großbritannien 44, in Italien 230,3 und in Südkorea sind es 3,3.
Für viel Aufsehen erregte auch die Debatte um die Wintersportorte. Dort wurden noch bis zum 21. März Partys gefeiert, bei denen 499 Gäste zugelassen waren. Kritiker befürchteten, dass sich die schneesicheren Skizentren zu einem Infektionsherd wie etwa Ischgl entwickeln können. Am Dienstag in der letzten Woche gab das Gesundheitsamt dann ausdrücklich die Erlaubnis, den Skibetrieb über Ostern laufen zu lassen.
Hinter der aktuellen Entscheidung des Gesundheitsamtes zum Wintersport könnten jedoch auch wirtschaftliche Zwänge stehen - denn das schwedische börsennotierte Unternehmen "Skistar" betreibt die Lifte und weitere Einrichtung in Sälen, Are und Vemdalen - den drei großen Skiorten des Landes.
Und Skistar musste bereits Verluste hinnehmen - seine Einrichtungen in zwei norwegischen Skizentren wurden vor 14 Tagen geschlossen, in St Johann, Tirol, wo das schwedische Unternehmen ebenfalls engagiert ist, herrscht schon lange erzwungenes Saisonende.
Doch diese Woche machte das Unternehmen dann einen Rückzieher - am 6. April wäre der letzte Saisontag. Die Verantwortung für einen Pandemieschub an Ostern wollte "Skistar" nicht auf sich nehmen. Denn viele Gäste wären aus dem Raum Stockholm gekommen, wo sich knapp die Hälfte derjenigen befinden, die sich mit SARS-CoV-2 angesteckt haben.
Mittlerweile wurde ein großes Feldlazarett auf dem Messegelände der Hauptstadt aufgebaut, mit 10 Betten einer Intensivstation und 140 Betten, die auf 600 erweitert werden könnten.
Noch ist es nicht klar, wie das schwedische Experiment ausgehen wird
Tegnell wurde 2013 "Staatsepidemologe", ein Amt, zu dem das Beobachten und Erklären von ansteckenden Krankheiten im Land gehören. Er steht nun im Zentrum des öffentlichen Interesses. Zumeist in einen alten Pullover gehüllt, verkörpert er den Wissenschaftler, der vertieft in sein Fach ist und wenig Sinn für Äußerlichkeiten hat.
Ein reiner Theoretiker ist er keinesfalls, er hat bereits Erfahrung mit extremen Situationen, die ihn sehr geprägt haben sollten. Er half in den Neunziger Jahren als Arzt bei der Ebola-Krise in Zaire. Der Zusammenbruch des Gesundheitssystems, den er dort erlebte, will er in Schweden nicht wiederholt sehen, darum beharrt er auf offenen Grundschulen, damit das Krankenhauspersonal mit Nachwuchs nicht der Arbeit fern bleibt, um die Kinder zu betreuen.
Für viele Schweden ist er weiterhin ein "Held im Sturm", so die eher regierungsnahe Zeitung "Aftonbladet", oder er gilt als "Landesverräter" wie in Sozialen Medien und Hassmails. Die bürgerlich ausgerichtete Zeitung "Svenska Dagbladet" hält ihn von den Ereignissen "überrumpelt".
Schon Anfang Februar gab es den ersten Fall in Schweden, doch noch am 26. Februar versicherte er, die Möglichkeit sei gering, dass sich die "Importfälle" weiter verbreiteten. Anfang März, als in Europa die Corona-Bedrohung ernste Formen annahm, verbrachte er mehre Tage anlässlich eines schwedischen Hilfsprojekts in Somalia. Ende Februar sollte die Schutzbekleidung in den schwedischen Krankenhäusern noch reichen, zwei Wochen später beklagte man sich dort über ihren Mangel.
Tegnell gestand lange keinen Fehler wirklich ein. Er hielt seine Schritte für richtig, auf der Basis der bisherigen Daten, auf die er immer wieder verweist. Erst am Donnerstag gestand er in einer Talkshow des Senders SVT, man hätte früher reagieren können.
Zu Schweden kommen derzeit aus Boston mit seinen renommierten akademischen Zentren zwei Prognosen. Die Zeitung Aftonbladet bezieht sich ohne weitere Angaben auf eine Harvardstudie, die nicht ganz klar wiedergegeben wird. Demnach sollte man die Verbreitung um 20 bis 40 Prozent in den ersten 20 Wochen reduzieren. Wenn man die Verbreitung um 60 Prozent stoppen würde, käme es in der zweiten Welle im Herbst zu einer erhöhten Anzahl von Infizierten.
Anders sieht dies der Physiker Yaneer Bar-Yam, der sich als Gründungspräsident des "New England Complex Systems Institute" mit Modellen komplexer Systeme wie Pandemien befasst. Gegenüber der dänischen Zeitung "Berlingske" sagte er Schweden mit seiner Krisenpolitik italienische Verhältnisse voraus.
Er empfiehlt drei Maßnahmen, die nur in Kombination funktionierten - der Lockdown, die Abriegelung des gesellschaftlichen Lebens für bis zu sechs Wochen, dazu das umfangreiche Testen sowie die Isolierung der Infizierten und schließlich die Einschränkung der Mobilität. Seiner Ansicht nach hat Dänemark in Europa seine Vorgaben mit Abstand am besten eingehalten, die Regierungschefin Mette Frederiksen habe zu hundert Prozent das Richtige getan. Dänemark hat bereits am 13. März einen Lockdown umgesetzt und am 14. März die Grenzen geschlossen. Die dänische Sozialdemokratin verspricht für die Zeit nach Ostern eine mögliche Lockerung der Restriktionen.