Das wüste Land
Zu Clifford Stolls "Die Wüste Internet. Geisterfahrten auf der Datenautobahn." (Fischer Verlag 1996. 51 Seiten. DM 38,00)
Ist das Internet ein Zeitdieb? Angefüllt mit nutzlosen Informationen, und dennoch mit einer eigentümlichen, magischen Anziehungskraft, die uns süchtig macht nach seiner Leere? Dann sollten wir vielleicht alle dem Beispiel des amerikanischen Astronomen Clifford Stoll folgen und den Stecker, der uns mit der Welt verbindet, schnellstens aus der Wand ziehen. Gründe dafür und einige dagegen lesen Sie in Stefan Münkers Besprechung.
Wenn Sie diese Zeilen lesen, haben Sie bereits eine mehr oder weniger lange Reise durch das Internet hinter sich. Wahrscheinlich haben Sie bereits Ihren elektronischen Briefkasten nach Nachrichten durchsucht und dann Ihren WorldWideWeb-Browser gestartet. Im Web sind Sie mit Hilfe Ihrer Maus über eine ganze Anzahl unterschiedlicher Seiten navigiert. Allein innerhalb von Telepolis haben Sie wenigstens drei Links verfolgt, bevor dieser Text auf Ihrem Bildschirm erschienen ist.
Das Internet als Zeitdieb
Je nach der Geschwindigkeit Ihres Modems, der Qualität des Internetzugangs Ihres Providers, der Menge des momentanen Verkehrs im Netz hat Ihre Reise hierher eine nicht unbeträchtliche Weile gedauert. Während der vergangenen Minuten hätten Sie auch einen Freund anrufen, einen Artikel in der Tageszeitung lesen oder wenigstens einen Kaffee aufsetzen können. Wahrscheinlich aber haben Sie vor dem Bildschirm gesessen und die meiste Zeit gewartet. Nicht ohne Grund trägt das WorldWideWeb den Spitznamen WorldWideWait. Über seine Seiten zu surfen, hat nichts von einem schnellen Wellenritt - es gleicht schon eher einer mühsamen Dünenwanderung bei Gegenwind. Von der viel beschworenen Datenautobahn ist mit dem Internet erst allenfalls die Kriechspur realisiert. Das wird sich ändern - schnelle ISDN-Verbindungen, noch schnellere ATM-Netze beginnen bereits heute, der Metapher vom Information Super Highway zumindest ein wenig an Plausibilität zu verleihen. Doch wenn wir dereinst tatsächlich ohne Verzögerung durch die Datenfluten gleiten - werden wir für unsere Schnelligkeit belohnt oder rasen wir vielleicht nur von einer Belanglosigkeit zur nächsten? Schließlich garantiert auch ein sehr gut ausgebautes Transportnetz noch nicht für die Qualität der transportierten Güter.
Der Inhalt des Internet ist zu einem nicht unerheblichen Teil Datenmüll.
Und schon jetzt ist, seien wir ehrlich, ein nicht unerheblicher Teil der via Internet verbreiteten Information nichts als nutzloser Datenmüll, unbrauchbarer digitaler Schrott, der unsere Festplatten verstopft, wenn wir ihn nicht rechtzeitig abwehren. Der Bericht über seine Reisen durch die Wüste Internet, den der amerikanische Autor Clifford Stoll - einem breiten Publikum durch den Erfolg seines Romans Kuckucksei bekannt - jüngst auch auf deutsch vorgelegt hat, schürt solche Zweifel; und er schleudert allen Erwartungen, es könne auch anders und zwar besser werden, ein ebenso klares wie subjektives Nein! entgegen. Stoll, von Hause aus Astronom, ist zugleich ein Spezialist in Fragen des Datenschutzes, und er weiß nach fünfzehn Jahren Internet-Erfahrung recht gut, wovon er redet - auch, wenn nicht alles stimmt, was er sagt. Auf seinen Geisterfahrten auf der Datenautobahn, so der deutsche Untertitel, spürt er überall eine allzu deutliche Differenz zwischen pathetischen Visionen einer vernetzten Welt und der Realität der vernetzten Welt auf.
Zwischen visionären Erwartungen an das Netz und seiner Realität klafft ein Spalt, der nicht zu überbrücken ist.
Diese Differenz hat ihren Grund in einem oft recht naiven technologischen Fortschrittsglauben, den Stoll mit teilweise recht plastischen Beispielen destruiert. Die Erfindung telematischer Medien allein vermag noch nichts positiv zu verändern. Für komplexe soziokulturelle und gesamtgesellschaftliche Aufgaben gibt es "keine simplen technologischen Lösungen". Das ist richtig festgestellt und deckt kritisch einen Gründungsmythos des Informationszeitalters auf - die Geschichte von der fortschreitenden Verbesserung unserer Kommunikationsverhältnisse durch ihre permanente Vereinfachung. Dieser Mythos entspringt unmittelbar der Logik der Computerkultur, der zufolge, so Stoll, Leistung und Geschwindigkeit identisch sind. Das zentrale Problem der Erzählung über kommunikationsrelevante Auswirkungen der elektronischen Medien und ihrer globalen Vernetzung ist ihr Mißverständnis der Kommunikation als Problem, welches einer Lösung bedarf: Tatsächlich jedoch ist Kommunikation wohl eher eine Aufgabe, die zwar Arbeit erfordert - aber eben keine Lösungen.
Kommunikation ist kein Problem, sondern eine Aufgabe.
Die nämlich wären am Ende nichts anderes als die Abschaffung der Kommunikation. Die Angst vor solcher Abschaffung der Kommunikation liegt, wie mir scheint, Stolls Kritik der vermeintlichen Leere in der Wüste Internet als ein Hauptmotiv zugrunde. Wo er diese Kritik an konkrete Erfahrungen anbindet, sind seine Einwände oftmals klar und plausibel. So beschreibt er treffend, wie "das Internet ein Gefühl von Dringlichkeit verbreitet." Dieses Gefühl, Echo der Ungeduld der Wartenden, verführt zu Hast - und damit zur inhaltlichen Oberflächlichkeit, zu stilistischer Verflachung und orthographischen Nachlässigkeiten. (Wie oft senden wir Emails ab und bereuen es später!) Der Hinweis auf eine mögliche Verschlechterung der Kommunikation aber ist noch kein Beleg für deren drohendes Ende, für ihre mögliche Abschaffung, die Stoll jedoch fürchtet. Die Angst ist auch hier ein schlechter Ratgeber - und weil Stoll auf sie hört, neigt seine Polemik zu falschen Gegenüberstellungen und ungerechtfertigten Übertreibungen. Falsch etwa ist es, wenn er den Leser vor die Wahl stellt, ob er einen Jäger mit Computerkenntnissen einem mit Erfahrung im Umgang mit Tieren vorzieht. Übertrieben ist, wenn er die Anonymisierungs- und Dezentralisierungsstrategien im Cyberspace lediglich als Techniken der Isolierung und Fragmentierung der Individuen beschreibt - und nicht zugleich als solche der Pluralisierung von Identität und intersubjektiven Sozialisierung. Wovor Stoll warnt, wäre sicherlich katastrophal.
Droht die Realität zu verschwinden?
Es wäre die Ablösung der realen durch die virtuelle Welt, befördert von jenen, die "das Internet als Allheilmittel" propagieren. Eine solche Ablösung allerdings steht gar nicht bevor. Die entsprechende Propaganda mag zwar Teil der ideologischen Überfrachtung des Internet-Hype sein, ihre Befürworter allerdings stellen kaum mehr als eine kleine gesellschaftliche Randgruppe dar. Damit aber zeugt Stolls Warnung von einer dogmatischen Verengung der Perspektive, die der Autor zu Anfang des Buchs noch weit von sich weist, die aber leider dennoch seinen Grundtenor bestimmt. Dabei hat Stoll grundsätzlich Recht damit, sich gegen die arrogante Selbstbezüglichkeit der neuen Medien zu richten. Auch sie müssen selbstverständlich für etwas sinnvoll genutzt werden, bevor sie sich als etwas Sinnvolles erweisen können. Für das Internet als das Netz der Netze heißt dies, daß es zuallererst ein Netz der Menschen und ihrer Interessen werden muß, bevor es auch nur beginnen kann, den Erwartungen gerecht zu werden, die wir in seinen Aufbau investieren.
Das Internet ist wüst - aber nicht öde.
Haben wir uns in diesen Erwartungen aber erst einmal von den Gedanken an die Beschleunigung und Erleichterung unserer Kommunikationsverhältnisse getrennt und uns auf ihre Diversifikation und Komplexifizierung eingestellt, dann entdecken wir möglicherweise im wüsten Land Internet statt der öden unkultivierten Leere, die Stoll ihm attestiert, die Produktivität seines Chaos ...