Debatte: Meinungen aufs Geratewohl
Auch die Bewertung von Tatsachen ist keineswegs nur Geschmackssache. Über Verständigungsprobleme nicht nur im Journalismus, Hürden der Aufklärung (Teil 4 und Schluss).
Sind die Fakten zu einem Thema geklärt und anerkannt, liegen die nächsten großen Verständigungshürden in deren Bewertung. Der Sinn jeder Diskussion kann nur sein, die eigenen Bewertungen anhand der von anderen vorgetragenen zu überprüfen – und daraufzusetzen, dass alle Beteiligten so verfahren.
Das setzt voraus, die eigene Position nicht für 100 Prozent perfekt zu halten. Selbst wenn man sehr von ihr überzeugt ist, es sich z.B. um eine moralische Grundhaltung handelt, muss die Option bestehen, andere könnten mit ihrer Beurteilung der Situation besser liegen.
Teil 1: Was ist und soll eigentlich (unsere) Demokratie?
Teil 2: Tatsachen als Problem der Verständigung
Teil 3: Wenn Diskussionsgrundlagen unklar sind
Die im demokratischen Prozess so oft betonte Kompromissbereitschaft ist etwas anderes: Denn dabei nähern sich die Meinungen gerade nicht an, ihre Protagonisten sind nur bereit, auf die ungestutzte Umsetzung in politisches Handeln zu verzichten. Davor allerdings steht der Meinungsstreit, das Ringen um die richtige Bewertung.
Hauptproblem Nummer eins dabei: das Messen gleicher Dinge mit unterschiedlichen Maßstäben bzw. genauer, um im Tatsachenbild zu bleiben, das unterschiedliche Beurteilen gleicher Messergebnisse ohne für alle Beteiligte akzeptable Begründung.
Die Wertung "Preprint" in Corona-Debatten
Nehmen wir aus den Corona-Debatten beispielsweise die unterschiedliche Bedeutungszumessung wissenschaftlicher Erkenntnisse als "Preprint", also eine Veröffentlichung, die noch von keiner Fachzeitschrift einer Begutachtung unterzogen und aufgrund der positiven Prüfung (oft erst nach Verbesserungen) zur Publikation angenommen worden ist.
Wenn es sich um einen Preprint-Aufsatz handelte, wurde dies stets von denen betont, die an den Ergebnissen oder deren Bewertungen Zweifel hatten (gelegentlich Autoren eingeschlossen).
Die Bedeutungsabstufung erfolgte jedenfalls nicht konsistent, zumal in allen anderen Fällen völlig auf ein solches Prüfverfahren verzichtet wird: Etwa wenn Wissenschaftler Bücher veröffentlichen oder wenn sie als Experten von Medien befragt werden, Interviews geben oder in Talkshows diskutieren.
Was von dem so Geäußerten nicht ein alter Hut (und damit auch von jedem anderen vortragbar) war, müsste mit dem "Preprint-Label" versehen werden: Achtung, die Aussagen sind noch nicht von anderen Fachleuten überprüft worden.
Die Wertung "Sexismus"
Die Wertung "Sexismus" ist permanent Ergebnis unterschiedlicher Bewertungen gleicher Tatsachen, so dass es ihn in der öffentlichen Debatte praktisch nur von Männern ausgehend gibt. Dabei ist zunächst jede Äußerung über die (mutmaßliche) Ausprägung primärer oder sekundärer Geschlechtsmerkmale vergleichbar und daher entweder gleichermaßen für verbale Auseinandersetzungen abzulehnen oder zuzulassen.
Und so führen teilweise bei denselben Menschen uralte Witze über Geschlechterklischees zu Empörung (Twitter), die Penis-Bemerkung einer Klimaaktivistin aber zu Jubel (Twitter). Beides wurde mit eben dieser Konnotation auch von den Nachrichtenmedien behandelt.
Spaziergänge werden bei Protesten gegen Waldrodungen für Autobahnbauten unproblematisch als solche bezeichnet, bei Protesten gegen die Pandemie-Politik jedoch apostrophiert und problematisiert. (Dass der Protestform "Spaziergang" oft Demonstrationsverbote, versagte Anmeldebestätigungen oder einschränkende Auflagen zugrunde liegen und sie deshalb gewählt wird, gehört zu den Tatsachen, die vor einer Kommentierung zur Kenntnis zu nehmen wären.)
Bewertung von Gewalttaten bei Demonstrationen
Die Bewertung von Gewalttaten bei Demonstrationen hängen stark von den politisch bekundeten Zielen ab, ebenso wie die Beurteilung sonstiger Gewalttaten regelmäßig von den Tätern abhängt (siehe derzeit die Polarisierung bei Debatten um die jüngsten "Silvesterkrawalle").
Die Veröffentlichung einer Rechercheanfrage wurde bei Christian Drosten bejubelt (weil sie von der Bild-Zeitung kam?), bei Fynn Kliemann gescholten (obwohl er die Fragen öffentlich beantwortet hat).
Die Ausübung des "Hausrechts" auf Social-Media-Plattformen können ein und dieselben Personen in einem Fall grundsätzlich richtig finden (nach dem Motto: Seit wann ist ein privates Unternehmen verpflichtet...?), in einem anderen Fall als Angriff auf nicht weniger als die Demokratie sehen (zuletzt etwa in großem Stil, als Twitter am 15. Dezember 2022 acht Journalisten-Accounts vorrübergehend sperrte). Solch selektive Wahrnehmung von Tatsachen bei der Bewertung erschwert die Erörterung erheblich.
Oder: Welche Beschränkungen der eigenen Autonomie oder welche verbale Ansprache ist "Gewalt"? (Ausführlich zum Verständigungsproblem durch unterschiedliche "Gewalt-Wertungen" Strafrechtler Thomas Fischer).
Es geht nicht darum, in der Betrachtung alles gleich zu machen, sondern Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu bewerten. Ob einem das Ergebnis dann gefällt oder nicht, steht auf einem anderen Blatt. Wer bei der Bewertung von zwei Tatsachen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommt, muss daher – intersubjektiv nachprüfbar – verschiedene Tatsachen vorliegen haben.
Tötung
Die ganze Bandbreite von Bewertungen finden wir beispielsweise bei der Tötung von Menschen. Sie reicht von unbedingt verachtenswert (Todesstrafe) und unbedingt zu verhindern (Selbsttötung) über einen "wir schauen mal lieber nicht so genau hin"-Bereich (Exekution von als Krieger gelabelte mutmaßlichen Terroristen) bis hin zu unbedingt notwendig (Waffenlieferungen aus Nächstenliebe).
Bewertung von "Widerstand"
Auch beim Befolgen von Regeln erleben wir ein buntes Spektrum von Bewertungen vergleichbarer Tatsachen durch dieselben Personen. Was ist anerkennenswerter oder gar gebotener "ziviler Ungehorsam", was eine ungebührliche Ordnungswidrigkeit oder Straftat?
Bei Straßenblockaden hängt die öffentliche Wertung entscheidend vom politischen Ziel ab, eine geradezu groteske Verzerrung für die Sachdiskussion. Da können auch Nicht-Juristen vom richterlichen Blick lernen.
Wer Widerstand gegen "das System" in Sachen Klimaschutz als Notstandshandlung rechtfertigen möchte, kann nicht gleichzeitig rein verbale Kritik an anderen Formen der Herrschaftsausübung als "Delegitimierung des Staates" kriminalisieren. Denn was sind die aktuellen Klimaproteste anderes als der (tätliche) Vorwurf von Staatsversagen?
Wann ist das Befolgen als unsinnig empfundenen Regeln geboten, fragwürdig, illegitim oder illegal? Vergleiche mit der Zeit vor der Bundesrepublik werden dabei ebenfalls willkürlich zugelassen oder erbost abgelehnt (wobei grundsätzlich darauf hinzuweisen ist, dass nun einmal die Nazi-Diktatur die jüngste zum Vergleich anstehende Zeit ist und nichts dafür spricht, besser historisch noch weiter zurückzugehen).
Was bedeutet es, wenn die Exekutive (oder gar die Legislative) rechtswidrig handelt, wie dies bspw. mit den Ausgangssperren 2020 der Fall war?
Eine Gesellschaft kann in ihrer Vielfalt mit solchen Problemen nur klarkommen, wenn die Bewertungen nicht willkürlich, d.h. ergebnisgeleitet erfolgen.
Die "Grenzen des Sagbaren
Eine besondere Form willkürlicher Bewertungen ist bei den "Grenzen des Sagbaren" zu beobachten, weil hier aus willkürlichen Wertungen neue, fallbezogene Regeln geschaffen werden. Wenn ein Argumentum ad hominem in Diskussionen nichts zu suchen haben, dann gilt dies ausnahmslos. Die Bewertung als illegitim muss ohne Ansehen der Person erfolgen. Und doch waren und sind Donald Trumps Haarfarbe und Boris Johnsons Frisur in Diskussionen allgegenwärtig.
Wenn "toxische Männlichkeit" eine zulässige Wertung ist, dann muss dies ebenso für "toxische Weiblichkeit" gelten. Wenn es typisches Verhalten "alter weißer Männer" gibt, dann muss ein Befund für "alte schwarze Männer" oder "junge asiatische Frauen" ebenso zulässig sein. Wer einen Wertmaßstab zulässt, muss ihn für alles Vergleichbare zulassen, wer eine Wertung vornimmt, muss mit einer konträren Wertung durch andere rechnen. Wo "hübsch" möglich ist, muss auch "hässlich" Raum haben, andernfalls wäre die Wertung sinnlos.
Erfolg, abhängig von der Auswahl der Zeitausschnitte
Verständigungsprobleme verursacht bei der Bewertung von Entwicklungen die willkürliche Wahl von Zeitausschnitten. Wann war die Industrialisierung "erfolgreich"? Wenn es in den ersten Jahrzehnten mehr Menschen besser als schlechter ging, wenn man Freud und Leid von Jahrhunderten betrachtet oder wenn die Bilanz bei der Endabrechnung positiv ist?
In der Bewertung des Pandemie-Managements wurden mal Wochen, mal Monate betrachtet, mal mit entsprechenden Zeitfenstern in den vorpandemischen Jahren verglichen, mal Schätzwerte für die Zukunft zum Maßstab erhoben.
Ist eine einzelne Corona-Bekämpfungsmaßnahme erfolgreich, wenn unmittelbar Inzidenz- oder andere Messwerte positiv zu beurteilen sind, oder wenn man die Wirkung über Monate, Jahre oder gar Jahrzehnte betrachtet (was etwa für die gesundheitlichen Auswirkungen von Bildung notwendig wäre)?
Anschaulich wird dieses Problem (oder, je nach Wertung, der argumentative Trick) beim Vergleich unterschiedlicher Visualisierungen von Messergebnissen (Bsp. zur Benzinpreisentwicklung bei Bildblog).
Oft werden Vergleichsdaten, die für die Bewertung notwendig sind, gar nicht benannt. Auch dies ist bei der aktuellen Diskussion um Randale zu Silvester zu erleben. Gerade zu Beginn lagen die gemeldeten Zahlen zu Angriffen auf Polizei und Rettungsdienst auf dem Niveau der Jahre vor der Pandemie.
Mit welchem Ausmaß nach zwei Jahren ohne Feuerwerksverkauf und mit vielen Verbotszonen zu rechnen gewesen wäre, um von einer "normalen Silvesternacht" zu sprechen, verriet niemand (abgesehen davon, dass man natürlich jeden Angriff verurteilen muss).
Ähnliches kennen wir von allen Kommentaren zu Covid-19-Inzidenzen: ob 50, 500 oder 2500, sie galten vielen stets als dramatisch und nicht hinnehmbar. Ebenso bei den Todesfällen (von denen es vor Corona etwa 2600 pro Tag gab).
Die eigene Bewertung als Maßstab
Besonders willkürlich wird eine Bewertung, wenn als Wertungsmaß die eigene, nur für diesen Fall geltende Erwartung herangezogen wird. Darauf basieren Skandalisierungen. Dass sich oft viele Menschen anschließen, macht das Verfahren nicht seriöser. Worin bestand die "Peinlichkeit" im knapp einminütigen Instagram-Video der Verteidigungsministerin Christine Lambrecht?
Darin, dass Kritiker die Lambrecht umgebende Silvesterknallerei nicht mit Silvester, sondern mit dem Ukraine-Krieg in Verbindung brachten. Als ob es den russischen Überfall gebraucht hätte, um von Feuerwerksgeräuschen an Kriegsknallerei erinnert werden zu können.
Alle zur Schau gestellte Häme war zwar voraussehbar (weshalb Wertungen wie "PR-Debakel" treffend sind unter der Annahme, der Instagramkanal sei Teil Lambrechts Öffentlichkeitsarbeit), basiert aber auf keinerlei allgemeingültigen Kriterien, sondern nur der eigenen Erwartungshaltung, für die selbst die eigene Schwerhörigkeit herangezogen wurde (Kabarettist Fritz Eckenga).
Schlimmer erging es Armin Laschet, der unter unbemerkter Beobachtung über eine witzige Bemerkung gelacht hatte an einem Ort und zu einem Zeitpunkt, da Skandalisierungsfreunde Lachen für unbotmäßig erklärten – natürlich erst im Nachhinein, ohne jedes Refugium für Befreiungshumor und ähnliches.
Während in anderen Fällen Ehrlichkeit und Authentizität von Politikern gefordert wird, erwartete das erregungssüchtige Berlin beim Hochwasser in Erftstadt eine Betroffenheitsinszenierung, der sich auch die private Kommunikation hätte fügen sollen.
Sobald es allerdings um Geschmacksfragen im weitesten Sinne geht, kann es gar keine externe Bewertung geben, ein jeder kann sie nur selbst und nur auf sich bezogen vornehmen: wie schwer ein Lockdown wiegt beispielsweise oder ob eher Feuerwerk oder ein Restaurantessen Geldverschwendung ist.
Aus der Vielzahl weiterer Hürden der Aufklärung sei auf die ex-post Bewertung von Ereignissen verwiesen. Womit nicht die Volksweisheit "hinterher ist man immer schlauer" gemeint ist, sondern die Kommentierung eines Sachverhalts außerhalb seiner Zeit und seines Ortes.
In größerem geschichtlichen Kontext erleben wir dies beispielsweise mit der kolonialen Vergangenheit. Straßennamen werden geändert, weil ihre Patrone heute nicht mehr satisfaktionsfähig sind. Mit einem solchen Maßstab könnte man heute allerdings kaum noch einen Denker, Künstler oder Gestalter vergangener Tage ohne distanzierenden Disclaimer erwähnen, weil stets zu vermuten ist, dass die Person Werte vertrat, für die man selbst heute keinesfalls stehen mag.
Außenministerin Annalena Baerbock hat so ein nach Otto von Bismarck benanntes Zimmer in ihrem Hause gerade in "Saal der Deutschen Einheit" umbenannt.
Um die Namen von Plätzen, Häusern oder Räumen mag es nicht schade sein, aber die solchen Ansinnen zugrundeliegende Bewertung ist ein latentes Problem für die gesellschaftliche Verständigung: Denn der Wertende verlangt, dass eine andere Person ungeachtet ihres Kontextes hätte so urteilen müssen, wie er selbst es jetzt gerade tut.
Im Alltag äußert sich das in Floskeln wie "stell dich nicht so an" oder "wir mussten früher auch ....". Der Unsinn solcher Beurteilungen könnte deutlich werden, wenn man sich vergleichbare Szenarien in der Zukunft denkt: Fußt die heutige Wertung auf so soliden Füßen, dass auch in unabsehbarer Zukunft niemand mit Recht unsere heutige Position als Quark verwerfen wird?
Befinden wir uns, um es zuzuspitzen, gerade im Vollbesitz aller denkbaren geistigen Kräfte, so dass unsere – mitunter ja für echte Menschen sehr verhängnisvolle Position – bis in alle Ewigkeit Gültigkeit beanspruchen darf? Es ist wohlfeil, vorangegangene Generationen für tumb zu halten, weil sie etwa in Gemeinschaftsräumen ganz selbstverständlich geraucht haben oder die gesellschaftliche Rolle der "Hausfrau" nicht problematisiert haben.
Dass sich die Welten auch sonst in vielem unterschieden und heutiges Verhalten in der Vergangenheit als inadäquat verstanden worden wäre, wird dabei übersehen. Juristen haben deshalb das "Rückwirkungsverbot" ersonnen.
Fazit: Wie sähe Fortschritt aus?
Wenn man in den Forschungsstand zur menschlichen Kommunikation und die sie tangierende Gebiete schaut, erscheinen die Voraussetzungen für Verständigung eher schlecht. Schon die Wahrnehmung von Tatsachen ist alles andere als einfach (Stichworte: Täuschung, Konstruktivismus).
Auch das Interesse, die Welt oder wenigstens das einzelne Gegenüber wirklich zu verstehen, ist in weiten Teilen deutlich geringer ausgeprägt, als es für einen idealen Diskurs zu wünschen wäre, die Telepolis-Foren bilden da leider keine Ausnahme.
Die Bias-Liste ist lang (Confirmation Bias, Dunning-Kruger-Effekt etc.). Dabei lebt Demokratie doch von der Auseinandersetzung, der Verständigung über Tatsachen und dem Austausch von Meinungen zu diesen.
Dass unsere biologische Konstitution nicht für demokratische Aushandlungsprozesse optimiert ist, stimmt zwar, entschuldigt aber nicht den Verzicht auf entsprechende Bemühungen. Die Ratgeberliteratur ist dafür so hilfreich wie unüberschaubar. Zu den recht einfachen Verfahren, in Diskussionen nicht auf den Punktgewinn (wie im Debattierclub), sondern auf einen Fortschritt bei der Erkenntnis zu setzen, gehört:
- Das verhandelte Problem/ Thema klar benennen können, so dass es von allen Beteiligten akzeptiert werden kann.
- Die Positionen/ Ausführungen eines Kontrahenten richtig wiedergeben.
- Das Übereinstimmende benennen bzw. das, wo wir dem anderen (nun) Recht geben sollten.
- Erst dann die eigene abweichende Meinung formulieren.
- Bereitschaft, im weiteren Austausch eigene Positionen zu ändern.
Das gilt natürlich ganz besonders für Journalisten, die schließlich nicht für sich selbst, sondern für eine kritische Öffentlichkeit argumentieren.
Wie viele Probleme es dabei gibt, wurde hier auf Telepolis in einer "Medienkritik zum Corona-Journalismus" mit über 400 Fallbeispielen gezeigt.