Tatsachen als Problem der Verständigung

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Es ist erstaunlich, wie oft relevante Tatsachen in der öffentlichen Debatte unbekannt sind. Sie sind Voraussetzung, um rational verhandelbare Bewertungen vorzunehmen. Hürden der Aufklärung, (Teil 2).

Das "Tatsachen/Meinungs"-Problem der gesellschaftlichen Verständigung (siehe Teil 1: Was ist und soll eigentlich (unsere) Demokratie?) zeigt sich deutlich bei den zaghaften Ansätzen, Irrungen und Wirrungen der Corona-Politik allmählich aufzuarbeiten: Masken sind nutzlos, Masken sind der beste Schutz; Impfung schützt vor Infektion; Corona lässt sich ausrotten; Lockdowns bringen nichts etc..

Die vielen Positionswechsel werden derzeit besonders häufig ausgerechnet mit der Wissenschaft begründet, die sich ja schließlich "empor irre". Dabei wird aber verkannt, dass sich dieses wissenschaftliche Irren nur auf Annahmen bezieht, auf Hypothesen, also Tatsachenvermutungen.

Tatsachen selbst aber sind natürlich unveränderlich, unzutreffende Aussagen über sie können nur zwei Fehlerursachen haben: Entweder war der Versuch, Tatsachen zu erkennen, ungeeignet (Messfehler etc.) oder aber – und das dürfte der häufigste Grund sein – es wurden Interpretationen und Bewertungen zu Tatsachen erhoben.

Kein seriöser Hausarzt sollte je etwas gesagt haben wie "die Covid-Impfung schützt Sie zuverlässig" (und natürlich auch nicht das Gegenteil). Er konnte nur sagen, was die Hersteller versprechen, was laufende Studien ergeben haben, was Behörden sagen, was er in seinen Fachzeitschriften gelesen hat. Das "Emporirren" bei der Impfung hat keine alten, falschen Tatsachen über Bord geworfen, weil es solche nicht geben kann. Es hat vielmehr Hypothesen falsifiziert.

Leider haben viele Menschen solche Hypothesen als Erkenntnisse betrachtet, Vermutungen über Tatsachen also zu Tatsachen selbst gemacht. Das ist kein gradueller, sondern ein elementarer Unterschied. Denn wer Vermutungen als Wissen ausgegeben hat, hat Unfug verbreitet und sich selbst die Suche nach der Wahrheit verbaut (was selbstverständlich auch für viele Kritiker der Pandemiepolitik gilt, die ihrerseits Mutmaßungen und teilweise sogar Glauben zu Fakten erhoben und damit der Diskussion entzogen haben).

Es macht einen erheblichen Unterschied, ob ein bestimmtes Verhalten aufgrund von Mutmaßungen verlangt wird und mithin die Irrtumsmöglichkeit immer eingeräumt wird, oder ob "fiktive Fakten" erfunden werden. Mit Verwunderung kann man Filmberichte über chinesische Desinfektionstrupps sehen, die Wohnungen und ganze Straßenzüge mit antiviralen Mitteln besprühen.

Doch auch in Europa wurden öffentliche Plätze, Züge oder Altenheime ("von russischen Spezialisten"!) desinfiziert. Für die Reinigung von Treppengeländern wurden Hygienepläne geschrieben, beim Betreten und Verlassen einer Arztpraxis muss man sich bis heute z.T. die Hände desinfizieren. Gab es dafür eine Faktenbasis?

Nein, es gab und gibt Vermutungen – und eine Vielzahl von Experimenten, die keinerlei Virusübertragung durch Flächenkontakte zeigten, sie aber auch nicht für jede Situation einhundertprozentig ausschließen konnten. Dass großflächiges und weit verbreitetes Desinfizieren allerdings auch Nebenwirkungen haben wird, war als Tatsache klar – über den Umfang wiederum gibt es bis heute nur Hypothesen.

Wenn Bill Gates zwei Jahre nach Pandemiebeginn zutreffend sagt, was man damals alles nicht wusste, einschließlich der Ähnlichkeit von Covid-19 mit der Grippe, gilt es zu prüfen, was seinerzeit dennoch als Wissen ausgegeben wurde, nämlich unter anderem die völlige Unvergleichbarkeit beider Krankheiten.

Grundlegende Wissensdefizite

Es ist erstaunlich, zu wie vielen allgegenwärtigen Themen zumindest in der öffentlichen Debatte relevante Tatsachen unbekannt sind, um rational verhandelbare Bewertungen vorzunehmen. Was beispielsweise sind die Folgen von Wirtschaftssanktionen?

Sie wurden früher vor allem von der Friedensbewegung als Alternative zum Krieg gepriesen, derzeit sind sie das Mittel der Wahl, um Russland zur Beendigung des Ukraine-Kriegs zu zwingen. Dass diese Politik reichlich Nebenwirkungen noch nicht wirklich absehbaren Ausmaßes haben, ist bereits offenbar; welche Wirkung sie jedoch auf das Handeln der russischen Führung haben, ist noch völlig im Bereich des Spekulativen und fundierte Analysen vergangener Sanktionen fehlen, obwohl mit der amerikanischen Blockade Kubas sogar eine Langzeitbeobachtung möglich ist.

Doch wie soll man politisch über Sanktionen diskutieren, wenn gar nicht klar ist, wie sie wirken? Ja wenn unklar ist, ob Sanktionen überhaupt jemals den gewünschten Erfolg erzielt haben und welcher Preis für das Bemühen vom wem zu zahlen war.

Sind Staatsschulden sinnvoll, notwendig oder eine ungebührliche Belastung künftiger Generationen? Müssen Schulden überhaupt zurückgezahlt werden? Weil es selbst über solch grundlegende Dinge keine Verständigung gibt, ist Politik inkonsequent, wechselhaft, und zwar eben nicht nur in ihren Beurteilungen (dazu ist Politik da), sondern in ihrer Behauptung von und Mutmaßung über Tatsachen.

Und so werden immer wieder dieselben Themen durchgekaut: Atomenergie ja oder nein (weil die Fakten über Sicherheit, Produktionskosten etc. nach Belieben mit Wertungen und Falschbehauptungen vermischt werden), Löhne rauf oder runter in der Krise usw.