Demokratie oder Rating-Regierung?
Der ehemalige Verfassungsrichter Siegfried Broß über Folgen der Privatisierung - Teil 2
In Teil 2 des Interviews spricht Siegfried Broß darüber, wie sich die Privatisierung zu einer Gefahr für die Demokratie entwickeln konnte und über ein von ihm entwickeltes Fondsmodell, das die Netze der Öffentlichen Hand belässt.
Im Januar 2007 meinten Sie auf einem Vortrag in Stuttgart, dass man "Staatswirtschaft" nicht nur negativ sehen dürfe und sie "in den Infrastrukturbereichen der Daseinsvorsorge [...] unumgänglich" sei, "damit der Staat selbst unabhängig bleibt und nicht erpressbar wird". Viele Bereiche der Daseinsvorsorge sind schon privatisiert. Sind zum Beispiel Kommunen nicht längst erpressbar, wenn sie etwa ihre Verkehrsbetriebe verkauft haben und zurückleasen?
Siegfried Broß: Vielleicht nicht gerade erpressbar, aber sie sind ausgeliefert. In hohem Maße, was vorher nicht der Fall war. Aber auch für die "Erpressbarke" (im übertragenen Sinn) gibt es Beispiele: Unlängst hat eine Ratingagentur der Bundesregierung einen Forderungskatalog präsentiert: Wenn Deutschland nicht diese und diese Punkte zur Privatisierung des Infrastrukturbereichs und der Daseinsvorsorge erfülle, werde es im Rating herabgestuft. Die können sagen: Deutschland wird herabgestuft im Rating, wenn wir nicht alle psychiatrischen Landeskrankenhäuser privatisieren. Und dann bestimmen die Ratingagenturen mittelbar noch über die Analysten das Angebot für die Heimbehandlung, die Größe der Zelle oder die Güte der medizinischen Versorgung der Bevölkerung. Die öffentlichen Krankenhäuser müssen dann privatisiert, GmbHs und so weiter werden, sonst kriegen sie keine Kredite. Da muss man sich schon fragen: Haben wir eine Demokratie oder eine Rating-Regierung?
Und als es um die Verlängerung der Laufzeiten von Kernkraftwerken ging, drohten die Energieriesen der Bundesregierung, dass sie in Deutschland nichts mehr investieren, wenn die Regierung nicht diese oder jene Maßnahmen unterlassen oder andere treffen würde. Das zeigt, dass auch eklatante Fehlvorstellungen bei der Privatisierung von Infrastruktur dazu führten, dass die Regierungen auf Bundes-, Länder- und Kommunalebene nicht mehr in der Lage sind, die Standortbedingungen für den Wirtschaftsstandort Deutschland zu definieren. Das tun andere - nämlich die privaten Anbieter der vormals in öffentlicher Verantwortung wahrgenommenen Infrastrukturbereiche: Verkehr, Energie, Wasser, und so weiter. Im übrigen: Welchen Sinn macht es, staatliche durch private Monopole oder äquivalente Strukturen zu ersetzen?
Mit der Privatisierung großer Infrastrukturbereiche setzte auch die Diskussion um Mindestlöhne und Minijobs ein. Denn jetzt können die Arbeitsbedingungen nicht mehr vorgegeben werden. Wo haben wir denn die Dumpinglöhne? Wo haben wir die Leiharbeitsfirmen? Wo haben wir die Verstöße gegen den Standard, den wir über Jahrzehnte in der Arbeitswelt in Deutschland erarbeitet haben? Von daher gesehen war Hartz IV eindeutig ein Holzweg. Und zwar nicht wegen der Fehlanreize, sondern weil Hartz IV nie ein Äquivalent sein konnte für eine stabile Gesellschaft und eine stabile Arbeitswelt.
Die prekären Arbeitsverhältnisse müssen jedes Jahr mit elf oder zwölf Milliarden Steuermitteln aufgestockt werden. Das reicht bis in die Zukunft, wenn die Arbeitskräfte alt werden: Wir können ja die Menschen nicht verhungern lassen, wenn sie sich keine ausreichende Altersversorgung aufbauen konnten. Wie man angesichts solcher Auswirkungen mit Inbrunst von Privatisierung reden kann, ist mir schleierhaft! Für mich sprechen die Fakten dagegen!
Der Verbraucher leidet ebenfalls, denn es gibt Preisabsprachen und Kartelle, gegen die das Bundeskartellamt nur punktuell einschreiten kann - in der Hoffnung, dass das abschreckend wirkt. Regulierung ist nicht wirklich eine Lösung: Da werden Überwachungsapparate aufgebaut und die Kosten dafür - Löhne, Gehälter, und so weiter - aus den allgemeinen Steuermitteln bestritten.
Die Privatisierung hatte auch eine Rückwirkung auf das allgemeine Bewusstsein in Deutschland - Wissenschaft, Wirtschaft, wirtschaftswissenschaftliche Institute ... Die Korruption hat enorm zugenommen: Nehmen Sie nur die Sekundärebene, bei der Vergabe. Das hängt mit einer Bewusstseinsänderung einer Funktionselite zusammen, die von allem nur noch den Preis und nicht mehr den Wert kennt.
Auch die Ratingagenturen sind ein Problem der Privatisierung - das habe ich 2004 schon auf dem Katholikentag in Ulm thematisiert. Da hat man sich abhängig gemacht von Institutionen, die intransparent und demokratisch nicht legitimiert sind. Die Schlüsse, die wir daraus für die Privatisierung von Daseinsvorsorge ziehen können, sind folgende: Wir müssen zunächst einmal die Bereiche auf ihre Bedeutung für den demokratischen Rechtsstaat, den Sozialstaat, die Stabilität einer Gesellschaft, die Standortbedingungen, die Steuerungsfähigkeit und auf Abhängigkeiten des Staates, der Länder und der Kommunen hin untersuchen. Und dann wird man zu dem Ergebnis kommen, dass man trotz Überwachung, Zuverlässigkeitsprüfung und so weiter, viele Bereiche hat, die man wegen dieser wesentlichen Rahmenbedingungen nicht privatisieren kann. Das muss man erkennen und einfach akzeptieren - und nicht irgendwelchen Theorien hinterherrennen.
Wo waren die Wirtschaftsweisen?
Die Privatisierungseuphorie der 1990er Jahre scheint mittlerweile auch bei Unionspolitikern etwas abgekühlt. Haben Sie den Eindruck, dass Sie mit Ihrer Weitsicht inzwischen auch in der Politik eine größere Rolle spielen könnten als vorher?
Siegfried Broß: Ich fühle mich natürlich bestätigt. Aber es ist eigentlich traurig, dass ich so bestätigt worden bin. Als ich vor zehn Jahren gestufte Mitgliedschaften in europäischen Institutionen gefordert habe, da wurde ich als Europafeind verteufelt. Heute ist klar, dass Europa besser dran wäre, wenn man diesem Konzept gefolgt wäre. Das gilt auch für die Privatisierungseuphorie: Ich habe damals vehement vor der Zertrümmerung des öffentlich-rechtlichen Bankensektors durch die EU-Kommission gewarnt. Wenn man den Landesbanken damals die staatliche Gewährträgerschaft nicht weggenommen hätte, dann hätten sie nicht versucht, sich andere Geschäftsfelder zu suchen. Das hätte dem Steuerzahler viel Geld gespart.
Das Land Baden-Württemberg hat ja EnBW im letzten Jahr rückverstaatlicht. Und viele Gemeinden kaufen ihre Wasserversorgung zurück. Bloß - was dabei unter den Tisch fällt, was verschwiegen wird, ist, wie viel das die Allgemeinheit und den Steuerzahler gekostet hat. Alleine in Pforzheim wurden 60-70 Millionen für Anlagegeschäfte in den Teich gesetzt. Dafür gibt es in Deutschland genügend Beispiele.
Und all das zeigt, dass hier ein verhängnisvolles Bewusstsein geherrscht hat und viele Politikern es nicht schafften, sich dagegen zu stemmen. Da muss man auch fragen: Wo waren die Wirtschaftsweisen? Was sollen diese riesigen Gutachten? Die versuchten sich mit Wirtschaftswachstumsprognosen zu übertrumpfen, anstatt strategische Entwürfe auszuarbeiten. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass eines dieser Gutachten vor Ratingagenturen gewarnt hätte, oder vor dem Einfluss von Analysten; oder dass Grundlegendes schief läuft und die moderne Staatenwelt gefährdet ist.
Ist die jetzige Misere also auch das Versagen einer akademischen Disziplin Ökonomie, die zu sehr Mode und zu wenig Wissenschaft war?
Siegfried Broß: Ich mache da keinen Pauschalvorwurf, sondern meine nur die, die sich da betätigt haben. Versagen gibt es auch in meiner eigenen Disziplin: Wenn Sie an die Konstruktion der Europäischen Verträge denken, bis hin zur Konstruktion des Euro, dann ist das auch eine Sache, der sich die Verfassungsrechtler und Europarechtler ganz anders hätten annehmen müssen. Aber es war eben so: Wer auch nur im geringsten Kritik oder Skepsis geäußert hat, der war gleich ein ganz schlechter Europäer, verdächtig, hat nichts verstanden, und am besten war es zu ignorieren, was er sagt. Er hat es nicht verdient, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Das war eigentlich das Verhängnis.
Dabei habe ich nie Zweifel daran gelassen, dass ich natürlich Europäer bin. Ich habe auch in der Bayerischen Staatskanzlei an europäischen Vertragsentwürfen mitgearbeitet - an Kulturaustauschverträgen, Äquivalenzabkommen, und so weiter. Seit ich aber richterliche Erfahrung gewonnen habe - und aufgrund der Einblicke in der Bayerischen Staatskanzlei und in anderen Positionen-, habe ich Korrekturen dort eingefordert, wo der Rechtsrahmen auf falschen Vorstellungen beruht. Falsche Vorstellungen, bei denen man nicht darauf achtet, dass sich das Recht an den tatsächlichen Gegebenheiten orientieren muss - und nicht umgekehrt. Das kann man auch an den aktuellen Diskussionen beobachten: Jetzt muss die europäische Regierung noch mehr verdichtet werden, eine Wirtschaftsregierung muss geschaffen werden. Das hilft alles nichts, so lange sich die Gesellschaft, die Wirtschaft, die tatsächliche Grundlage nicht ändert.
Man hat mir entgegengehalten: Die Griechen, die haben doch falsche Zahlen verwendet. Da habe ich gesagt: Das mag so sein. Nur: Die maßgeblichen Entscheider konnten hier doch nicht getäuscht werden, weil man nämlich genau wusste, wie die Verhältnisse sind. Da muss man nur die Steueraufkommensseite und die Wirtschaftsstruktur anschauen: In Griechenland gibt es keine bedeutende Industrie, sondern Landwirtschaft, Tourismus und etwas Fischerei. Die Fachleute brauchten das doch gar nicht, was auf dem Papier stand.
Wir schaffen Räume und Normgeflechte, die die Gefahr in sich tragen, dass die Menschen eine immer größere Gerechtigkeitslücke empfinden
Die Befürworter der Privatisierung öffentlicher Unternehmen versprachen, dass der Kunde besser behandelt wird. Außerdem solle die Versorgung "effizienter" und dadurch sowohl für die öffentliche Hand als auch für den Bürger billiger werden. Sie bemängelten, dass der "Wahrheitsgehalt solcher Auffassungen" niemals überprüft wurde. Was für Konsequenzen muss man Ihrer Ansicht nach daraus ziehen?
Siegfried Broß: Offizielle Untersuchungen und Abstimmungen dazu sind bis heute ausgeblieben. Aber inzwischen haben viele Menschen aus eigener Erfahrung einen Eindruck dazu gewonnen. In Kalifornien, Ungarn und Großbritannien kam es nach der Privatisierung der Stromversorgung zu großen Blackouts. Erinnern Sie sich, wie früher immer über angeblich dumme, faule und gefräßige Beamte bei der Bundesbahn gelästert wurde - und wie pünktlich die Züge damals fuhren? Wie selten sie auf einer Strecke ausfielen? Bei schlechteren technischen Möglichkeiten, wohlgemerkt. Das sollte doch mal zum Nachdenken führen. Denken sie auch an die vielen Pannen in den Atomkraftwerken, die ja privat betrieben werden: Wenn Sie da mal schauen, welche Materialien dafür verantwortlich gemacht werden - da bietet es sich fast an, danach zu fragen, ob es nicht bessere, aber teurere geben hätte. Dann ist halt der Shareholder Value infrage gestellt.
Ist der zu einem großen Teil aus vergangenen Jahrzehnten stammende Rechtsrahmen - also beispielsweise das Wettbewerbsrecht und der Verbraucherschutz - noch ausreichend, wenn Bereiche privatisiert wurden, die das Dasein von Menschen direkt berühren?
Siegfried Broß: Das deckt sich natürlich schon mit dem, was wir vorhin erörtert haben, dass wir einen Teil der Bereiche aus der Privatisierbarkeit rausnehmen müssen, weil sie sich eben nicht eignen, weil sich die Fragen nicht stellen. Bei den anderen ist es so, dass wir auch sehen müssen, dass Verbraucherschutz grundsätzlich natürlich sehr löblich ist. Aber es werden hier sehr schwerfällige Verfahren entwickelt, es ist für die Menschen sehr lästig. In der nachlaufenden Überwachung brauche ich enorm viel Personal, einen aufgeblähten Gerichtsschutz - und für die Menschen, die davon betroffen sind, sind es erhebliche Einbußen an Lebensqualität.
Diese enormen Rechtsgebäude, die da aufgerichtet werden, die werfen auch die Gefahr auf, dass die Rechtsordnung noch unüberschaubarer wird und für die Menschen an und für sich bedrohlich. Wenn sie sich da dann verheddern, dann fühlen sie sich geprellt und verzweifeln eher am Rechtsstaat, als dass ihnen tatsächlich geholfen werden kann. Wir schaffen Räume und Normgeflechte, die die Gefahr in sich tragen, dass die Menschen eine immer größere Gerechtigkeitslücke empfinden. Dieses Empfinden wird auf immer mehr Bereiche übertragen - und das ist für einen Rechtsstaat sehr abträglich. Deshalb bevorzuge ich die andere Lösung, bei der ich sage: Ich muss Soundsoviel rausnehmen aus dem freien Spiel der Kräfte, weil am freien Spiel der Kräfte zwangsläufig auch solche teilnehmen müssen, die gar nicht kräftig sind. Und darauf sollte man viel mehr Augenmerk richten.
Ich habe schon vor vielen Jahren ein Fondsmodell entwickelt, in dem nicht die Infrastruktur privatisiert wird, sondern nur der Betrieb. Die Substanz - also die Netze, die Straßen, und so weiter - bleibt in staatlicher Hand. Damit hätte nämlich der Staat Anlageobjekte zur Verfügung gestellt, die in der Zukunft werthaltig sind - und wir hätten viel von der Misere mit den Spekulationen mit Staatsanleihen und so weiter nicht. Es hat doch gar keine tragfähige Grundlage, wenn ich die Forderung an die Menschen stelle, privat Vorsorge fürs Alter zu treffen und es gibt gar keine geeigneten Anlageobjekte dafür. Das hätten wir spätestens 2000 merken müssen, als die New-Economy-Blase geplatzt ist. Wenn Sie sich mal überlegen, wie viele Rentenfonds notleidend geworden sind, wie viel Stiftungskapital in Harvard verloren gegangen ist (die Rede ist von einem Drittel), dann ist es doch die erste Aufgabe des Staates, werthaltige Anlageobjekte zur Verfügung zu stellen. Gleichzeitig hätte er sie intransparenten finanziellen Einflüssen entzogen. Man hätte den Ratingagenturen und den Analysten in all diesen Bereichen durch diese Fondslösung keine Spielwiese eröffnet.
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