Der Abstieg der Nachhaltigkeit zur Marketingfloskel

Seite 2: "Abwertung der Zukunft gegenüber der Gegenwart"

Welche Rolle spielen dabei die Faktoren Zeit und Verwertung?

Fritz Reheis: Die Moderne folgt seit 200 Jahren der Formel "Zeit ist Geld". Diese Formel ist im wahrsten Sinn des Wortes rücksichtslos gegenüber den Eigenzeiten von Natur, Gesellschaft und Mensch. Sie ignoriert das existenzielle Erfordernis der Synchronisation, indem sie alles, was da kreucht und fleucht, zum Objekt der Verwertung macht.

Dabei werden systematisch jene Geldbesitzer belohnt, die am schnellsten aus einem Euro, Dollar etc. zwei machen. Die Langsameren werden von den Schnelleren immer wieder abgestraft. Das besorgen bekanntlich längst die Algorithmen der digitalisierten Finanzindustrie. Wo strenge Auflagen für Nachhaltigkeit die Zukunft konsequent vor dem Zugriff der Gegenwart schützen, machen die Finanzströme einen weiten Bogen.

Ideologisch wird das dann als bilanztechnischer Vorgang der Diskontierung bezeichnet: als Abwertung der Zukunft gegenüber der Gegenwart (genauso wie die räumliche Ferne gegenüber der Nähe abgewertet wird). Auf Zeit bezogen kann man sagen: Die kapitalistische Ökonomie zielt auf die systematische und schnellstmögliche Verwertung jeglicher Formen von Zeit, der Lebenszeiten von Menschen, Tieren und Pflanzen.

Dieser Verwertungswettlauf macht auch vor den geoökologischen Kreisläufen nicht halt, die die Grundlage allen Lebens bilden. Die Erderhitzung mit den bekannten Extremwetterereignissen, kurz Klimakrise genannt, ist letztlich eine systematische Folge der vom Verwertungszwang des Geldes getriebenen Beschleunigung des Kohlenstoffkreislaufs.

"Bäume wachsen nicht in den Himmel, das Kapital schon"

Wie sehr ist also die kapitalistische Form des Wirtschaftens für Ihr Konzept von Nachhaltigkeit ein Hindernis?

Fritz Reheis: Wenn zutrifft, was ich soeben gesagt habe, ist der Kapitalismus in seiner Reinform das exakte Gegenteil von Nachhaltigkeit. Er zwingt der "Symphonie des Lebens" (Julius T. Fraser) den Lärm des Geldes auf. Geld als Kapital hat eine völlig andere Bewegungsdynamik als jene Welt, die nicht von Geld als Kapital angetrieben wird.

Das betrifft die Geschwindigkeiten, Richtungen und Grenzen der Bewegungen. Bäume wachsen nicht in den Himmel, das Kapital schon. Wer sich von diesem Zwang befreien will, muss all seine Anstrengungen darauf richten, die natürlichen Lebensgrundlagen und alles, was ihm lieb und teuer ist, zu "erhalten", und alle kulturellen und sozialen Strukturen, die ihn daran hindern, zu "erneuern". Das ist meine zugleich konservative und revolutionäre Nachhaltigkeitsvision. Anders gesagt: Es geht um ein gutes Leben für alle und immer.

"Verhalten und Verhältnisse müssen als Einheit begriffen werden"

Was folgt daraus für die Ethik? Ist individuelles Agieren die Lösung für strukturell verursachte Probleme?

Fritz Reheis: Ethik als Theorie des gelingenden Lebens kann vor diesem Hintergrund nur dialektisch gedacht werden: Menschen und Strukturen, Individuelles und Kollektives, Verhalten und Verhältnisse müssen als Einheit begriffen werden. Nur so können Synergien in Richtung Nachhaltigkeit entstehen. Wenn der Kern der Nachhaltigkeit die Wiederholbarkeit ist, muss unser Verhalten dafür sorgen, dass Verhältnisse entstehen, die die Wiederkehr des Ähnlichen möglich machen, und zugleich müssen die Verhältnisse dafür sorgen, dass ein solches Verhalten auch möglich wird.

Zeitkultur und Zeitpolitik, ein zeitbewusster Lebensstil und Zeitwohlstand als Leitbild bedingen sich wechselseitig. In letzter Instanz, das lässt sich schon bei Marx und Engels nachlesen, sind jedoch die gesellschaftlichen Verhältnisse die Basis des individuellen Verhaltens. Aber sie fallen eben trotzdem nicht vom Himmel.

"Das grüne Verständnis internationaler Machtstrukturen ist von erschreckender Ahnungslosigkeit geprägt"

Abschließende Frage: Die Partei, die sich das Konzept der Nachhaltigkeit am plakativsten auf die Fahnen geschrieben hat, sind die Grünen, die, kaum an der Regierung, beispielsweise beim Tempolimit sofort umgefallen sind. Wie beurteilen Sie kurz die Arbeit der Grünen in der Koalition?

Fritz Reheis: Es mag ja sein, dass den Grünen gelungen ist, im Koalitionsvertrag einige Weichen in die richtige Richtung zu stellen. Aber zum einen ist die Kluft zwischen den Programmatiken, Menschenbildern und Gesellschaftsverständnissen der drei Parteien ein ernsthaftes Umsetzungshindernis. Zum anderen haben sich die Grünen selbst völlig verlaufen. Das zeigt sich besonders deutlich in der hauptsächlich von ihnen beanspruchten "moralischen" Außen- und Sicherheitspolitik.

Sie führt zu jener kolossalen Selbstüberforderung der Ampel-Regierung, die wir derzeit erleben. Früher habe ich bei den Grünen "nur" eine realistische Sicht auf die herrschende Wirtschaftsordnung vermisst, ihre unkritische Haltung zu Markt und Kapital kritisiert. Jetzt muss ich zudem erkennen, dass auch das grüne Verständnis internationaler Machtstrukturen und der Erfordernisse der globalen Friedenssicherung von erschreckender Ahnungslosigkeit geprägt ist.

Die gegenwärtige grüne Wirtschafts- und Sicherheitspolitik steht zudem in starkem Kontrast zu jenen Idealen, mit denen die Grünen einst vor über vierzig Jahren angetreten waren. Von Basisdemokratie (auch in der Wirtschaft) und Gewaltfreiheit (auch der Auflösung der Militärblöcke) hört man schon lange nichts mehr. Nicht erst, seit die Grünen Regierungspartei geworden sind!


Fritz Reheis
Erhalten und Erneuern – Nur Kreisläufe sind nachhaltig, Durchläufe nicht
Hamburg 2022 (vsa-Verlag)
‎144 Seiten, 12,80 Euro
ISBN: ‎ 978-3964881632

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