Der Entzauberer des Liberalismus
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Wie Domenico Losurdo zu einem führenden europäischen Theoretiker des Marxismus wurde, dem Werdegang vieler Linker widerstand und weshalb er Freiheit als Privileg sah
Am 14. November 1941 wurde Domenico Losurdo in San Nicandro Garganico, einer kleinen Stadt in der italienischen Provinz Foggia, Region Apulien, geboren. Aufgewachsen ist er zusammen mit sechs Geschwistern, von denen später drei Lehrerinnen und drei Bankangestellte wurden.
Domenicos Vater Giovanni war Steuerbeamter und aus dem ersten Weltkrieg als Kriegsinvalide zurückgekehrt. Politisch blieb er Zeit seines Lebens Monarchist. Neben dem Gehalt des Vaters verfügte die Familie über Einkünfte aus verpachtetem Kleingrundbesitz.
Es war vorwiegend seine Mutter Laura, die Wert auf die Bildung ihrer sieben Kindern legte, die deshalb bereits früh zu Hause unterrichtet wurden. Domenico Losurdo sprach stets mit großer Hochachtung von seiner Mutter. Sie war eine tolerante und weltoffene Frau.
Ihr sozial- und bildungspolitisches Engagement entsprang dem aufgeklärten Glauben einer Katholikin, der vordergründig auf die Erziehung zu selbständigem Denken ausgerichtet war. Ihrer deutschen Schwiegertochter Erdmute Brielmayer, Losurdos Ehefrau, begegnete sie von Beginn an mit großer Sympathie.
Domenico und seine Geschwister wurden so von ihrer Mutter früh mit Büchern vertraut gemacht. Dies sollte sein Leben prägen. Er wurde ein großer Sammler von Büchern in den verschiedensten Sprachen. So wuchs seine Bibliothek zeitlebens. Am Ende waren es wohl mehr als zehntausend Bände, die das Haus der Losurdos füllten.
Das Gymnasium besuchte Domenico in Bari, der Hauptstadt der Region Apulien, etwa 135 Kilometer von der Stadt seiner Kindheit entfernt. Auch Luciano Canfora, der bekannte Historiker und Marxist, mit dem er später immer wieder zusammenarbeitete, besuchte zu jener Zeit diese Schule – eine Klassenstufe über ihm.
Dort erlernte Domenico sein exzellentes Französisch – damals war in den italienischen Schulen noch Französisch erste Fremdsprache, erst in den Achtzigerjahren trat Englisch an dessen Stelle. Später kam auch Deutsch hinzu, das er während seines Studiums in Tübingen erlernte und dann perfekt sprach.
Englisch kam im Selbststudium hinzu, sodass er seine Vorträge schließlich mühelos in vier Sprachen halten konnte. Wegen seiner außergewöhnlich schnellen Auffassungsgabe – er galt in der Schule als Wunderkind – übersprang er eine Klasse. Das Abitur legte er bereits mit 18 Jahren ab.
Zum Studium der Philosophie und Geschichte ging Domenico Losurdo an die Universität Urbino in der italienischen Region Marken. Bereits 1963, im Alter von 22 Jahren, beendete er es erfolgreich. Seine Dissertation schrieb er über den Hegel-Schüler Karl Rosenkranz.
Diese ging später in das Buch "Hegel und das deutsche Erbe" ein, das 1989 als eines seiner ersten auf Deutsch veröffentlichten Bücher erschien. Bis heute ist es ein Standardwerk über den deutschen Vormärz, jener Epoche, die der Revolution von 1848 vorausging.
Die Dissertation weckte sein Interesse an Hegel selbst. Nach seinen Worten wollte er nicht einsehen, weshalb er sich nur mit einem Schüler Hegels und nicht mit diesem selbst beschäftigen sollte. So wurde er zum Hegel-Forscher und zu einem der weltweit bekanntesten Hegelianer.
Nach Abschluss seiner Doktorarbeit unterrichtete Domenico Losurdo von 1966 bis 1967 als Studienrat am Gymnasium in Urbino. 1967 ging er zum weiteren Studium und zum Erlernen der deutschen Sprache nach Tübingen.
Der Deutsche Akademische Austauschdienst hatte ihm diesen Aufenthalt mit einem Stipendium ermöglicht. Nach seiner Rückkehr aus Deutschland wurde er 1969 Assistent im Fach Philosophie an der Universität Urbino. 1985 wurde er dort Ordinarius und blieb es bis zu seiner Emeritierung 2013. Eine Zeit lang war er Dekan der Universität.
"Den ganzen Nietzsche in- und auswendig"
In Tübingen lernte er Erdmute Brielmayer kennen, die dort Psychologie studierte und 1967 in diesem Fach diplomiert wurde. Geboren 1943 stammt sie aus Tegernsee in Bayern. Ihre Schwester Christa Harrer gehörte als Mitglied der SPD zwanzig Jahre dem Bayerischen Landtag an. Nach Abschluss ihres Studiums arbeitete Erdmute an einem Institut für Markt- und Meinungsforschung in Frankfurt am Main.
Nach ihrer Heirat mit Domenico und ihrem gemeinsamen Umzug nach Italien im Jahr 1969 wurde sie Dotoressa (Doktorin) der Pädagogik. Über mehrere Jahre erteilte sie in ihrer neuen Heimat Deutschunterricht. Sie selbst hatte Italienisch in nur einem Jahr erlernt. Erdmute Brielmayer übersetzte in den folgenden Jahrzehnten fast alle der zahlreichen Bücher Domenicos ins Deutsche.
Als seine Mitarbeiterin las sie seine Texte Korrektur, kümmerte sich um Zitate und besorgte notwendige Literatur. Durch diese Arbeit wurde sie selbst in vielen philosophischen und politischen Fragen zur Expertin – etwa während der fast zweijährigen Übersetzung des Doppelbandes "Nietzsche – der aristokratische Rebell". Am Ende kannte sie, so ihre Worte, "den ganzen Nietzsche in- und auswendig".
Gemeinsam war das Paar auch politisch aktiv. Sie war dabei seine wichtigste Beraterin und erledigte zugleich die Zuhause anfallenden täglichen Dinge, wodurch sie ihm den Rücken freihielt. Nur deshalb war es Domenico möglich, wissenschaftlich und publizistisch so produktiv sein.
1978 wurde ihr Sohn Federico geboren. Wie sein Vater studierte er an der Universität Urbino, allerdings nicht wie Domenico Geschichte und Philosophie, sondern Rechtswissenschaft. In Urbino erhielt er in diesem Fach eine Professur.
Von 1972 bis 1987 lebte die Familie in Pesaro, einer Hafenstadt an der Adria, zwischen Rimini und Ancona gelegen. Doch die Wohnung wurde allmählich zu klein für die Familie, vor allem aber für die vielen Bücher. 1987 zogen die Losurdos deshalb in ein geräumiges Haus in Colbordolo, ein kleiner Ort auf einem Hügel gelegen, von dem man einen weiten Blick bis zu den Höhen des Apennin hat. Von hier aus war auch der Weg zur Universität von Urbino kürzer. Vor allem aber bot das neue Haus endlich genügend Platz für die stetig wachsende Bibliothek.
Domenico Losurdo interessierte sich bereits sehr früh für Politik. Als Gymnasiast konnte er auf einer Veranstaltung der Kommunistischen Partei Italiens (KPI) deren legendären Parteiführer Palmiro Togliatti erleben, von dessen Art zu sprechen – jedes einzelne Wort genau überlegt und mit leiser Stimme vorgetragen – er sofort fasziniert war. 1960, mit neunzehn Jahren, wurde er Mitglied der KPI.
In der Studentenbewegung Ende der Sechzigerjahre durchlief er wie viele andere linke Intellektuelle eine Phase der Radikalisierung. Der KPI warf er nun vor, sich der neuen, revolutionären Unruhe nicht öffnen zu wollen. 1969, nach seiner Rückkehr aus Deutschland, verließ er deshalb die Partei.
Er schloss sich einer Organisation an, die den traditionellen Namen der italienischen Sektion der III. kommunistischen Internationale von 1919 – der Partito Comunista d’Italia (PCd’I) – führte. Für deren Zeitung Novo Unita schrieb er fortan wöchentlich Kommentare, Analysen und Berichte.
Bald kamen Artikel in der seit 1971 erscheinenden Tageszeitung Il Manifesto hinzu. Die PCd’I verfolgte einen an China orientierten Kurs. Auch Erdmute Brielmayer war in dieser Partei aktiv. In einer Delegation von Frauen der PCd’I bereiste sie auf Einladung der KP Chinas die Volksrepublik.
Wie in Deutschland, so verschwanden Ende der Siebzigerjahre auch in Italien diese neuen Parteien wieder schnell. Zwar konnten dort - anders als etwa in Deutschland - diese Gruppierungen anfangs eine gewisse Anhängerschaft auch unter Lohnabhängigen gewinnen, doch wurden sie auch hier bald wieder schwächer und waren aufgrund ihrer Erfolglosigkeit Zerrüttung und Spaltungen ausgesetzt.
Aufgrund der Enttäuschung über die ihnen nicht folgen wollenden Arbeiter entdeckten in der Bundesrepublik Deutschland ehemalige Maoisten die "neuen sozialen Bewegungen", und hier vor allem die Antiatomkraftbewegung für sich.
1980 waren sie maßgeblich an der Gründung der Partei Die Grünen beteiligt. In Frankreich wandelten sich maoistische Wortführer zu "neuen Philosophen", die sich in ihrem Antikommunismus bald von Niemandem übertreffen ließen.