Der Europastreit

Seite 4: "Festung Europa", oder: Die Befreiung von Scham

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Mit anderen Worten: Die "Festung Europa" ist auch jetzt wenig mehr als ein fettes Luftschloss. Das widerspricht aber nicht der täglich stattfindenden und grausam-effektiven Gewalt gegenüber Flüchtlingen, sondern ist deren Bedingung.

Auch wenn es für Befürworter einer humanen Flüchtlingspolitik zynisch klingt: Da man aktuell an den Ufern des Mittelmeers immer mehr Schlägertrupps findet, wäre wünschenswert, die EU hätte zumindest bald die Strukturen einer soliden Festung. Eine Selbstbindung staatlicher Gewaltanwendung an geltende Gesetze und eine menschenrechtssensible Gerichtsbarkeit ist ansonsten nicht einmal denkbar.

Mit der sich andeutenden Strukturlosigkeit - Dublin-III ist praktisch untauglich, aber es ist kein Ersatz gefunden - läuft die humanitär ausgerichtete Agenda, die Alternative zur brutalisierten Asylpolitik, leider ins Leere. Mit anderen Worten: Eine Festung kann ihre Tore auch öffnen. Ein Schlägertrupp ist dagegen einfach ein Schlägertrupp.

Die Brutalisierung der europäischen Politik hat aber auch eine sozialpsychologische Dimension. Der Unterschied des aktuellen Geschehens zum dröhnend totgeschwiegenen Türkei-Deal und der verschämt arrangierten Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache ist, dass nun ein entscheidender Aspekt aus der politischen Kultur zu weichen beginnt: die Scham. Das Bewusstsein dafür, das die realpolitisch getroffenen Entscheidungen den Werten, auf denen die europäische Einigung fußt, ausgerechnet im Umgang mit den Schwächsten zuwiderlaufen und genau das als Problem erlebt wird.

Es verliert sich bei den politisch Verantwortlichen in Teilen das Bestreben, die politischen Maßnahmen wieder den ursprünglichen Werten anzunähern. Stattdessen entfaltet sich schon in den Worten eine Gewalt, die den Schlüssel zu einem normativen Nichts darstellt. Oder wie sollte man es sonst nennen, wenn im Jahr 2018 von Europa "Menschenfracht" nach Afrika "ausgeschifft" werden soll? Man lässt sich in dieser Weise politisch gehen, denn die Befreiung von Scham wirkt nicht nur individuell, sondern auch kollektiv entlastend und ist überdies als politische Leitkultur anderswo bereits vorbildhaft etabliert.

Am Horizont erscheint damit ein Europa, das asylpolitische Maßnahmen verfolgt, die einerseits einer menschenrechtskonformen politischen Kultur aus Prinzip zuwiderlaufen und andererseits die voranschreitende Aushöhlung der europäischen Institutionen als Forum transnationaler Entscheidungsfindung massiv beschleunigen. Wenn nationale Alleingänge unabhängig von kollektiven Notsituationen - darin unterscheidet sich das Jahr 2018 von der Eurokrise 2010/11 oder der Flüchtlingskrise 2015/16 - in einem Politikfeld akzeptabel werden, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis diese Strategie der mangelnden Geduld und des kurzfristigen Prestigegewinns auf andere Felder übergreift. So dürfte den Ländern Europas die gemeinsame Handlungsfähigkeit in allen Politikfeldern eher früher als später verloren gehen.

Die letzte Hoffnung, den noch offen Europastreit anders ausgehen zu lassen, ist, dass diejenigen, welche das hier skizzierte Europa ablehnen und nicht erben möchten, sich endlich zusammenschließen und sehr bald lautstark Gehör verschaffen.

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