Der Fall Skripal: Ein perfektes Alibi?
Die bisher veröffentlichten Fakten geben den beiden verdächtigten Russen ein wasserdichtes Alibi
Stellen Sie sich einen Mordfall vor, bei dem ein Verdächtiger zur Tatzeit ein einwandfreies Alibi hat. Es belegt zweifelsfrei, dass er nicht am Tatort gewesen sein kann. Er würde nach Prüfung des Alibis unmittelbar von der Liste der Verdächtigen gestrichen. Im Fall Skripal deuten alle von der britischen Polizei bisher vorgelegten Fakten darauf hin, dass die beiden verdächtigten Russen Ruslan Boschirow und Alexander Petrow ein einwandfreies Alibi haben. Erstaunlicherweise wird dies weder offiziell bemerkt und kommentiert, noch die Namen Boschirow und Petrow von der Liste der Verdächtigen gestrichen.
Der Augenblick der Vergiftung
Die offizielle Darstellung lautet, dass sich Julia und Sergei Skripal bei der Berührung der Haustür vergiftet haben sollen. Die britische Polizei legte bisher folgenden Tagesablauf der Skripals am 4. März vor:
"09.15 Uhr: Sergeis Auto ist im Bereich der London Road, Churchill Way North und Wilton Road zu sehen.
13.30 Uhr: Sergeis Auto wird gesehen, wie es über die Devizes Road in Richtung Stadtzentrum fährt.
13:40 Uhr: Sergei und Julia kommen in Salisburys oberem Parkplatz bei den Maltings an. Einige Zeit später gehen sie in das Bishops Mill Pub im Stadtzentrum.
14.20 Uhr: Sie speisen im Restaurant Zizzi.
15:35 Uhr: Sie verlassen das Restaurant Zizzi.
16.15 Uhr: Die Rettungsdienste erhalten einen Bericht von einem Bürger und die Polizei kommt innerhalb weniger Minuten am Tatort an, wo sie Sergei und Julia auf einer Parkbank in der Nähe des Restaurants schwer erkrankt finden."
Folgt man diesen offiziellen Angaben, so kann die Tatzeit der Vergiftung an der Haustür eigentlich nur vor 9.15 Uhr gewesen sein, als sie zum letzten Mal das Haus verlassen haben. Betrachtet man nun die offiziellen Angaben der britischen Polizei im Hinblick auf den Tagesablauf der Verdächtigen, so erreichen Ruslan Boschirow und Alexander Petrow den Bahnhof von Salisbury, dem Wohnort von Sergei Skripal, um 11.48 Uhr.
Es bedarf nicht wirklich der Gedankenschärfe eines Sherlock Holmes, um daraus zu schließen, dass die beiden Verdächtigen schlicht zur Tatzeit, also vor 9.15 Uhr, nicht am Tatort gewesen sein können. Unabhängig davon, dass sie sich um 11.58 Uhr in einer Entfernung von rund sechs Minuten von Skripals Haus befanden.
Nur zwei Möglichkeiten
Aus dem einwandfrei zu belegenden Alibi kann man eigentlich nur zwei Dinge folgern: Entweder sind die beiden Verdächtigen offiziell zu entlasten und die diplomatische Krise sollte mit einer Entschuldigung zu beenden versucht werden, oder die britische Polizei müsste Beweise vorlegen, dass die Skripals tatsächlich noch einmal zu ihrem Haus zurückgekehrt sind und dort die Haustür noch nach 12.00 Uhr berührt haben.
Tatsächlich ist das Zeitfenster für die Vergiftung, wenn es die beiden Verdächtigen gewesen sein sollen, von 12.05 Uhr bis 12.50 Uhr. Bedenkt man, wie viele Bilder von Videoüberwachungskameras den Tagesverlauf der Skripals und der Verdächtigen zeigen, sollte es einen Beweis mit relativer Wahrscheinlichkeit geben.
Der Tatort
Untersucht man den Tagesablauf der Skripals näher, wie es in einem früheren Artikel versucht wurde, dann tauchen bedenklich viele Widersprüche und offene Fragen auf. Neben all den dort aufgeführten Aspekten, die auch Unstimmigkeiten in der russischen Darstellung enthalten, erscheint die Frage nach dem Tatort (neben der Tatzeit) zentral.
Die offizielle Darstellung, Sergei und Julia Skripal seien durch die Berührung ihrer Haustürklinke vergiftet worden, scheint auf den ersten Blick sehr stimmig zu sein, denn auch der Polizist Nick Bailey vergiftete sich an Nowitschok. Er war zum Haus Skripals am Tattag geschickt worden und hatte sich vergiftet, obwohl er Handschuhe trug, als er die Türklinke anfasste.
Die These mit der Haustür war allerdings keineswegs von Anfang an die einzige Hypothese, wie der Blogger Rob Slone in einer minutiösen Recherche darstellt. Im Gegenteil. Zwar galt die Haustür schon am 9. März als möglicher Ort der Vergiftung, aber dennoch tauchten danach noch eine Reihe von anderen Theorien auf wie eine Vergiftung durch das Lüftungssystem im Auto oder an der Autotür.
Erst am 28. März wurde die Theorie der Haustür zur offiziellen und es wurde berichtet, dass Nowitschok an der Haustürklinke gefunden worden sei. Was jedoch sehr schwer nachvollziehbar ist, bleibt die Tatsache, dass es knapp drei Wochen dauerte, bis die Haustür untersucht wurde, nachdem diese bereits am 9. März als mögliche Quelle der Vergiftung ausgemacht worden war. In der Konsequenz verbrachten daher Polizisten, die vor Skripals Haus Wache standen, wochenlang ohne besonderen Schutz in direkter Nähe zum Nervengift.
Eine letzte wichtige Frage zum Vergiftungsort: Wenn sich Julia und Sergei Skripal an der Haustür vergiftet haben, wieso zeigten sie auf der einen Seite danach keine Vergiftungserscheinungen im Restaurant und in der Kneipe? Und besonders: Wieso wurden beide im Park zeitgleich ohnmächtig? Wieso also wirkte das Gift bei beiden exakt gleich trotz stark unterschiedlicher körperlicher Statur?
Hierbei gilt es zu bedenken: Weder Julia noch Sergei Skripal setzten einen Notruf ab. Bis zum Kollaps beider auf einer Parkbank hat also vermutlich keiner der beiden derart verdächtige Anzeichen zuvor gezeigt, die so alarmierend gewesen wären, dass der Person, der es noch besser ging, einen Notruf hätte absetzen können.
Die Kronzeugen
Diese Frage und insbesondere auch die Frage rund um das perfekte Alibi an der Haustür könnten die beiden Kronzeugen sicherlich leicht lösen. Sollten Julia und Sergei Skripal doch mit Bestimmtheit sagen können, ob sie noch nach 9.15 Uhr einmal wieder zum Hause zurückgekehrt sind. Doch erstaunlicherweise werden die Kronzeugen nicht aufgerufen. Stattdessen ist es ausgesprochen still um die beiden Opfer des Mordversuchs geworden.
So verständlich es erscheinen vermag, dass Julia und Sergei Skripal nach dem Mordversuch unter Polizeischutz stehen und vermutlich an einem gesicherten und unbekannten Ort leben und es seit dem Mordversuch nach Wissen des Autors kein aktuelles Foto von Sergei Skripal mehr gibt, so verwunderlich ist jedoch seine Funkstille zu seiner Familie.
Als Sergei Skripals Mutter ihren 90. Geburtstag feierte, erhielt sie einen Anruf. Die Großmutter erinnert sich an die Worte ihrer Enkelin Julia: "Babuschka, alles Gute zum Geburtstag, alles ist in Ordnung, alles ist perfekt. Ich bin mit Papa in London. Er kann nicht sprechen, weil er eine Tracheostomie hat, dieses Rohr, das in drei Tagen entfernt wird. Wenn er jetzt mit dieser Pfeife spricht, ist seine Stimme erstens sehr schwach und zweitens macht er ziemlich viel Keuchen. Babuschka, mit deinem schlechten Gehör würdest du wirklich Mühe haben, ihn zu verstehen. Er wird anrufen, wenn die Tracheostomie vorbei ist."
Tatsächlich hat aber Sergei Skripal bis zur Veröffentlichung des Interviews mit seiner Mutter am 17. Oktober nicht mehr bei ihr angerufen. Seiner Großmutter zufolge rief er bis zum Mordversuch allerdings regelmäßig jede Woche an.
Man kann daraus sicherlich nicht schlussfolgern, dass die Skripals gegen ihren Willen festgehalten werden, aber die ungewöhnliche Funkstille ist schwierig zu erklären. In diesem Sinne wäre es sicherlich für alle Beteiligten das Beste, um unbegründeten Anschuldigungen zu begegnen, wenn das Gesuch Russlands stattgegeben würde und der russische Konsul die Skripals besuchen dürfte. Sicherheitsbedenken bei einer Begegnung unter Polizeischutz an einem Ort, den die britischen Behörden aussuchen können, kann es eigentlich nicht geben.
Auf voreilige Schlüsse sollte verzichtet werden
Genauso wie von Anfang an vor voreiligen Schlüssen gegen Russland hätte abgesehen und stattdessen gemäß dem Rechtsstaat eine entsprechende Untersuchung abgewartet werden sollen, ist aber auch jetzt trotz des vielen Unstimmigkeiten weiterhin darauf zu bestehen, dass weder die Schuld- noch die Unschuldsfrage abschließend geklärt ist. Die noch offenen und zu beantwortenden Fragen sind jedoch eindeutig.
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