Der Hall der Cassandrarufe

Nach 30 Jahren kommt das zweite Update für "Die Grenzen des Wachstums"

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Vor mehr als dreißig Jahren erschien aus der Feder von drei Forschern am Massachusetts Institute of Technology "Die Grenzen des Wachstums" im Auftrag des Club of Rome - kurz vor der ersten Ölkrise 1973. Seitdem ist die Weltwirtschaft unglaublich weiter gewachsen, und Skeptiker weisen darauf hin, dass uns das Öl keineswegs ausgegangen ist. Berühmt ist auch die von der ersten Ausgabe angeregte Wette zwischen den Wissenschaftlern Julian Simon und Paul Ehrlich, ob die Preise von 5 Ressourcen zwischen 1980 und 1990 durch Knappheit steigen würden. Ehrlich durfte sich 5 Metalle aussuchen, deren Preise seiner Meinung nach steigen würden. Er verlor in allen fünf Punkten, auch wenn die Kritiker von Simon das nicht als Niederlage für Ehrlich sehen. Nun ist nach der zweiten Ausgabe von 1992 ("Die Neuen Grenzen des Wachstums") die dritte auf englisch im Juni 2004 erschienen - mit dem Untertitel "The 30-Year Update". Reden die Autoren immer noch davon, dass die Welt bald untergehen wird? Wenn ja, warum?

Heutzutage gilt Wachstum als Allheilmittel für alle Wirtschaftprobleme. Wie soll man die mehr als 4 Millionen Arbeitslosen in Deutschland beschäftigen? Dadurch, dass man die Arbeitswoche auf 30 Stunden reduziert und die vorhandene Arbeit auf alle "verteilt"? Nein, davon ist bundespolitisch keine Rede. Stattdessen spricht man sogar davon, die Zahl der Arbeitsstunden zu erhöhen, denn dadurch würden neue Impulse gesetzt: Die Wirtschaft würde wachsen. Verteilungsvorschlägen haftet außerdem ein Beigeschmack von Sozialismus und Planwirtschaft an - und man sieht, wohin das geführt hat.

Kein Wunder denn, dass die Verkünder der frohen Botschaft, die Wirtschaft könne gar nicht ewig weiter wachsen, denn die Erde sei gar nicht endlos groß, auf Skepsis stoßen, untergräbt diese unumstößliche Wahrheit doch das Fundament unseres ökonomischen Glaubens. Doch während die Botschaft selbst an sich theoretisch stimmen mag, bedeutet sie nicht viel, wenn wir noch 100.000 Jahre so wie bisher weiter wachsen können. Die eigentlich Frage lautet deshalb: Wie lange geht es noch? Oder, um die Autoren zu zitieren:

Die Frage ist nicht, ob der ökologische Fußabdruck irgendwann nicht mehr weiterwächst, sondern wann und wie.

Seit 1996 hat sich der Begriff des "ökologische Fußabdrucks" von Mathis Wackernagel etabliert. Er bezeichnet den Raum, den eine Gruppe von Menschen bräuchte, um ihren Lebensstandard dauerhaft aufrechtzuerhalten. Wie man dieser Graphik entnehmen kann, dürfte niemand außerhalb von Berlin zwischen etwa Hamburg/Prag/Posen/Nordsee wohnen, wenn Berlin alles aus seiner Umgebung nehmen müsste. Im Moment lebt Europa von importierten Ressourcen. Weltweit schätzt Wackernagel, dass die Menschheit mittlerweile 35% über die Tragfähigkeit (carrying capacity) der Erde lebt. Quelle für die Grafik

Den drei Autoren vom MIT wird manchmal nachgesagt, sie hätten schon 1972 behauptet, in 30 Jahren wäre die Welt am Ende - kein Öl mehr, zu viele Menschen, usw. Da man seit Jahren sehen konnte, dass uns kein solcher Weltuntergang unmittelbar bevorsteht, gilt "Die Grenzen des Wachstums" in manchen Krisen - zu den Kritikern gehören unter anderem Björn Lomborg, Autor von "Apocalypse No!" - als bestes Beispiel der Weltfremdheit von Umweltschützern, die gegen jeden Fortschritt sind und uns am liebsten alle nur zurück in die Steinzeit schicken würden. Dabei legen die Befürworter des Wachstums manchmal eine unglaubliche Technikgläubigkeit an den Tag:

Technology exists now to produce in virtually inexhaustible quantities just about all the products made by nature--foodstuffs, oil, even pearls and diamonds--and make them cheaper in most cases than the cost of gathering them in their natural state.

Julian L. Simon, 1995

Die MIT-Autoren fühlen sich jedoch missverstanden, denn sie hätten überhaupt nichts vorhergesagt, schon gar keinen Weltuntergang in 30 Jahren oder das Ende des Erdöls in 30 Jahren (letztere Zahl stammte übrigens von den Ölmultis selbst und bezeichnete deren "Reserven", siehe: Esso verkündet das "Öldorado 2003"). Stattdessen hätten die Autoren verschiedene Parameter in ihrem Computerprogramm verändert, um zu sehen, wie die Welt sich verändern würde, wenn z.B. bis 2020 die Welt 8 Milliarden Menschen zählt und viele von ihnen in schnell wachsenden asiatischen Ländern statt alle in Afrika auf die Welt kommen. Es gab also mehrere Szenarien. Eine Mitautorin, die mittlerweile verstorbene Donella Meadows, verteidigte sich vor einigen Jahren mit den Worten:

Denial is a sure-fire way to confuse information, defuse political will, and waste time. A growth-obsessed culture that does not want to think about its limits can make up lies about the people who point out those limits.

Und Mitautor Dennis Meadows sagte 1998 gegenüber Telepolis:

Meiner persönlichen Meinung nach werden wir im Jahr 2012 mit ernsthaften Engpässen unserer Ressourcen konfrontiert werden.

Die zwei noch lebenden Autoren weisen im Vorwort des 30-jährigen Updates außerdem darauf hin, dass sie 1992 sogar viel pessimistischer als 1972 waren. In dieser dritten Ausgabe geht es den zwei Autoren vorrangig darum, Missverständnissen vorzubeugen und klarzustellen, dass sie nichts vorhersagen. Das dürfte ihnen wieder misslingen, denn die neun Szenarien weichen zwar voneinander ab, aber nur eine von ihnen könnte man als leicht optimistisch betrachten. In nur einem anderen Szenario wäre die Welt akzeptabel, wenn auch ärmer; in allen anderen sieben geht es nur darum, ob der Kollaps vor oder nach 2050 eintrifft. In allen neun passiert ein "overshoot" - ein Begriff, der in deutschen in Fachtexten mittlerweile häufig nicht mehr übersetzt wird, manchmal aber als Grenzüberziehung.

Wichtige Begriffe

Zunächst sollte man sich darüber im klaren sein, worum es geht. Die Autoren haben nichts gegen Wachstum. Vielmehr ist Wachstum für sie keine Priorität. Es kann mehr Wohlstand mit sich bringen, aber genauso oft scheint Wachstum heute die Kluft zwischen Arm und Reich zu vergrößern. Deshalb betonen sie, man brauche nicht unbedingt mehr Wachstum, sondern mehr Entwicklung.

Entwicklung bedeutet, dass der Lebensstandard steigt. Dies ist möglich bei einer Stagnation ("Nullwachstum"), wenn die Effizienz steigt. Steigt die Effizienz schnell genug, kann selbst bei einer schrumpfenden Wirtschaft der Lebensstandard steigen.

Das Wachstum ist auch deshalb nicht zentral, weil die Knappheit von Ressourcen gar nicht darin enthalten ist. So sind zwar die Preise beispielsweise für Erdöl und Metalle in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten gesunken, aber es steht auch außer Frage, dass wir weniger Erdöl und Metall als vor 25 Jahren haben. Die Preise wiederspiegeln nämlich nicht, wie viel noch vorhanden ist, sondern Angebot und Nachfrage. Erst wenn das Angebot, d.h, die Produktionsmenge, mit der Nachfrage nicht mehr Schritt halten kann, steigen die Preise.

Das kann kurz vor knapp passieren. Die Autoren benutzen folgendes Beispiel: Wenn Ihr Teich von einer Pflanze überwuchert wird, die jeden Tag zweimal mehr Platz einnimmt und insgesamt 30 Tage braucht, wann schreiten Sie ein? Am vorletzten Tag hat die Pflanze erst die Hälfte bedeckt; zwei Tage davor nur ein Viertel. Die Pflanze würde Ihnen wahrscheinlich überhaupt erst ein paar Tage vorher auffallen, bevor es zu spät ist.

Die Gleichung ist nett, aber schwierig ist es bei solchen Berechnungen, wenn sie tatsächliche Ereignisse wiederspiegeln sollen. So wird immer häufiger davon gesprochen, dass heute das größte Massensterben der Arten seit den Dinosauriern stattfindet. Neulich hat sich der Begriff "Sechste Auslöschung" (Sixth Extinction) etabliert. Die MIT-Autoren weisen jedoch darauf hin, dass wir nicht einmal annährend wissen, wie viele Arten es gibt: Schätzungen reichen von 3 bis 30 Millionen. Deshalb betonen die Autoren allgemein: "We cannot know these numbers for sure".

Overshoot/collapse

Wer Prognosen eines Weltuntergangs sucht, der findet viele in diesem Buch. Wälder sterben aus, das Erdöl geht uns aus, Fischbestände gehen zurück, usw. Gerade die Fischbestände sind interessant, denn sie illustrieren den wohl wichtigsten Begriff im Buch: overshoot.

Seit etwa 5 Jahren stagnieren die Fischfänge weltweit. Man befürchtet sogar, dass sie bald nur noch sinken werden, statt sich zu erholen. Fängt man mehr Fische als nachwachsen können, schrumpft die Basis - oder, wie die Autoren sagen, sie "erodiert". Man lebt sozusagen nicht mehr von den Zinsen, sondern vom Kapital selbst.

Trotzdem findet man heute genug Fische auf dem Markt, auch wenn sie immer teuer werden. Das liegt daran, dass in den letzten Jahren die Fischzucht geradezu explodiert ist. Das stellt ein großes Problem dar, denn - wie die Autoren schön formulieren - wilde Fische sind eine Nahrungsquelle, gezüchtete Fische eine Nahrungssenke, d.h. es kommt mehr hochwertige Nahrung in Zuchtfische hinein, als am Ende raus kommt. Wilde Fische fressen Pflanzen und Tiere, die die Menschen in der Regel nicht essen wollen, während Zuchtfische mit Agrarprodukten hochgepäppelt werden. Die Nahrungsbilanz bei der Fischzucht ist also negativ.

Wenn ein overshoot die Basis (fast) komplett vernichtet, so dass keine Erholung möglich ist, spricht man von einem Kollaps. Nicht jede "Grenzüberziehung" muss jedoch zu einem Kollaps führen. Es kann eine kurzfristige Fluktuation geben, und eventuell pendelt sich der Wert wieder ein - möglicherweise nicht so hoch wie früher, aber immerhin auf einem stabilen Niveau.

Beispiel einer Erholung nach einer "Erosion" der Bestände. Man hat nicht mehr 100 Einheiten im Jahr, die man konsumieren kann, ohne dass die Erträge im Folgejahr beeinträchtigt werden, sondern rund 70.
Schlimmer sieht es jedoch aus, wenn der Konsum nicht schnell genug reagiert. Dann "erodieren" die Bestände auf ein Niveau, das eine Erholung fast unmöglich macht. (Beide Grafiken vom Autor)

Man sieht in beiden Beispielen, dass man nicht gleich merkt, wenn man die Grenze überschritten hat, sondern später. Und dass alles nicht gleich vorbei ist, sondern man hat eine gewisse Zeit, um zu reagieren: "Oil depletion will not appear as a complete stop", schreiben die Autoren dazu.

Was tun?

Möglicherweise wird sich kein einziges Szenario als richtig erweisen, weil das Modell (World3) nicht stimmt. Es kam schon 1973 unter Beschuss. Im Herbst soll die Software auf CD beim Sustainability Institute zu bestellen sein, damit man sich ein Bild davon machen kann (eine deutsche Ausgabe des Buches steht noch aus).

Die Autoren würde es nicht überraschen, wenn ihr World3-Modell nicht mit der Wirklichkeit ausreichend übereinstimmt. Sie wiesen darauf hin, dass vieles aus der wirklichen Welt gar nicht enthalten ist: Kriege, Korruption, usw. Wichtig ist die überragende Botschaft. Es scheint, als würden wir jetzt schon über unsere Verhältnisse leben. Deshalb läuten die Autoren Alarm. Egal, ob man den Zahlen der Autoren glaubt, das Buch beweist eines: Wir müssen heute die Knappheit unserer Ressourcen exakt messen und auf Abstürze schnell reagieren. Tun wir dies nicht, werden unsere unmittelbaren Nachkommen eine verarmte Welt erben.

Craig Morris übersetzt im Bereich Energie und Finanzen bei www.petiteplanete.org.