Der Kandidat hat 99 Punkte
Am 29. August bekommen die Tschetschenen einen neuen Präsidenten
Urnengang in Tschetschenien: Es gilt als sicher, dass der von Russland favorisierte Kandidat Alu Alchanow zum Präsidenten gewählt wird. Damit müssen die Tschetschenen ein weiteres Mal die Hoffnung begraben, dass sich ihn ihrem Land etwas ändern wird.
Schon bald nach dem tödlichen Anschlag auf den Moskau-treuen tschetschenischen Präsidenten Achmad Kadyrow am 9. Mai war klar, wen der Kreml als nächstes ins Rennen schicken würde: den bisherigen Innenminister Alu Alchanow. Der einzige ernst zu nehmende Gegenkandidat Malik Saidullajew, ein Moskauer Geschäftsmann, wurde mit einer fadenscheinigen Begründung ausgeschaltet: In seinem Pass sei der Geburtsort mit "Alchan-Jurt, Tschetschenien" angegeben, obwohl es zum Zeitpunkt seiner Geburt nur die Autonome Tschetschenisch-Inguschetische Sowjetische Teilrepublik gegeben habe.
Alchanow hingegen gilt als Moskau treu ergeben und wahrscheinlich fiel die Wahl auf ihn, weil er der Loyalste aus Kadyrows Gefolgschaft ist. Er hat nie für die Unabhängigkeit Tschetscheniens gekämpft, er war sogar gegen Dschochar Dudajew, den ersten tschetschenischen Präsidenten, der das Land 1991 in die Unabhängigkeit führte. Nach einer Umfrage der russischen Zeitung "Nesawisimaja Gaseta" im Juni ist sein Rückhalt in der Bevölkerung allerdings gering: nur 3 Prozent der Tschetschenen unterstützen ihn. Warum sollten sie auch: Als Innenminister der Kadyrow-Regierung war Alchanow mit verantwortlich für die massiven Menschenrechtsverletzungen und die wuchernde Korruption in der Kaukasusrepublik.
Stabilisierung der Verhältnisse: Gewalt gehört zum Alltag
Was passiert in Tschetschenien? Die russische Regierung lässt keine Gelegenheit aus, die Normalisierung der Verhältnisse zu betonen, doch genau das Gegenteil ist der Fall. Wie ein noch unveröffentlichtes aktuelles Memorandum der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) schildert, ist die Lage weiterhin Besorgnis erregend. Am 16. August z. B. meldete die tschetschenische Journalistenvereinigung SNO, dass sich die Situation massiv verschlechtert habe. Die Zusammenstöße zwischen russischen Einheiten und tschetschenischen Kämpfern hätten zugenommen. Praktisch jeden Tag führten Sicherheitskräfte "Säuberungen" durch. Nach wie vor würden dabei vor allem junge Männer verschleppt, denen dann üblicherweise vorgeworfen wird, zu den Kämpfern bzw. zu bewaffneten Banden zu gehören. Die Organisation Memorial, die Menschenrechtssituation in einem Drittel des tschetschenischen Gebietes beobachtet, berichtete laut GfbV, dass in der ersten Jahreshälfte 194 Personen "verschwunden" seien. Mindestens 67 Zivilisten seien in diesem Zeitraum getötet worden.
Wegen der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen, so die GfbV, wurden schon seit geraumer Zeit die Sicherheitsmaßnahmen verstärkt. In der Hauptstadt Grosny wie auch in anderen Städten und auf dem Land patrouillierten der russische OMON und tschetschenische Spezialeinheiten der Polizei und kontrollierten Passanten. Die tschetschenische Menschenrechtsorganisation Caucasian Knot meldete am 19. August, dass Bewohner der Hauptstadt Grosny verlassen würden, um in anderen Teilen der Republik zu leben. Sie hätten Angst vor einer groß angelegten Militäraktion in Grosny.
Von einer Katastrophe zur nächsten
Doch auch ohne Säuberungen und Kontrollen sind Katastrophen allgegenwärtig. Durch den Krieg und die weitgehende Zerstörung der Ölförderanlagen bzw. "wilde" Ölförderung verseucht Erdöl das Grundwasser. Weite Teile des Landes haben sich in ein ökologisches Katastrophengebiet verwandelt.
Wie der Sekretär des tschetschenischen Sicherheitsrates, Rudnik Dudajew, am 7. August gegenüber der Nachrichtenagentur Itar-Tass berichtete, zeigen die Krankheitsstatistiken deutlich die verheerenden Folgen des andauernden Krieges: Tuberkulose, Viruserkrankungen und besonders Hepatits-A haben ebenso wie Krebserkrankungen bedrohlich zugenommen. Laut Dudajew haben die Schwermetallrückstände im Grundwasser vieler Städte längst das zumutbare Maß überschritten. Und da es seit Jahren keine öffentliche Müllentsorgung mehr gibt, entstünden besonders in den Städten wilde Müllkippen, die das Grundwasser verseuchten und Ungeziefer anlockten.
Wirtschaftswunder im Kaukasus?
Allen Tatsachen zum Trotz malt der zukünftige Präsident Alchanow seinen Landsleuten die Zukunft rosig, ganz so, als sei er der Garant für einen friedlichen Wiederaufbau. Auf einer Pressekonferenz in Moskau hat er kürzlich seine Zukunftspläne kund getan: Weil ihm besonders die Wirtschaft am Herzen liegt, soll Tschetschenien zur Freihandelszone werden. Investoren sind herzlich willkommen! Die derzeitige Arbeitslosigkeit, die er auf 70 Prozent bezifferte, will er auf 15 Prozent senken; 150.000 neue Arbeitsplätze sollen entstehen. Sein besonderer Appell aber galt der tschetschenischen Diaspora in Moskau, die er einlud, beim Aufbau des Landes zu helfen. Und als ob das nicht reichte, ermahnte er sie auch noch, dabei an ihre Kinder zu denken, die in der Ferne womöglich die Bräuche ihres Volkes nicht kennen lernten.
Auch der russische Präsident Putin ist im Wahlkampf offenbar bemüht, eine baldige Verbesserung der Lebensverhältnisse in Aussicht zu stellen. So sollen mit seinem Segen künftig die Einnahmen aus den tschetschenischen Ölexporten (geschätzte Erdölvorräte: 30 Mio. Tonnen) in den Haushalt der Republik fließen. Alchanow selbst gab in diesem Zusammenhang sogar zu, dass ein Großteil der Öl-Erlöse jahrelang in dubiosen Quellen versickerten. Offensichtlich muss er damit seine Glaubwürdigkeit unterstreichen, denn jedes Kind in Tschetschenien weiß, was es bedeutet, wenn nachts schwere Lkw das Land verlassen.
Aussitzen um jeden Preis
Doch auch der Kreml verfolgt im Kaukasus weiter seiner Pläne - und dazu gehört mitnichten eine politische Lösung für den Krieg. Am 18. August kündigte der russische Verteidigungsminister Sergej Iwanow an, dass die Militärausgaben im kommenden Jahr um 40 Prozent auf 70 Mrd. Rubel (2,1 Mrd. Euro) erhöht werden - insbesondere im Hinblick auf Tschetschenien. Außerdem wollen die Russen ihre Präsenz in der Region verstärken und in Krasnodar, in der Nähe der Grenze zu Tschetschenien, bis 2008 eine neue Militärbasis für die Schwarzmeerflotte bauen.
Darüber hinaus soll die Militärtaktik geändert werden. Es soll künftig in Tschetschenien kleinere beweglichere Einheiten geben, die auf Angriffe sofort reagieren können. Zwei neue Gebirgseinheiten, die mit Hochpräzisionswaffen und Helikoptern ausgerüstet werden, sollen sich um Rebellen in den Bergen kümmern. Außerdem sollen die Soldaten im Nordkaukasus mit moderneren Waffen ausgerüstet werden.
Wahrscheinlich mit Blick auf die tschetschenischen Rebellen gab Iwanow davon gleich eine Kostprobe: Das 9-Millimeter-Gewehr Gyurza, das angeblich auch dem unerfahrensten Schützen zum Erfolg verhilft, soll schon bald zum Einsatz kommen. Es ist mit einer Spezialmunition ausgestattet. 10 Dollar kostet der Schuss - das ist vergleichsweise viel, aber in diesem Krieg ist der Kreml nicht knausrig.
Bis zum bitteren Ende
Die Vorzeichen für die Zukunft Tschetscheniens stehen also nicht gerade günstig. Bei der GfbV verfolgt man diese Entwicklung mit Besorgnis:
Die Machtstrukturen, die Moskau hörig sind, bleiben weiter aufrecht erhalten, obwohl das Experiment Kadyrow gescheitert ist mit dessen Tod. Die Forderung wäre gewesen, freie Parlamentswahlen abzuhalten, um ein legitimes Organ zu haben, das die Tschetschenen wieder vereinen könnte. Doch stattdessen geht die Tschetschenisierung des Konfliktes weiter: Tschetschenen werden in die Sicherheitsorgane geworben, die der pro-russischen Regierung unterstehen. Wir haben den Eindruck, es ist eine Teile-und-herrsche-Politik. Man bewaffnet eine Gruppe, die dann gegen andere Gruppen vorgeht, um den Einfluss nicht zu verlieren, anstatt ein politisches Konzept zu entwickeln.
Sarah Reinke von der GfbV
Russland stellt sich auf einen langen Krieg ein und das tun auch die Rebellen. Ihr Anführer Aslan Maschadow hat bereits gedroht, dass der nächste Präsident schon jetzt todgeweiht ist. Doch der Kampf bis auf den letzten Mann, bedeutet womöglich auch ein Todesurteil für die Tschetschenen. Der Blutzoll, den beide Seiten weiter entrichten werden, ist viel zu hoch.