Der Krieg der "Einäugigen"
Falludscha: Die Kämpfe gehen weiter, aber wo?
Es soll noch einmal daran erinnert werden: Die Koalitionstruppen sind vor mehr als einem Jahr in den Irak einmarschiert, um das Land vom grausamen Diktator Saddam Hussein und seinen Schergen zu befreien: Sicherheit und bessere, menschlichere Verhältnisse für die unterdrückte, misshandelte Bevölkerung waren das ausgegebene moralische Ziel, das a posteriori noch höher gestellt wurde als der offizielle Grund zum Einmarsch, die Bedrohung der freien Welt durch den Schurkenstaat. Jetzt tobt der "zweite Krieg" zur Befriedung des Landes. Fest steht, dass sich die Verhältnisse im Irak weiter radikalisiert haben. Zur Zeit sieht es überhaupt nicht danach aus, als ob ihnen die Spitze schon genommen wäre, als ob das Schlimmste schon vorbei wäre. Angst, entfesselte Wut, Chaos, blutige Gewalt und Auseinandersetzungen, in denen der Wert eines Menschenlebens nur mehr im Kriegskalkül gerechnet wird, bestimmen die jetzigen Verhältnisse im Irak. Das ist die fassbare Realität, die alle Meldungen über den "Fortschritt" der Großoffensive durchzieht, ansonsten ist die Nachrichtenlage über Erfolg und Schwierigkeiten der alliierten Kampfhandlungen in den "Hornissennestern" der militanten Opposition gekennzeichnet durch Widersprüche und Einfärbungen der jeweiligen Seite.
Einerseits scheint die Eroberung von Falludscha schneller und leichter voranzuschreiten, als es der amerikanische Kommandostand erwartet hat. Erste US-Truppeneinheiten haben gestern das Zentrum der Stadt erreicht. Man sei dem Zeitplan sogar leicht voraus, freut sich der militärische Chef der amerikanischen "Day-to-Day-Militär-Operationen" im Irak, Thomas Metz. Der Gegner würde zwar hart kämpfen, aber "nicht bis zum Tod". Die terroristischen Anführer hätten seiner Einschätzung nach Falludscha schon längst verlassen. Während in vielen Berichten vor allem der überraschenden Zwischenerkenntnis, dass sich der Widerstand als ein viel leichterer Gegner zeige als angenommen, Ausdruck verliehen wird, setzen andere den Akzent darauf, dass es in einzelnen Teilen der Stadt doch zu heftigen Kämpfen gekommen sei und der richtig toughe Widerstand wohl erst in der nächsten Zeit ausbrechen werde. Für den amerikanischen Irak-Kommentator Juan Cole ist die CNN-Meldung, wonach die Alliierten "nur" 1/3 der Stadt eingenommen haben, allein schon ein Indiz dafür, dass die in der Spitze agierenden US-Truppen auf "sehr schweren Widerstand" treffen. Demgegenüber berichtet die letzte Reutersmeldung allerdings davon, dass man mittlerweile schon halb Falludscha eingenommen habe
Wie immer im Kriegslärm wird die Wirklichkeit nach taktischen und politischen Vorgaben vermittelt. Die meisten Reporter, die vom Geschehen berichten, sind eingebettet (seit Ankündigung der Großoffensive waren die freien Plätze in kürzester Zeit wieder von Journalisten belegt, nachdem man Monate lang kaum mehr danach gefragt hatte) und dürfen folglich nicht über alles berichten und die Kommentatoren erkennen gerne, was ihre Meinung zur militärisch geprägten Politik der USA im Irak bestätigt. Ein Phänomen der letzten beiden Tage erkennen jedoch alle als Kernproblem. Die heutige Überschrift von USToday bringt es auf den Punkt: "Der Kampf wird weiter gehen; die Frage ist wo?"
Blutiges Hütchenspiel
Während sich nämlich die amerikanischen Truppen wie ihre irakischen Verbündeten darüber freuen, dass man im Zentrum Falludschas steht, jubilieren in Ramadi die "Widerständler" auf den Dächern der Häuser im Zentrum dieser anderen "Rebellenbastion": ein blutiges Hütchenspiel um "Sicherheit und Kontrolle" im Irak. Das neueste Schauplatzwechsel-Manöver der Terrorfraktion des Widerstandes ist die Entführung von Verwandten des irakischen Regierungschefs
Der Sieg im Kampf gegen den quecksilbrigen Widerstand wird auf längere Zeit nicht feststehen wird, wie auch Rumsfeld zu Bedenken gab, die Verlierer dagegen von Anfang an: Während man die medizinische Versorgung der amerikanischen Einheiten zuletzt noch aufgestockt hat, beklagt sich ein Arzt des Hospitals in Falludscha, das gestern von alliierten Streitkräften besetzt wurde, darüber, dass es "keinen einzigen Chirurgen" mehr in der Stadt gebe. Schlechte Aussichten also für Zivilisten, die aus welchen Gründen auch immer in der Stadt geblieben sind oder von den Gangs zum Bleiben gezwungen wurden und unter Beschuss geraten, von "guter" wie von "böser" Seite. Da man offiziell noch nicht einmal angeben kann, wie viele Zivilisten sich noch in Falludscha aufhalten, die Angaben differieren zwischen 50 - und 100.000, und die Amerikaner auch keine genauen Angaben zu den bisherigen Opferzahlen von Zivilisten veröffentlichen, hat sich erwartungsgemäß al-Dschasira dieser Schattenseite der Befreiung von Falludscha angenommen. Natürlich mit dem üblichen journalistischen Stilmittel des "Human Touch"; der entsprechende Bericht fängt mit einem getöteten Kind an, erwähnt vage "jede Menge von zivilen Opfern" nach "Zeugenangaben" und liefert schließlich die Zahl 15, welche die Ärzte des Zentralkrankenhauses in Falludscha bekannt gegeben haben. Keine große Zahl, die der Ansage des amerikanischen Verteidigungsministers Rumsfeld, demzufolge er nicht viele zivile Opfer bei den Kämpfen in Falludscha erwartet eher Recht gibt.
Das Unterscheidungsproblem
Davon abgesehen, dass es generell widersprüchliche Meldungen darüber gibt, wie verläßlich und umfangreich die Geheimdienstinformation über Falludscha sind - nach Angaben der Washington Times weiß man über beinahe jeden Häuserblock Bescheid, während sich englische Kommandeure der Black Watch Truppen über einen vollkommenen Mangel an Information beschweren -, besteht ein elementares Problem dieses Krieges darin, präzise zwischen Zivilisten und Militanten zu unterscheiden. Der Gedanke daran, welche Personen in anderen Auseinandersetzungen einem groben Raster zum Opfergefallen sind und in großer Zahl in Guantanamo Bay oder im Abu Ghraib-Gefängnis gelandet sind, stärkt das Vertrauen in die Koalitionstruppen nicht gerade. Mit dem Unterscheidungsproblem sind nicht nur die Soldaten konfrontiert, welche im enggeschnürten Kordon um die Stadt postiert sind, um niemanden im "wehrfähigen Alter" aus den Kreisen der Terroristen entkommen zu lassen, sondern vor allem die kämpfenden Truppen in der Stadt. In der Kleidung sollen sie sich Zivilisten, zumal jüngere, von den Militanten jedenfalls kaum unterscheiden.
Es ist im Weiteren auch schwierig, eine deutliche Trennlinie zwischen radikalen, sprich terroristischen Bandenmitgliedern und solchen zu ziehen, für die sich der Widerstand gegen die "Besatzer" aus der Tradition Falludschas ergibt. Die gängige westliche Rhethorik wirft hier alles zusammen: Terroristen, islamistische Hooligans aus der internationalen Dschahdi-Bewegung, Kriminelle und solche, die, für uns unverständlich, aber ihrer der lokalen Tradition gemäß, lieber für eine islamische Ordnung und islamisches Gesetz eintreten als für demokratische Verhältnisse westlicher Prägung.
"Obszöne Forderungen"
Im Feuergefecht sind solche Unterscheidungen nicht mehr zu treffen. Die ist Sache der Politik, die eigentlich verhindern soll, dass Konflikte in kriegerischer Gewalt ausarten. Das gilt selbsverständlich für beide Seiten. Nach Informationen eines irakischen Bloggers war das "Friedensangebot", das die Unterhändler aus Falludscha der irakischen Regierung unterbreitet haben, "obszön" und ein deutliches Zeichen für das "Sektierertum" und den "Regionalismus" der bewaffneten Gruppen dieser Region:
A clear timetable for the withdrawal of foreign occupation forces (fair enough).
Immediate withdrawal of US and Iraqi security forces from the Anbar governorate and the handover of security responsibilities to former army officers from Anbar.
The appointment of ministers from the Anbar governorate to the ministries of Interior, Defense, Oil and Finance
The removal of certain officials (most of them from Shi'ite Islamic parties such as Ibrahim Al-Ja'fari) from governmental positions.
The complete return of Ba'athists, army officers, Republican Guards, Mukhabarat, intelligence and security personnel to their former positions
The removal of Shi'ite Edhan (call for prayers) from official television and radio programs.
Incomes of Shi'ite sacred shrines should be returned under the control of the Ministry of Endowments and Religious Affairs.
Diese Forderungen, die nach Informationen des Bloggers in den letzten Tagen durchgesickert sind, sind deutlich so formuliert, dass sie kein Friedensangebot darstellen, sondern vielmehr den Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten noch weiter schüren wollen und darüber hinaus wollen sie die Ohnmacht der derzeitigen Regierung noch weiter perpetuieren. Sie waren entsprechend weder für Allawi, noch für die Regierungsvertreter der Schiiten akzeptabel. Die Frage ist, ob sich innerhalb der Stammesführer, die in Falludscha und anderen Städten des sunnitischen Dreiecks traditionell über starke Machtbasen verfügen, solche finden, die politisch akzeptable Forderungen stellen und diese gegen die militanten Dschihadis auch durchsetzen können, dann gäbe es, eine wenn auch vage Möglichkeit, die Situation im Irak so zu kippen, dass den radikalen terroristischen Gruppierungen der Nährboden entzogen wird.