Der Krieg der Sterne
Der NATO-Spion - Teil 1
In der Reagan-Ära kam die Welt dem Atomkrieg mindestens so nahe wie in der Kuba-Krise. Erst in den letzten Jahren zeichnete sich ab, was sich tatsächlich insbesondere im Herbst 1983 hinter den Kulissen abspielte, als die Strategen im Osten einen unmittelbar drohenden Erstschlag für eine Frage von Tagen hielten. Die damals dem Westen verborgene Nervosität der Sowjets, die sich auf das Signal zum Gegenschlag einstellten, vermochten Agenten im Westen zu kühlen. Entscheidende Bedeutung hatten die umfangreichen NATO-Leaks des deutschen Agenten TOPAS.
In den politisch besonders aufgeladenen 60ern verfolgte der Ökonomiestudent Rainer Rupp mit Entsetzen das Abschlachten im Vietnamkrieg sowie das Erstarken der Rechten, die sich offen an der Mainzer Universität präsentierten. Zwei Jahrzehnte nach dem Weltkrieg war etwa die NPD in Hessen und Bayern sogar im Landtag vertreten. Nach einer Demonstration gegen die Notstandsgesetze war Rupp 1967 mit einer Gruppe Studenten in eine Mainzer Gaststätte eingekehrt, wo ihnen ein Fremder vom Nebentisch spontan bei der Zeche aushalf, als das Geld nicht ganz reichte. Der Fremde war ein verdeckter Kurier und Werber der Ostberliner "Hauptverwaltung Aufklärung", der auf "Talentsuche" war. Die beiden kamen ins Gespräch und nach fast einem Jahr war der politisch interessierte Student soweit, dass er ohne Gefahr gefragt werden konnte, ob er etwas für die DDR und den Frieden tun wolle.
Rupp hatte zur DDR durchaus ein kritisches Verhältnis. "Bei euch würde ich wahrscheinlich auch im Gefängnis sitzen!" hatte er seinen Kontaktmann unverblümt wissen lassen. Doch der Marxist Rupp bewertete die DDR dennoch als das bessere Deutschland. Zum einen, weil dort die Vergesellschaftung der Produktionsmittel bereits vollzogen worden war. Zum andern, weil in Westdeutschland die Eliten aus dem Dritten Reich in höchste Positionen gelangt waren, während sich die politische Führung der DDR seinerzeit u.a. aus ehemaligen KZ-Häftlingen und anderen gestandenen Anti-Faschisten zusammen setzte. Bis zuletzt hatte Rupp gehofft, dass auch in Ostdeutschland eines Tages wirklich demokratische Strukturen Platz greifen würden.
So ließ sich der Student auf den Kontakt zum Ministerium für Staatssicherheit ein, besuchte mehrfach konspirativ die DDR und wurde zu einem "Kundschafter des Friedens", wie die für das Ausland zuständige Abteilung "Hauptverwaltung Aufklärung (HV A)" ihre insgesamt ca. 4.000 Zuträger nannte. Bei Besuchen in Ostberlin erhielt er eine Ausbildung in den Regeln der Konspiration, die er später bei seinen Agententreffs diszipliniert einhielt. Auch in der HV A war den Auswertern von Rupps Material dessen Identität vorenthalten worden - eine sinnvolle Maßnahme, wie sich Jahrzehnte später zeigen würde.
Brüssel
Anders, als gelegentlich berichtet wird, war die Unterwanderung der NATO durch Rupp nicht das Ziel des des DDR-Gheimdienstes gewesen. Ein Großteil geheimdienstlicher Erkenntnisse sind wirtschaftlicher Natur. Geheimdienstchef Markus Wolf etwa resümierte sogar einmal, der größte praktische Nutzen seiner Arbeit sei die Wirtschaftsspionage gewesen. Wolf wollte Rupp langfristig in der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft platzieren, weshalb der Perspektivagent nach Brüssel beordert wurde, wo sich die Chance zum "local hire" bieten sollte. Zuerst arbeitete Rupp als wissenschaftlicher Mitarbeiter der DULBEA (Abteilung für angewandte Ökonomie der Freien Universität Brüssel), dann als rechte Hand des Chefs und Gründers der "International Relations Consulting (IRELCO)", das erste Lobby-Unternehmen zur Europäischen Gemeinschaft, das großen Konzernen aus Deutschland und den USA die Türen zu den Top-Etagen der Euro-Bürokratie in Brüssel öffnete. Als nächstes wurde er Director der Abteilung für Industrieforschung (industrial research) der Handelsbank CEDIF mit Sitz in Brüssel. Merchant Banking machte sich im Lebenslauf unverdächtiger als etwa offenes linkspolitisches Engagement, auf das er auf Bitten von Ostberlin bereits als Student verzichten musste. So wurde der Marxist ausgerechnet Abteilungsleiter in einer Handelsbank, die im Auftrag britischer Unternehmen im Vorfeld des EU-Beitritts geeignete strategische Partner auf dem "Kontinent" suchte.
Eines Tages machte ihn seine Frau Christine-Ann, die für die britische Delegation bei der NATO arbeitete, auf eine Stellenausschreibung der NATO aufmerksam. Obwohl er sich nichts davon erhoffte, bewarb er sich ohne Rücksprache mit Ostberlin um die Stelle. Der Bewerbung folgte eine verdeckte Sicherheitsüberprüfung seines Umfeldes durch die Dienste. Nach knapp einem Jahr erhielt Rupp die Einladung zu schriftlichen Prüfungen, dem wieder einige Monate später ein Vorsprechen vor einer NATO-Kommission folgte. Obwohl er nicht den Rückenwind eines Ministeriums oder eines Dienstes genoss, konnte sich Rupp aufgrund seiner Qualifikationen und Talente gegen 73 Mitbewerber durchsetzen. Dass es doch ein Ministerium gab, dem Rupp verpflichtet war, nämlich dem für Staatssicherheit der DDR, vermochte damals niemand zu ahnen. Ost-Berlin war von dem Bewerbungserfolg in Brüssel gleichermaßen überrascht wie euphorisch.
NATO-Hauptquartier
Die NATO, die als solche nicht militärisch, sondern als politische Organisation aufgebaut ist, gliederte sich damals in vier Hauptabteilungen (Divisions): "Political Affairs", "Plans and Policy", "Defence Support" und"Scientific Affairs". Rupp arbeitete in der Politischen Abteilung im Wirtschaftsdirektorat, das wiederum in eine "Sektion Östliche Länder" und "NATO-Länder" aufgeteilt war. In letzter begann der Agent am 15.01.1977 als Country-Rapporteur seine Arbeit, wo sein ökonomischer Sachverstand gefragt war. Die NATO Country Section arbeitete eng mit der "Defense Planning Division" zusammen, so dass Rupp bereits dort Zugang zur Verteidigungsplanung der NATO mit dem Status "Confidential" bis "Secret" hatte.
Der weltgewandte Agent lernte alsbald, wie der komplexe NATO-Apparat intern funktionierte und baute sich ein breites Kontaktnetz auf, sodass er sich bald einen Ruf als flexibler Kopf erwarb, der Aufgaben effizient und schnell zu lösen verstand. Der ehrgeizige NATO-Mann hielt Vorträge vor hochrangigem Publikum und unternahm häufig Dienstreisen ins Ausland. Seine Beiträge und Analysen waren gefragt, so auch im hauseigenen NATO-Brief. Schließlich erhielt Rupp die "NATO-Top Cosmic Top Secret Clearance", also den Zugang zu den sensibelsten NATO-Dokumenten.
Die von Rupp beschafften Dokumente wurden in Ostberlin anonymisiert und vom Englischen ins Deutsche übertragen. Besonders wertvolle Informationen wurden auch ins Russische übersetzt und von höchster Stelle oft persönlich nach Moskau gebracht. Die Sowjets bekamen jedoch immer nur eine Übersetzung. Das Material hätte seinem Inhalt nach aus vielen Richtungen kommen können. Unmittelbare Kopien von Originaldokumenten gab Ostberlin nicht weiter, schon weil unauffällige Markierungen deren Herkunftsweg hätten verraten können. Rupp lieferte nichts Geringeres als den NATO-Doppelbeschluss an die HV A, die ihn an die Sowjets weitergab und den Ostberlinern damit den Respekt des KGB einbrachte. Eine Unterbrechung der Zusammenarbeit mit Rupp erfolgte 1978, nachdem Geheimdienstchef Markus Wolf von einem Überläufer auf einem unerwarteten Überwachungsfoto identifiziert worden war, was eine allgemeine Sorge um die Sicherheit der Agenten ausgelöst hatte.
Rupp erwarb sich über seine Abteilung hinaus einen Ruf als flexibler Troubleshooter, so dass ihm immer neue Aufgaben angetragen wurden.
SDI
Anfang 1983 verkündete Präsident Reagan seine Strategic Defense Initiative (SDI), mit der er das aus ballistischen Interkontinentalraketen bestehende, nukleare Abschreckungspotential des "Reichs des Bösen" zu neutralisieren versprach. Die Sowjets nahmen das Star Wars-Programm todernst und sahen hierin eine klare Bedrohung für das nukleare Gleichgewicht. In Verbindung mit dem von Washingtoner Falken seit Anfang der 80er Jahren propagierten nuklearen Enthauptungsschlag, der durch die zielgenauen Mittelstrecken vom Typ Pershing II im Rahmen der so genannten nuklearen Modernisierung der NATO geplant war, wäre durch ein funktionierendes SDI die Zweitschlagskapazität der Sowjets hinfällig geworden, mit weitreichenden Folgen für die Sowjetunion.
Zu der Zeit war der Beisitzende Generalsekretär für Rüstung (Assistant Secretary General for Defence Support) im NATO-Hauptquartier mit der Gründung einer Arbeitsgruppe befasst, um die Mitarbeit anderer NATO-Länder bei der Entwicklung von SDI zu koordinieren. Rupp sollte mit seinem ökonomischen und strategischen Sachverstand als Vertreter der Political Affairs Division an dieser Arbeitsgruppe teilnehmen. Damit wurde Rupp mit einer Aufgabe betraut, welche das damals wohl brisanteste militärische Staatsgeheimnis betraf.
Rupp zeigte sich an der neuen Aufgabe desinteressiert und bat sich aus, in Washington zwei Wochen lang die wichtigsten SDI-Experten befragen zu können, damit er - auf diese Weise umfassend informiert - den an ihn gestellten Erwartungen in der SDI-Arbeitsgruppe gerecht werden könne. Die US-NATO-Botschaft in Brüssel übernahm dabei die Aufgabe, in Washington für Rupp die Termine mit den SDI-Spezialisten festzumachen. Während dieser Dienstreise erfuhr Rupp, dass viele der massgeblichen SDI-Experten der Durchführbarkeit des Star-Wars-Systems ob der vielen technischen Schwierigkeiten sehr kritisch gegenüber standen oder es schlichtweg für unmöglich hielten, was sie auch im Detail begründen konnten. Rupp begriff schnell, dass die ehrgeizigen Star Wars-Pläne des Hollywood-Präsidenten eine technische Utopie waren, die bis heute trotz aller technologischen Fortschritte nicht realisiert werden konnte und bewertete SDI als psychologische Kriegsführung.
Es spricht vieles dafür, dass es Rupps Informationen waren, welche in Moskau die anfängliche Hysterie vor dem Schreckgespenst SDI abgeschwächt haben.
China
Als die Nachfolge für den gerade pensionierten Sekretär des NATO-China-Ausschusses vakant wurde, lehnte Rupp diese Mehrarbeit ebenfalls zunächst aus taktischen Gründen ab, obwohl er stets von China fasziniert war und zudem seine Auftraggeber im Osten auf Wunsch Moskaus dringend Informationen über eine angebliche militärische Zusammenarbeit der Volksrepublik China mit den USA suchten. Als Vorbedingung für die Übernahme der zusätzlichen Arbeit setzte er wieder ein zweiwöchiges "Praktikum" durch, um in Washington mit allen auf dem Gebiet kompetenten Leuten zu sprechen, weil er sich so am besten und schnellsten in die Materie einarbeiten könnte. Ostberlin hatte fortan einen denkbar gut informierten China-Experten, der insbesondere über die Beziehungen zwischen Washington und Peking berichten konnte.
Doppelagent
In den verschiedenen NATO-Ausschüssen, einschließlich DPC (Verteidigungsplanungsausschuss) und NC (NATO-Rat), in denen Rupp regelmäßig mitarbeitete, befasst er sich auch mit Analysen, die sowohl militärische Schwächen als auch Stärken der NATO und des Warschauer Vertrags betrafen, sodass die Strategen im Osten stets aus erster Hand über die Lage in der NATO informiert waren waren. Rupp machte sogar Propaganda für die NATO, als er Mitte der 80er Jahre an dem Streitkräftevergleich zwischen NATO und dem Warschauer Vertrag mitarbeitete, bei dem das westliche Bündnis die Bedrohung durch den Osten maßlos übertrieb, indem z.B. die Anzahl der sowjetischen Panzer auf "50.000" geschätzt wurde. Tatsächlich hatte die NATO damals Zehntausende von teils längst verrosteten Tanks aus dem ersten und zweiten Weltkrieg mitgezählt. Sogar Traktoren waren erfasst worden, weil diese auf Panzer-Chassis montiert waren.
Die HV A-Führung schottete die Identität von Rupp auch nach innen nach Möglichkeit ab. Nachdem sich eine andere Agentin, Ursel Lorenzen, in die DDR abgesetzt hatte, legte die HV A aus Gründen der Tarnung eine Fehlspur. Man änderte zu diesem Zeitpunkt Rupps ursprünglichen Tarnnamen "Mosel", der zudem Aufschluss auf seine Herkunft hätte geben können, sodass für Uneingeweihte der Eindruck entstand, das "Mosel-Material" stamme von Lorenzen. Der wertvoll gewordene Agent wurde zu "TOPAS", seine Frau Anne-Christin zu "TÜRKIS".
Tatsächlich war "TOPAS" das Juwel in der Krone von Markus Wolfs Auslandsspionagenetz: So urteilte etwa das Landgericht Düsseldorf später, Rupps Informationen wären im Spannungsfall "kriegsentscheidend" gewesen. Der Staatsanwalt sah die Russen bereits nach wenigen Tagen am Atlantik. Rupp quittiert derartiges mit weisem Kopfschütteln, denn wäre es zum Krieg gekommen, dann wäre jedenfalls vom europäischen Kriegsschauplatz nicht mehr viel übrig geblieben. Es sei schließlich nicht darum gegangen, entscheidende Vorteile für einen Krieg zu erreichen, sondern einen Krieg zu verhindern, was jedoch im deutschen Strafrecht nur rudimentär als Tugend gilt. In einem Nuklearkrieg hätte es nur Verlierer und keine Gewinner gegeben - und insbesondere kein Landgericht Düsseldorf mehr, das feinsinnige Theorien hierüber hätte anstellen können.
Die entscheidendsten Informationen, die Rupp an den Osten geliefert hatte, betrafen jedoch nicht militärische Sandkastenspiele wie den von ihm gelieferten Nato-Doppelbeschluss und das Dokument MC161, wie es eine ARD-Dokumentation nahe legt, sondern die Klärung der damals dringendsten politischen Frage: Plante Reagan einen nuklearen Überraschungskrieg? Davon jedenfalls waren KGB und sowjetische Führung überzeugt - und zur sofortigen Vergeltung gewillt.
Teil 2: Das nukleare Gleichgewicht