Der "Kulturkampf" geht weiter
CSU zwischen Leit-, Leid- und Leihkultur
Auf dem 65. CSU-Parteitag bescheinigte jetzt CDU-Chefin Angela Merkel Kanzler Schröder: So wie er vor zehn Jahren gegen die Wiedervereinigung gewesen sei, würge er nun eine spannende Diskussion um eine Leitkultur ab. Die Sozialdemokraten seien unfähig, mit diesem Thema etwas anzufangen.
Nun kann die Diskussion um die Leitkultur, die seit dem Wort von Friedrich Merz durch die Medien plätschert, wohl noch nicht selbst den Anspruch auf diese einlösen und allzu spannend war es bisher auch nicht, soweit man nicht die kampffreudige Besetzung des wohlfeilen Blankettbegriffs "Kultur" im Parteiinteresse dafür ansehen will. Frau Merkels Bemerkung spricht immerhin dafür, dass es keine sozialdemokratische, wohl aber eine christliche Leitkultur gibt. Das verwundert indes wenig, da nun das Christentum eine mächtige kulturelle Kraft - im Guten wie im Bösen - gewesen ist, während die Sozialdemokratie entschieden weniger Vorlauf hatte, um auf eine konkurrenzfähige Kulturgeschichte zu verweisen.
Aber so weit scheint der politische Anspruch der Leitkultur noch doch nicht zu reichen. CSU-Fraktionsvorsitzender Alois Glück hat bereits im Juni 1999 das christliche Leiden an der Leitkultur noch etwas konkreter gefasst. So sei nach Glück die Verhöhnung christlicher Symbole weitgehend durch die höchstrichterliche Rechtsprechung abgesichert, während es ein grenzenloser Skandal wäre, wenn andere Religionsgemeinschaften so getroffen würden. Zumindest die Tatbestände des deutschen Strafgesetzbuchs scheinen aber von dieser, dem Fraktionsvorsitzenden der CSU bekannten Rechtsprechung weniger beeinflusst zu sein.
Kultur hat sich seit je der Grenzziehung verweigert und vielleicht liegt hier ihre Definition. Als Festbankettsbegriff, als Glasur für Ehrungen und Jubiläen hat uns die Kultur zwar wenigstens für einige rhetorische Feierminuten mit dem Weltelend versöhnt. Aber wer hätte dieses Kulturgebläse je zum Anlass genommen, justiziable Profile für Einbürgerungen daraus abzuleiten? Die Einbürgerung in Deutschland schließt nicht zur Kultur der Klassiker auf, sondern bescheinigt kulturell wenig mehr als die Kompetenz, "BILD" auch mit fragilen Sprachkenntnissen zu bewältigen - mehr braucht es ohnedies nicht - und im Übrigen nicht auf die Verfassung zu spucken. Auch wenn das Grundgesetz als Verfassungsleitkultur nobilitiert wird, bietet das noch lange keinen schlüssigen Kanon leitkultivierter Koexistenzen zwischen Döner Kebab und Würstchenbude, Islam und Christentum oder Perry Rhodan und Schiller.
Stoiber verkündete auf dem 65. CSU-Parteitag: "Wir wollen keine unbegrenzte Zuwanderung und keine multikulturelle Gesellschaft." Des Menschen Wille ist nicht nur in Bayern sein Himmelreich, aber was wäre, wenn sich die multikulturelle Gesellschaft jenseits christlich-sozialer Parteitagswünsche längst unverordnet vollzieht? Ist deutsche Leitkultur dieser Tage die Kultur, die dann übrig bleibt, wenn Goethe & Co., geteilt durch Big Brother, ins Quadrat zu Heidi Klum und Jenny Elvers gesetzt wird? Rein rechnerisch läge das irgendwo zwischen den Gebrüdern Grimm, Sauerkraut und Pizza, die Umfrageergebnissen nach inzwischen der Deutschen liebste Speise ist. Sind die Krauts, die indes das Sauerkraut längst verschmähen, also schon so multikultifit, wie wir es nach Last-Minute-Stays in Mallorca, Antalya und Disney World immer zu glauben gewagt haben? Oder mieten sich Deutsche nur touristisch in fremde Spaßkulturen ein und versagen sich für den Rest des Jahres den fremden Leitkulturen? Das spräche noch nicht für die Leitfähigkeit der eigenen Kultur, sondern eher für die Beliebigkeit der Kulturaneignung.
Just jene, die Weltkultur oder wenigstens europäische Kultur proklamieren, reklamieren andererseits die Bedeutung partikularer und regionaler Kulturen. Also Hamlet nicht ohne Herzilein! Der kulturelle Formelkompromiss mag als Bindungsmasse für quasikonstitutionelle Erklärungen eines Europas der Kulturen oder für das Tränen der Völkerversöhnung auslösende Weltkulturerbe reichen. Aber was heißt das in praxi? Kultur lässt sich inzwischen weltweit besorgen, weder Napster noch Gnutella etikettieren ihren fröhlichen Kulturaustausch mit dem Gütesiegel der Leitkultur. Wer heute "yahoot", hofft morgen mehr vom globalkulturellen Leben zu haben, als ihm der mehr oder wenige schmackhafte Eintopf "Made in Germany" bieten kann.
Indem sich Kultur von ihrem hehren, aber unverbindlichen Piedestal entfernt, um sich unter anderem zu einem elektronischen Beschaffungsproblem zu verändern, entsteht mehr Hoffnung auf kulturelle Freiheit, als es die hochmögende Patriarchatskultur ewiger Werte je vermitteln konnte. Kulturelle Angebote werden tendenziell nicht nur weltweit genutzt, sondern es gibt auch eine kulturelle Weltgesellschaft, die eben jenseits nationalstaatlicher Kulturen miteinander kommuniziert. Noch ist die eilige Kommunion zwar ein Privileg, das höchst asymmetrisch über Bildungsniveaus und Reichtum dieser Welt verteilt ist. Aber welche Leitkultur will sich der globalen Beschleunigung dauerhaft in den Weg stellen? Auch wenn die vernetzte Globalkultur sich nicht zuletzt aus Einzelkulturen und ihren Meisterköpfen speist, wird "cross-over" zum Standard der Kulturaneignung.
Hinter dem diffusen Bild der Leitkultur steckt dagegen die wachsende Angst vor Identitätsverlusten, ohne freilich zu erkennen, dass die ach so reine Kultur nie existierte und kultureller Inzest eben in die Kulturlosigkeit führt. So war das römische Imperium eher eine griechische Leihkultur als eine Leitkultur, was Rom indes nicht daran hinderte, zur Weltmacht zu avancieren. In Erlebniskulturen nimmt der Hunger nach leitkultivierter Identität ab, Ereignisse treten an die Stelle von Identitäten. Da etwa die Technogeneration keine kulturelle Identität sucht, sondern ein Lebensgefühl, klingt Stoibers Drohung, die CSU werde die rot-grüne Regierung zu einer Diskussion über "Leitkultur" zwingen, wenig mehr als hilflos bis paternalistisch. Das Leitkulturgerede verdeckt, dass Inhalte nicht aufgedrängt werden können, wenn es längst keine Abnehmer mehr gibt. Eine Leitkultur ist mithin nur so stark wie die kulturelle Praxis, die sie vorlebt. Dass die bundesrepublikanische Leitkultur hier neuen Hochzeiten entgegenschreitet, ist angesichts der nicht nur von Politikern demonstrierten Hilflosigkeit ihrer eigenen kulturellen Selbstbestimmung unwahrscheinlich.
Wer möchte noch auf die Frage, was denn typisch deutsche Kultur sei, einfache Antworten geben? Die Gemischtwarenangebote zwischen Goethe und Kartoffelpuffern sind vor allem deshalb so nichts sagend, weil das Typische noch lange keine erhaltenswürdige Kultur ist und die hochwertige E-Kultur andererseits meist ohne lesbare Bedienungsanleitung von Generation zu Generation weiter gereicht wird. "Ist Faust noch zeitgemäß?" und ähnlich aufregende Kulturdiskursaufforderungen beinhalten bereits die Bankrotterklärung, der sie doch so gerne entrinnen würden.
Gegenüber dem Mumifizierungsversuch von mehr oder weniger edlen Leitfossilien der deutschen Kulturnation wäre es vorzugswürdig, diese gleich in den großen, großen Worldwhirlpool hineinzumixen. Die Kraft einer Kultur erwiese sich dann nicht im Gütesiegel, das unsere nationalen Kulturauguren verhängen, wenn es erhaben aus dem dunklen Deutschen Wald rauscht, sondern in Dialog, Polylog oder Kampf von Kulturen und Kultürchen. Starkdeutsch oder dummdeutsch sollen dann die user der virtual society, der Gesellschaft für humanen Kulturkannibalismus, entscheiden. Ein Kulturkampf wird ohnehin nicht daraus, weil den Kulturen ihre Beliebigkeit kaum mehr auszutreiben sein wird.
Möge die deutsche Bildungs- und Kulturpolitik an ihren - im Weltmaßstab betrachtet - Saumseligkeiten arbeiten, mögen die Spendensümpfe urbar gemacht werden, mögen die Renten gesichert werden: Mit der Leitkultur machen wir es uns dann nach Feierabend gemütlich! Auch wenn wir den absehbaren Erfolg als Unwort des Jahres nicht beschwören wollen, orakeln mir mal: Die deutsche Leitkultur fällt heute aus, morgen ist der Begriff schon nicht mehr im Wörterbuch des Kulturmenschen und übermorgen ist über allen Wipfeln Ruh'.