Der Leser im Netz

Reinhard Kaisers "Literarische Spaziergänge im Internet"

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Wer gerne liest, braucht Bücher. Wer Bücher sucht, braucht eine Bibliothek. Das Netz braucht er nicht. Reinhard Kaiser ist ein Leser, der das Internet auf der Suche nach Büchern und Bibliotheken durchstreift hat. Sein Reisebericht hinterfragt den Mythos vom Internet als Fundgrube für Bibliophile.

Ich suche nicht, ich finde.

Picasso

Das Internet ist die vielleicht umfassendste Datensammlung aller Zeiten. Geht der momentane Trend zur Digitalisierung all dessen weiter, was sich seiner Übersetzung in Bits und Bytes gegenüber nicht als inkommensurabel erweist, so könnte dereinst das gesamte menschliche Wissen im Netz verfügbar sein. Dann, so seine Apologeten, wird der Cyberspace zu einer gigantischen, ja schlechthin universalen Bibliothek.

Alles Unsinn, meinen Kritiker. Die Menge der Daten bürgt schließlich noch nicht für ihre Qualität. Und um als Bibliothek zu fungieren, fehlen dem Internet zumindest zweierlei: ein brauchbarer Katalog - und Bücher.

Stimmt doch gar nicht, so wiederum die Befürworter - und verweisen auf die Vielzahl der Suchmaschinen und ihre immer weiter verbesserte Funktionalität einerseits, und die wachsende Zahl der bereits ins elektronische Regal übersetzen Bücher. Mit den Suchmaschinen ist das so eine Sache: meist helfen sie weiter, zweifellos. Oft aber fängt mit der Masse der angezeigten Hits die eigentliche Suche ja erst an. Und hier ist zumindest noch recht viel an innovativer und phantasievoller Programmierarbeit zu leisten.

Mit den Büchern ist das eine andere Sache. Da gibt es zum Beispiel das ehrgeizige Gutenberg-Projekt, in dessen Rahmen bis zum Jahr 2001 zehntausend Bücher digital eingelesen und ins Netz gestellt werden sollen. Das klingt nicht schlecht - und doch hat Clifford Stoll an dieser Stelle recht, der in seinem Bericht aus der Wüste Internet schreibt, daß er dabei "noch ungefähr zehn Millionen Bände" vermißt. Das ist natürlich kein Grund, sich über die Anstrengungen, die hinter dem Projekt stecken, lustig zu machen. Und es ist nicht nur wahrscheinlich, daß eines Tages die Bestände ganzer Bibliotheken tatsächlich online abrufbar sind, denn es ist ja bereits heute eine Erleichterung, in den Katalogen einiger schon vernetzter Bibliotheken stöbern zu können, ohne sich um zeitliche oder räumliche Begrenzungen kümmern zu müssen. (Ein Verzeichnis der online-abfragbaren Bibliotheken im deutschsprachigen Raum findet man auf dem Server der Uni-Hannover.)

Das Problem steckt vielmehr woanders. Es steckt im Versuch, Dinge zu vergleichen, die bei genauem Hinsehen zu verschieden sind, um den Vergleich sinnvoll zu machen - wie das Internet und eine Bibliothek; und es steckt in dem wertenden, ja moralischen Unterton, der diesen Versuch eines unmöglichen Vergleichs beiderseits immer wieder begleitet.

Wer gerne Bücher liest, braucht das Internet nicht - so wenig wie der, der Bücher schreibt, einen Computer braucht: Mit dieser Feststellung beginnt Reinhard Kaiser den Bericht über seine Literarischen Spaziergänge im Internet. Bereits der Titel ist programmatisch gewählt. Als guter Leser setzt Kaiser ein Lob der Langsamkeit gegen das technophile Ideal der Schnelligkeit, das der Websurfer verficht, und das doch allzu oft auf Kosten des Inhalts geht.

Überhaupt der Leser: Er ist, so Kaiser, dem nicht-lesenden Netznutzer zumindest in einem entscheidenden Punkt überlegen. Er bewegt sich schon immer in virtuellen Welten und hat gelernt, zwischen Schein und Wirklichkeit ebenso zu unterscheiden wie mit den Gefahren der Isolierung umzugehen. Vor allem aber hat er gelernt, mit den Kritikern umzugehen, die - und Kasier erinnert hier an Parallelen zwischen der Kritik am Roman gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts und der gegenwärtigen Kritik am Cyberspace - ihm Realitätsflucht und Vereinsamung vorwerfen. Derart gewappnet, trifft der Leser, der die Netzwelt das erste Mal betritt, zunächst eine alte Bekannte - die "schöne, schreckliche Unergründlichkeit", die er aus den Magazinen der Bibliotheken kennt: "Wem davor graust", so Kasier, "der braucht nicht einzutreten". Das gilt nun tatsächlich für Bibliotheken ebenso wie fürs Netz.

Und Kaiser räumt mit dieser Feststellung zugleich einen Mythos aus dem Wege - den der durch die Netzwelt in die Welt gesetzten Informationsflut; denn: "Information ist immer Flut, und den, der sich nicht zu orientieren weiß, wird sie überfluten". Anders als der Leser in seinen Bibliotheken allerdings kann sich der Wanderer im Cyberspace eben nicht auf die Orientierungshilfen eines sorgfältig aktualisierten Gesamtkatalogs oder gar eines kundigen Bibliothekars stützen; und anders als Bibliotheken ist das Internet nun einmal bereits in seiner Grundstruktur chaotisch. Deswegen, so Kaiser, ist es denn auch am Ende alles andere als eine elektronische Art von Bibliothek - und gleicht eher einem orientalischen Basar.

Kaiser, der seine Spaziergänge mit einer schönen Mischung aus berechtigter Skepsis und professioneller Neugierde am Internet unternimmt, hat seinen kritischen Reflexionen zu Beginn des Bandes eine kleine Einführung ins Internet nachgestellt, die es dem Netz bislang noch unvertrauten Lesern leicht machen sollte, sich selber auf die Suche zu machen. Den größten Teil des Buches macht dann eine Auflistung literaturrelevanter Websites aus, die Kaiser auf dem Weg durchs Netz besucht und kritisch kommentiert hat. Eine solche Liste kann natürlich weder vollständig noch auf Dauer aktuell sein, und sie wird man einiges vermissen und sich über manche Broken Links ärgern - wie über den leider nicht länger unter der angegebenen Adresse erreichbaren zu den Faksimiles der Korrespondenz von Marcel Proust.

Die Vielzahl der Hinweise, die Kaiser gesammelt hat, und die Tatsache, daß sich in seiner Sammlung einige schöne und manche schräge Funde machen lassen, über die sonst wohl nur stolpert, wer nicht nach ihnen sucht, läßt eine Wanderung auf den Spuren seines Spaziergangs zu einer spannenden Reise werden.

Reinhard Kaiser: Literarische Spaziergänge im Internet. Bücher und Bibliotheken online, Eichborn Verlag. Frankfurt/Main 1996, 192 Seiten, DM 29,80