"Der Lockdown führt zu verzögerten Behandlungen von akuten Erkrankungen"

Seite 2: "Ein Thema ist dabei auch die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens"

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Was hat die Politik in den letzten 20 Jahren falsch gemacht? Vor allem bezüglich der Intensivmedizin und der Notbeatmungsmedizin?

Michael Pfeifer: Ich würde nicht von falsch gemacht sprechen - eher von Versäumnissen. Das betrifft vor allem das Problem der fehlenden Pflegekräfte. Obwohl das Problem schon seit Jahren bekannt ist, wurde es nicht mit der notwendigen Konsequenz angegangen. Ein Thema ist dabei auch die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens, die zu einer Verdichtung insbesondere der menschlichen Ressourcen geführt hat, sodass viele Mitarbeiter diesem Druck nicht mehr gewachsen waren und sind und daher in andere Berufe wechseln oder krank werden. Das ist vor allem im Bereich der Intensivmedizin zu einem brennenden Problem geworden.

Zudem schafft das System falsche Anreize zu Gunsten einer "Apparatemedizin" während die "sprechende" Medizin verloren hat.

Gibt es denn qualitative und quantitative Unterschiede zwischen den Bundesländern? Falls ja, woran liegt das?

Michael Pfeifer: Nein - da sind keine Unterschiede erkennbar ...

Welche Bundesländer sind am besten "aufgestellt" - auch vor Covid-19? Liegt nicht Bayern vor Berlin und Hamburg?

Michael Pfeifer: Unsere föderale Struktur sichert eine qualitative hohe Versorgungsqualität in allen Bundesländern.

"Die Erkrankungen der Lunge gehören zu den häufigsten Gründen für einen Arztbesuch"

Es gibt global erhebliche Differenzen bei den absoluten wie relativen Fall-, Mortalitäts- wie auch Genesungszahlen zwischen den Ländern und den Kontinenten? Ist das nur armuts- oder nicht auch organisationsbedingt wie in den USA?

Michael Pfeifer: Da spielen mehrere Faktoren eine Rolle. Es war zu Beginn der Pandemie die Wucht, wie diese Erkrankung in Italien und Frankreich aufgetreten ist. Da hatten wir in Deutschland mehr Zeit für die Vorbereitungen. Natürlich spielen die Ressourcen eines Gesundheitssystems, sowie der freie und gesicherte Zugang zur Gesundheitsversorgung, wie wir ihn kennen, eine enorm wichtige Rolle. So haben wir mit die höchsten Kapazitäten im Bereich der Intensivmedizin im Vergleich zu den anderen europäischen Staaten und konnten diese in einer kurzen Zeit noch erweitern.

Die richtigen politischen Entscheidungen zu Beginn der Pandemie in Deutschland, die wirtschaftliche Stärke und die dezentrale Struktur des öffentlichen Gesundheitsdienstes, die eine schnelle Reaktion auf das jeweilige regionale Infektionsgeschehen erlaubte, haben sicherlich dazu beigetragen, dass der Verlauf hierzulande im Vergleich zu anderen Ländern kontrollierter und nicht so schwer war.

Meinen Sie denn, dass das ganze bis 2021 ausgestanden ist, wie im Frühjahr fast alle prognostizierten wie Boris Johnson? Mittlerweile heißt es 2022 oder 2023 ...

Michael Pfeifer: Ich hoffe, dass wir spätestens im Laufe des ersten Halbjahres eine Impfung zu Verfügung haben und damit die Infektion kontrollieren können. Die ersten Informationen zu den klinischen Studien sind hoffnungsvoll. Trotzdem wird uns das Virus noch weiter beschäftigen - viele Fragen zur Impfung sind noch offen: Reagieren alle Menschen mit dem Aufbau einer Immunität? Gibt es Unterschiede zwischen den Altersklassen? Wie sind die Nebenwirkungen? Wie lange bleibt ein möglicher Impfschutz bestehen? ... und vieles mehr. Trotzdem bin ich mir sicher, dass wir eine Normalität, wenn auch eine neue Normalität haben werden.

Die Pneumologie ist vielen unbekannt, hat jedoch große Auswirkungen für sehr viele: von Asthmapatienten über Thrombose und Lungenembolie, Tbc, Apnoe, Bronchitis bis zu seltenen Erkrankungen und Alltagsbeschwerden. Werden solche Bereiche in der Medizin allgemein vernachlässigt?

Michael Pfeifer: Die Erkrankungen der Lunge gehören zu den häufigsten Gründen für einen Arztbesuch oder für eine Krankenhauseinweisung. Asthma bronchiale und COPD, aber auch die Lungenentzündung sind Volkskrankheiten. An der Tuberkulose versterben weltweit noch immer Millionen von Menschen, mehr als an jedem anderen Erreger. Lungenkrebs ist eine der häufigsten bösartigen Erkrankungen. Daneben erkranken die Menschen auch an vielen anderen, selteneren Lungenerkrankungen, für die wir heute effektive Therapien anbieten können.

Die Pneumologie ist heute auch in Deutschland, wie schon lange in anderen Ländern, nicht mehr aus der Intensivmedizin wegzudenken. Tatsächlich war nach dem Rückgang der Tuberkulose-Erkrankungen lange Jahre die Lungenheilkunde in der öffentlichen Wahrnehmung nicht so präsent wie die Kardiologie und Gastroenterologie. Die Gründe hierfür sind in der historisch bedingten geringen Präsenz der Pneumologie in den Universitäten zu suchen - ganz anders im weltweiten Ausland, wo selbstverständlich praktisch jede medizinische Universität einen Lehrstuhl für Pneumologie besitzt.

Die Themen der letzten Jahre, wie Umweltbelastung und Feinstaubdiskussion und jetzt die SARS-CoV-2-Pandemie, hat der Pneumologie in den Medien und damit in der Öffentlichkeit viel Aufmerksamkeit gegeben. Es wird unserer Forderung von Seiten der deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin nach mehr universitärer Präsenz mit eigenen Lehrstühlen mehr Nachdruck verleihen - damit Deutschland im europäischen und internationalen Vergleich nicht weiterhin einen der letzten Plätze belegt.