Der Nato-Vertrag ist kein Suizid-Pakt

Seite 2: Thinktank zügellos: "Werden Sie Russland jetzt bombardieren?"

Wiederholt ist seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine am 24. Februar von Artikel 5 des Nordatlantikpaktes die Rede. Ein Angriff auf ein Nato-Mitglied, heißt es dann, oft mit martialischem Unterton, werde eine Antwort aller Bündnisstaaten zur Folge haben. Zuletzt wurde dieses Szenario, darauf ging diese Kolumne gestern schon ein, nach dem Einschlag einer ukrainischen Luftabwehrrakete in Ostpolen angestrengt, die – nach vorliegenden Informationen fälschlicherweise – der russischen Kriegspartei zugeschrieben wurde.

Die ganze Debatte über eine mögliche militärische Nato-Reaktion bleibt seltsam im Vagen. Muss der Nordatlantikpakt bei einem Raketeneinschlag kollektiv zurückschlagen, bei einer Cyberattacke gar? Nichts davon! Denn der Artikel 5 des Nato-Vertrags ist eine Kann-Regelung, keine Muss-Klausel.

Es geht darum, Beistand zu leisten, "indem jede (Partei) unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet". Das scheint wichtig zu erwähnen. Um es klar zu sagen: Der genannte Artikel 5 ist keine kollektive Suizid-Klausel.

Das hat sich nicht überall herumgesprochen. Oder es wird schlichtweg geleugnet. Bestärkt wurde dieser Trend von US-Präsident Joseph Biden selbst, der im März in Polen betont hatte:

Wir haben eine heilige Verpflichtung gemäß Artikel 5, jeden Zentimeter des Nato-Territoriums mit der vollen Kraft unserer kollektiven Macht zu verteidigen.

Derartige Ankündigungen hallten nun nach. So schrieb Anders Åslund vom US-Thinktank Atlantic Council nach dem Raketenzwischenfall in Polen vergangene Woche:

Nun sind also russische Raketen in Polen eingeschlagen und haben zwei polnische Bürger getötet. Erstaunlich, dass dies angesichts des unverantwortlichen russischen Verhaltens nicht schon früher passiert ist. @POTUS: Sie haben versprochen, "jeden Zentimeter des Nato-Gebietes" zu verteidigen. Werden Sie Russland jetzt bombardieren?

Das estnische Außenministerium erklärte sich umgehend bereit, "jeden Zentimeter des Nato-Territoriums zu verteidigen".

Der lettische Verteidigungsminister Artis Pabriks erklärte auf dem Kurznachrichtendienst:

Das kriminelle russische Regime feuerte Raketen ab, die nicht nur auf ukrainische Zivilisten abzielten, sondern auch auf Nato-Territorium in Polen landeten. Lettland steht voll und ganz zu den polnischen Freunden und verurteilt dieses Verbrechen.

Während alle Einschätzungen dieser Spitzenpolitiker offenbar falsch waren, sorgte der ehemalige Nato-Oberbefehlshaber Wesley Clark auf CNN für Aufklärung. Der Artikel 5 sei "keine Verpflichtung, mit Gewalt zu reagieren. Es besagt, dass angemessen reagieren wird", so Clark.

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