"Der Papst hätte Hunderttausende retten können"

Seite 2: "Viele katholische Priester beteiligten sich an den Massenmorden"

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In Jugoslawien waren katholische Geistliche häufig an der Ermordung von Juden und Serben direkt beteiligt ...

Dirk Verhofstadt: Die Proklamation des unabhängigen Staates Kroatien wurde unverzüglich von den Bischöfen und dem katholischen Klerus unterstützt. Bereits in der ersten Woche nach der Machtübernahme verübten die katholischen Kroaten schreckliche Gewalttaten in den Regionen von Kordun, Bjelovar und in dem Dorf Glina. Sie zerstörten ganze Dörfer, zwangen Menschen, ihr eigenes Grab zu graben und begruben sie lebendig. Dass sogar die deutsche SS von der Brutalität des Regimes geschockt war, geht aus einem Polizeibericht vom Februar 1942 hervor.

Viele katholische Priester und Franziskaner beteiligten sich an den Razzien, Deportationen und Massenmorden mit Messern, Äxten und Fleischerhaken. Priester wie Antun Ðjuric, Božo Šimleša, Marko Cakušic, Ante Klaric, Dragutin Kamber, Branimir Župancic, Franjo Udovic, Marko Zovko und Mate Moguš übernahmen die Führung bei solchen Massakern. Gut eine halbe Million Serben, Juden, Sinti und Roma wurden deportiert oder in den vielen Konzentrationslagern des Landes getötet.

Wie hat der 1943 Papst auf die Judenvernichtung in Italien reagiert?

Dirk Verhofstadt: Als Edoardo Senatro, ein Korrespondent von L’Osservatore Romano, den Papst 1943 fragte, warum er nicht gegen die Vernichtung der italienischen Juden protestiert hatte, sagte Pius XII.: "Lieber Freund, vergessen Sie nicht, dass sich in der deutschen Armee Millionen Katholiken befinden. Soll ich sie in einen Gewissenskonflikt bringen?"

Können Sie mutmaßen, warum Mein Kampf, anders als die Schriften von Descartes, Spinoza, Cervantes und Balzac niemals auf dem Index der katholischen Kirche gelandet ist?

Dirk Verhofstadt: Nein, aber es ist besonders bizarr. Mein Kampf von Adolf Hitler kam nie auf den Index der verbotenen Bücher. Selbst nicht 1948, als die Indexkommission noch einmal ihre schwarze Liste ergänzte, unter anderem um die Méditations von René Descartes, den Lettres Persanes von Charles Montesquieu und Le Rouge et le Noir von Stendhal.

Der Vatikan hat alle Katholiken, die mit Kommunisten zusammenarbeiten mit Exkommunikation gedroht. Wie viele hochrangige Nazis und Judenmörder hat die katholische Kirche exkommuniziert?

Dirk Verhofstadt: Es ist tatsächlich überraschend, dass die Kirche nie einen hochrangigen Nazi exkommuniziert hat. Nicht Adolf Hitler, Heinrich Himmler, Hermann Göring, Joseph Goebbels, Martin Bormann, Julius Streicher, Adolf Eichmann, Josef Mengele und andere Naziverbrecher. Anstatt diese Massenmörder zu verurteilen, spielten kirchliche Würdenträger eine besonders dubiose Rolle bei der Flucht von Nazis und anderen faschistischen Führern nach Lateinamerika oder in den Nahen Osten.

"Der Vatikan half Kriegsverbrechern"

Welchen Naziverbrechern hat denn die katholische Kirche nach dem II. Weltkrieg geholfen unterzutauchen?

Dirk Verhofstadt: Wir sind sicher, dass die Kirche NS-Verbrecher Franz Stangl (Kommandant der Vernichtungslager Sobibór und Treblinka), Eduard Roschmann (dem zweiten Kommandanten des Ghettos von Riga), Otto von Wächter (Vizegouverneur von Polen), und Ante Pavelic (Führer von Kroatien) zur Flucht verholfen hat. Außerdem gibt es den starken Verdacht, dass sie bei Adolf Eichmann, Erich Priebke, Walter Rauff, Gustav Wagner, Alois Brunner und Josef Mengele das gleiche getan hat. Pius XII. war sich ihrer Verbrechen sehr wohl bewusst, wie sie unter anderem von Pavelic begangen worden sind.

Der Vatikan half also Kriegsverbrechern und missbrauchte seine diplomatischen Privilegien. Ohne den Schutz des Vatikans hätten die "Rattenlinien" nicht existiert und die Massenmörder hätten sich für ihre Handlungen vor einem internationalen Gericht, wie in Nürnberg, verantworten müssen.

"Faulhaber war tief von Hitler beeindruckt"

In München existiert bis zum heutigen Tag eine Kardinal-Faulhaber-Straße. Welche Rolle spielte dieser Kardinal während des Faschismus?

Dirk Verhofstadt: Ursprünglich kritisierte Faulhaber Hitler, aber nach der Übernahme der Macht wurde er zu seinem Anhänger, vor allem wegen seiner Abneigung gegen den Bolschewismus. Am 17. März 1933, schickte Faulhaber einen Brief an den Führer, in welchem er ihm seinen Dank aussprach für "sein Lebenswerk, um den Marxismus in allen Formen, und besonders den Kommunismus, als Grundsatz für die Organisation der Wirtschaft und des Staates zu zerstören".

Weiter schrieb er am 24. Juli 1933 einen persönlichen Brief an Hitler und gratulierte ihm zu dem Konkordat: "Was die alten Parlamente und Parteien in 60 Jahren nicht fertig brachten, hat Ihr staatsmännischer Weitblick in 6 Monaten weltgeschichtlich verwirklicht. Für Deutschlands Ansehen in Ost und West und vor der ganzen Welt bedeutet dieser Handschlag mit dem Papsttum, der größten sittlichen Macht der Weltgeschichte, eine Großtat von unermesslichem Segen."

Am 4. November 1936 hatte er ein persönliches Gespräch mit Hitler. Er war offensichtlich tief von ihm beeindruckt. Er schrieb: "Der Reichskanzler lebt ohne Zweifel im Glauben an Gott. Er anerkennt das Christentum als den Baumeister der abendländischen Kultur."

Können Sie eine Schätzung abgeben, wie viele Menschenleben der Papst retten hätte können, wenn er sich öffentlich gegen die Judenvernichtung ausgesprochen hätte?

Dirk Verhofstadt: Das ist nicht exakt möglich, aber ich nehme an, er hätte auf jeden Fall Hunderttausende retten können. Einige sagen, wenn er gesprochen hätte, dann hätte es noch mehr Tote gegeben hätte. Aber was heißt "noch mehr"? Vor dem Krieg lebten mehr als drei Millionen Juden in Polen. Knapp acht Prozent, überlebten die Shoah. Ein öffentlicher Protest und eine Drohung von Pius XII., dass er zum Beispiel jeden katholischen Mörder exkommunizieren würde, hätten zweifellos zu zwei Konsequenzen geführt.

Erstens wären bei vielen gläubigen Tätern Zweifel über die moralische Rechtmäßigkeit ihres Tuns aufgekommen. Zweitens hätte eine öffentliche Verurteilung die Juden selbst gewarnt, wie ernst die Situation war, und sie zu Flucht, Untertauchen oder sogar Widerstand angespornt. Das kann ganz besonders im Fall der Hunderttausenden ungarischen Juden angenommen werden, die erst ab Mai 1944 deportiert wurden - also zu einem Zeitpunkt, als der Papst und andere Kirchenführer umfassende Kenntnis über die geplanten Morde hatten.

So ist es auch unverständlich, weshalb der Papst, als am 16. Oktober 1943, während einer Razzia in Rom mehr als tausend Juden verhaftet wurden und zwei Tage lang vor Ort inhaftiert blieben, nicht aus seinem Palast hervorkam oder über Radio Vatikan protestierte.

Ein öffentlicher Auftritt des Papstes, wie nach der Bombardierung von Rom, hätte hier eine unglaubliche Wirkung gehabt. Die Lastwagen mit den gefangenen Juden waren zu Fuß von seinem Palast aus zu erreichen. Ein einziges Foto von Pius XII., protestierend vor einem dieser Wagen, hätte den Schaden, sowohl physisch als auch moralisch, erheblich reduziert. Es hätte Pius einen Platz unter den "Gerechten unter den Völkern" gesichert und ihn vielleicht zu einem der größten moralischen Wohltäter der Weltgeschichte erhoben. Das Foto gibt es nicht.

"Eindeutige Präferenz des Vatikans für Faschismus und Nazismus"

Warum hat Pius XII. sich so zurückgenommen?

Dirk Verhofstadt: Die Antwort scheint mir nicht nur religiöser, sondern eher geopolitischer Natur zu sein. Seit der Abschaffung des Kirchenstaates im Jahre 1870 war die katholische Kirche in die Defensive geraten. Die zunehmende Säkularisierung und der Erfolg der sozialistischen und liberalen Emanzipationsbewegungen im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert stellten sich für die Päpste als tödliche Bedrohung der Kirche dar.

Dass die katholischen Führer zum vorrückenden Kommunismus und Sozialismus äußerst negativ eingestellt waren, ist gut bekannt. Dass sie sich aber auch mit Vehemenz gegen den demokratischen Liberalismus wendeten, wird oft verschwiegen. Es gibt jedoch genügend Belege, dass sich die Päpste Pius XI. und Pius XII. heftig gegen grundlegende liberale Werte wie Trennung von Kirche und Staat, Freiheit der Meinungsäußerung, Gleichheit aller Menschen und insbesondere gegen das Recht auf Selbstbestimmung wandten.

Diese eindeutige Präferenz des Vatikans für Faschismus und Nazismus und gegen Kommunismus, Sozialismus und Liberalismus in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ist der Grund, warum besonders Pius XII. so seltsam still blieb, als die Juden diskriminiert, verfolgt, deportiert und schließlich vernichtet wurden. Die Interessen der katholischen Kirche hatten offenbar Vorrang gegenüber dem Leben von Millionen von Juden in Europa. Die Schoa war der Preis, den die katholische Kirche zu zahlen bereit war, um ihre Position zu schützen und zu stärken.

Es existieren Pläne der katholischen Kirche, Papst Pius XII. heilig zu sprechen. Halten Sie das für eine gute Idee?

Dirk Verhofstadt: Die katholische Kirche will Pius XII. in der Tat heilig sprechen. Dass die Kirche jemanden heilig spricht, ob geeignet oder nicht, ist erst einmal eine Sache der Kirche selbst, so wie jeder Verein beschließen kann, eines seiner Mitglieder auszuzeichnen. Aber angesichts des größten Verbrechens in der Geschichte hat eine solche Heiligsprechung natürlich eine weitaus größere Bedeutung.

Damit würde offiziell anerkannt, dass Pius XII. in allem, was er tat, nach Gottes Willen gehandelt hat. Es wäre noch eine weitere Beleidigung für die sechs Millionen Juden, die ermordet wurden, weil ihre christlichen Peiniger sie als Untermenschen und als Gottesmörder betrachteten. Erneut würde das hohe christliche Prinzip der Nächstenliebe zu einem wertlosen Begriff herabgesetzt.

"Die Heiligsprechung Pius XII. wäre, wie die von Pius IX - dem Feind von Juden und Protestanten, von Menschenrechten, Religionsfreiheit, Demokratie und moderner Kultur - eine vatikanische Farce und eine Verleugnung der jüngsten päpstlichen Schuldbekenntnisse" sagt Hans Küng. Wenn die Kirche bestimmte Menschen für heilig erklären will, für ihren Mut, ihre Liebe zu den Mitmenschen und ihre selbstlose moralische Kraft, dann sollte sie nicht Pius XII. auswählen, sondern die Tausenden "Gerechten unter den Völkern".

Dieser Titel wird von Yad Vashem in Jerusalem verliehen, das in Erinnerung an die Juden, die während des Holocaust ermordet wurden gegründet wurde. Und in Erinnerung an die Nicht-Juden, die ihr Leben für die Rettung von Juden riskierten. In der Regel waren das ganz gewöhnliche Menschen: Bauern, Arbeiter, Hausfrauen, auch Priester und Nonnen, die keine Bibel und keinen päpstlichen Rat brauchten, um zu erkennen, dass sie Mitmenschen in Not helfen müssen. Sie sind die wahren Heiligen.

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