Der Schulz-Effekt und die desorientierte Union
SPD profitiert von Wechselstimmung und Abneigung gegen Merkel
Vor ein paar Wochen noch schien die SPD bei 20 Prozent einbetoniert, abgeschlagen, der Vorsprung der Union uneinholbar. Die Veränderung bei den Umfragen lagen bei ein Prozentpunkt plus oder minus, mal zwei Prozentpunkte. Es bewegte sich nichts Entscheidendes. Jetzt führt sie plötzlich im DeutschlandTrend der ARD.
Zum ersten Mal seit zehn Jahren liegt die SPD in der Sonntagsfrage vor der Union, berichtet die Tagesschau. Sie führt knapp mit 32 Prozent der Stimmen der ungefähr 1.000 Befragten gegenüber 31 Prozent der Union. Die SPD hat vier Prozentpunkte gegenüber der letzten Umfrage am 2. Februar zugelegt, die Union hat drei Prozentpunkte verloren.
Kein Trend nach links
Ein Trend nach links bzw. Richtung Rot-Rot-Grün ist laut Umfrage nicht zu erkennen. Die Linke liegt bei 7 Prozent, hat damit einen Prozentpunkt verloren, die Grünen bleiben bei mageren 8 Prozent. Das ergäbe 47 Prozent für eine R2G-Koalition.
Die angeblich von vielen Wirtschaftsvertretern favorisierte Koalition CDU/CSU mit der FDP würde laut der Meinungsabgabe der Befragten in Telefoninterviews auf nur 37 Prozent kommen. Nähmen die beiden Parteien die AfD mit ins Boot, was nach Stand der Dinge aber sehr unwahrscheinlich ist, würde eine solche Zentrum-Rechts-Koalition auf 48 Prozent kommen - die AfD steht auf 11 Prozent, sie hat einen Prozentpunkt eingebüßt.
Auf einen Linkstrend deutet das Gesamtbild der aktuellen Sonntagsfrage, telefoniert wurde vom 20. bis 22. Februar, nicht hin. Aber es zeigt sich sehr deutlich, wie schon bei Umfragen zuvor, dass die Stimmung auf einen Wechsel ausgerichtet ist - kein Wunder nach beinahe 12 Jahren Kanzlerschaft Merkel. Auch erkennt man in der Umfrage ein Phänomen, das sich auch in anderen Ländern gegenwärtig zeigt: eine Aufspaltung. 47 Prozent gäbe es für Rot-Rot-Grün, also das linke Lager, und 48 Prozent für Schwarz-Gelb und "Dunkelschwarzgelb", dem Rechts-Mitte-Weiter-Rechts-Lager.
Eine neue SPD-Qualität?
Die SPD profitiert unübersehbar vom Kanzlerkandidaten Schulz und wahrscheinlich auch von der geschickten Vorarbeit Gabriels bis hin zu seinem Verzicht auf die Kandidatur. Zuvor sammelte er Pluspunkte in der Öffentlichkeitsarbeit zur Präsentation Steinmeiers als Kandidat für den Posten des Bundespräsidenten. Damit wurde eine zentrale Figur aus dem ancien regime der SPD, die die Partei in eine große, lang dauernde Krise geführt hatte, aus dem Hauptspielfeld genommen.
Dass die SPD mit Schulz nun einen Aufwind erlebt, kann sie sich aber nur zu einem geringen Teil einer "neuen Qualität" zuschreiben. Sie profitiert erstmal von der Wechselstimmung und von der Abneigung gegen Merkel und von einem Anschein der Selbstbesinnung, den Schulz zu erwecken versucht.
Merkel mobilisiert, wie in tausenden Diskussionsbeiträgen, zig Demonstrationen und unzähligen kritischen Artikeln zur Flüchtlingspolitik zu sehen, mittlerweile großen Widerstand gegen sich und ihre Politik. Auf Ablehnung stößt sie ihr nicht nur wegen ihrer Grenzöffnung vom September 2015, sondern nicht zuletzt wegen ihrer EU-Politik, die, wie häufig kritisiert wird, vor allem auf Interessen von Konzernen ausgerichtet ist, auf einen "Elite-Zirkel", und Ungleichheiten zementiert.
Angst vor der Arbeitslosigkeit und Ungleichheit
Ob man gerade Schulz hier eine andere EU-Politik zutraut und zutrauen kann, ist reichlich unsicher. Bei der aktuellen Sonntagsfrage stand aber die Innenpolitik im Fokus, konkret das Hartz-IV-Problem der SPD. Die Fragestellung folgte gewissermaßen Schulzens Wahlkampf-Agenda. Denn er hatte zuletzt verkündet, dass er die - lange nicht nur bei ehemaligen SPD-Wählern, die es zurück zu gewinnen gilt - hoch umstrittene Agenda 2010 reformieren will. Dafür hatte er als Beispiel genannt: die Verlängerung des Arbeitslosengeldes. Darüber hinaus argumentiert er gegen befristete Arbeitsverträge.
Das ist in diesen Zeiten gut gesetzt, wie der Deutschlandtrend zeigt:
65 Prozent der Deutschen befürworten es demnach, wenn Arbeitslose länger Arbeitslosengeld I bekommen und damit später zu Hartz-IV-Empfängern werden. 29 Prozent lehnen dies ab. 67 Prozent finden es richtig, dass zeitlich befristete Arbeitsverträge nur noch bei sachlichen Gründen möglich sein sollen. Jeder Vierte (25 Prozent) ist anderer Meinung.
Tagesschau
Hellhörig müsste die Konkurrenz der SPD die Breite der Zustimmung machen, die sich aus der etwas weitergehenden Analyse ergibt: nämlich 52 Prozent Zustimmung für die längere Bezugsdauer von ALG I bei Unionswählern, 66 Prozent Zustimmung bei AfD-Wählern sowie die wenig überraschenden sehr hohen Zustimmungswerte bei den Linken (84 Prozent) und den Grünen (68 Prozent).
Das zeigt, wie wichtig das Thema bei allen Wählern ist und dass sie das Gefühl haben, dass die bisherige Politik falsch ist. Bislang haben die großen Parteien, SPD und die Union, das übergeordnete Thema Ungleichheit nur in Sonntagsreden mit frommen Wünschen und Liebherzsprüchlein abgehandelt und gaben dabei ein völlig unglaubwürdiges Bild ab, von dem die neue Partei AfD mächtig profitierte.
Doch nur ein SPD-Märchen?
Anscheinend trauen momentan 32 Prozent der SPD mit Schulz zu, hier doch eine andere Politik zu betreiben. Jene, die genau hinschauen, bleiben skeptisch, weil Schulz bisher lediglich marketing-/kampagnenmäßig auf einer Erfolgsspur ist. Inhaltlich gedeckt ist der Kurswechsel, der erwartet wird, nicht. Es bleibt beim "SPD-Märchen", schreiben zum Beispiel Alexander und Bettina Hammer (siehe Das Märchen vom Martin und der Hartz-IV-Reform).
Die Union sei "desorientiert", zitierte heute Mittag eine BR-Nachrichtensendung einen Experten zur Lage. Das wird sich bald ändern, jedenfalls was die Marketingoberfläche angeht. Mittel, um einen Anschein zu zerlegen, gibt es genug. Man kann beispielsweise an die Kampagne erinnern, die zur Einführung des Mindestlohn gefahren wurde.
Wie viele Ökonomen, die Unternehmen nahestanden und wie viele Unternehmensführer machten damals Angst vor einer Katastrophe für die deutsche Wirtschaft und was ist eingetreten? Eine ähnliche Angstmacher-Diskussion dürfte nun mit "Hartz-IV-Reformen" in Gang gesetzt werden und Schulz kann dann zeigen, was er substanziell zu bieten hat.