Der Schutz der Privatsphäre ist ein ständig andauernder Prozess
Interview mit Marc Rotenberg, Direktor des Electronic Privacy Information Center
Wussten Sie, dass eine polizeiliche Telefonüberwachung in Brasilien nur für zwei Mal fünfzehn Tage genehmigt werden kann, in der Tschechei dagegen für bis zu sechs Monate? Oder dass es in China schon im vierten Jahrhundert vor Christi vollständige Bevölkerungsregister gab? Dass in Dänemark von Kreditbüros oder Personalvermittlungen 5000 private Datenbanken mit Informationen über die Bevölkerung unterhalten werden? Dass man in Estland auf dem Schwarzmarkt CD-ROMs mit detaillierten Informationen über tausende von Einwohnern kaufen kann? Oder dass Hessen im Jahr 1970 das erste Datenschutzgesetz der Welt verabschiedet hat?
Solche und viele andere Informationen findet man in der neuen Ausgabe von Privacy and Human Rights, die gerade erschienen ist. Der Band umfasst einen ausführlichen Überblick über neue Entwicklungen im Bereich von Privatsphäre, Datenschutz und Überwachung sowie mehr als 50 Länderberichte aus aller Welt. Herausgegeben wird die Studie jährlich seit 1997 vom Electronic Privacy Information Center (EPIC) in Washington in Zusammenarbeit mit Privacy International in London.
Ralf Bendrath sprach für Telepolis mit Marc Rotenberg, dem Direktor von EPIC, in deren Büro in Washington.
Herr Rotenberg, was sind die wichtigsten Entwicklungen in Bezug auf die Privatsphäre und Menschenrechte in diesem Jahr?
Marc Rotenberg: Wir stellen eine zunehmende Nutzung von neuen Überwachungstechnologien fest, insbesondere von Gesichtserkennung, Biometrie, genetischer Identifizierung und Systemen zum Feststellen von Aufenthaltsorten. Außerdem machen wir uns Sorgen wegen der möglichen Einschränkungen der Privatsphäre durch Systeme zum sogenannten "digitalen Rechtemanagement", das sind Technologien zur Verhinderung von Urheberrechtsverletzungen.
Gibt es Unterschiede zwischen den Entwicklungen in Amerika und denen in Europa?
Marc Rotenberg: Nun, technische Methoden werden schnell über die ganze Welt verbreitet. Die interessante Frage für uns ist immer gewesen: Wie regieren die einzelnen Länder darauf vor dem Hintergrund ihrer Gesetzgebung, ihrer Kultur und ihrer Traditionen? Wir machen diese Studie, um einen vergleichenden Ansatz anzubieten, damit wir sehen können, wie mit neuen Technologien an verschiedenen Orten umgegangen wird.
Bedeutet das, dass die größten Bedrohungen für die Privatsphäre derzeit von Technologien ausgehen, nicht von neuen Gesetzen oder Regierungsstellen?
Marc Rotenberg: Es kann eine Kombination sein. Ich denke, Technologien spielen eine signifikante Rolle. Neue Geschäftspraktiken haben ebenfalls einen großen Einfluss. Gesetze sind ebenso bedeutend, vor allem solche, die die Benutzung von Techniken zum Schutz der Privatsphäre einschränken, oder solche, die bestimmte Technologien wie etwa die Copyright-Mechanismen erzwingen.
Und sehen Sie auf der anderen Seite Entwicklungen, die dem Schutz der Privatsphäre helfen? Soweit wir das von Deutschland aus beurteilen können, ist die Bedeutung von "Privacy" in der politischen Debatte in den USA gestiegen.
Marc Rotenberg: Ja, das stimmt auf jeden Fall für die USA. Ich habe diese Debatte immer als eine Debatte sowohl über Ziele als auch über Prozesse angesehen. Wissen Sie, ich mag einige Ideen haben, wie man die Privatsphäre schützen kann, und Sie mögen einige Ideen haben, wie man die Privatsphäre schützen kann. Und daher ist es keine Einbahnstraße. Die Tatsache, dass es nun eine öffentliche Diskussion darüber gibt, ist ein sehr positives Zeichen. Es bedeutet, dass man sich nun der Gefahren für die Privatsphäre bewusst ist, auf die wir ja schon lange hinweisen. Es ist wie in der Debatte über den Umweltschutz. Man kann nicht sagen: "Mache dies, dies und dies", und die Umwelt ist geschützt, und nun kümmern wir uns um den Schutz von etwas anderem. Es ist ein ständig andauernder Prozess, aber ich glaube, dass er von öffentlicher Beteiligung profitiert.
Die ganze Unterscheidung zwischen "privat" und "öffentlich" war ja nicht schon immer da, sondern sie ist im 17./18. Jahrhundert etabliert worden. Sehen Sie nicht einen generellen Trend, der diese Unterscheidung wieder auflöst, wenn Sie sich diese Fernsehshows ansehen, in denen Leute über sehr private Dinge reden oder 27 Stunden am Tag gefilmt werden, oder wenn Sie sich die Web-Kameras ansehen, die Leute zuhause haben?
Marc Rotenberg: Ich habe kein Problem damit, wenn Leute sich entscheiden, sehr öffentlich zu sein. Wenn jemand vor einer Kamera über sich selbst reden will, dann kann er das natürlich tun. Die Frage ist: Was passiert, wenn jemand sich entscheidet, nicht öffentlich zu sein? Privatheit ist keine statische Angelegenheit, sie ist dynamisch, und daher ist sie immer wieder an neue Entwicklungen angepasst worden. Aber die Grundsatzfrage bleibt: Was passiert mit Leuten, wenn ihre Leben in Öffentlichkeit gezerrt werden, ohne dass sie es kontrollieren können?
Was wird Ihrer Meinung nach in Bezug auf das Echelon-Überwachungssystem passieren?
Marc Rotenberg: Die Echelon-Debatte in Europa ist sehr vielversprechend, vor allem für uns. Wie Sie wissen, hat das Europäische Parlament einen Bericht zu Echelon erstellt und gerade eine Resolution dazu verabschiedet. Wir sind von ihnen gebeten worden, zusammen mit den europäischen Institutionen weitere Schritte zu entwickeln.
Und in den USA? Ich habe den Eindruck, dass Echelon hier kein großes Thema mehr ist.
Marc Rotenberg: Echelon hat in den USA nie die gleiche Aufmerksamkeit wie in Europa bekommen, und das aus offensichtlichen Gründen. Ein Teil der Debatte in Europa hat sich anhand der Sorge entwickelt, dass die USA Wirtschaftsspionage betreiben. Das war hier natürlich kein Thema. Und trotzdem denke ich, die größere Frage nach dem allgemeinen Umfang elektronischer Überwachung wird hier weiterhin an Bedeutung gewinnen.
Electronic Privacy Information Center in Association with Privacy International: Privacy & Human Rights 2001. An international Survey of Privacy Laws and Developments. Washington D.C. 2001, ISBN 1-893044-13-0, Preis: 20,00 US$