Der Terrorismus gelangt nach Finnland
An einer Klassifizierung des Messerangriffs vom letzten Freitag als Terrorakt wird kaum mehr gezweifelt
Zu den Fakten: Ein 18-jähriger Marokkaner, der im letzten Jahr nach Finnland einreiste und Asyl beantragte, erstach zwei Frauen und verletzte sieben weitere Personen. Die Tat geschah am letzten Freitagnachmittag im Zentrum der südfinnischen Stadt Turku. Am folgenden Tag gaben die Sicherheitsbehörden Einzelheiten bekannt. Sie äußerten die Vermutung, dass es sich um einen terroristischen Akt handelt. Der Täter wurde angeschossen und befindet sich in stationärer Behandlung. Er verweigert bislang jede Aussage. Zu der Annahme, dass eine Ablehnung seines Asylantrags auschlaggebend sein könnte, wollten sich die Behörden nicht äußern.
Auf das Stichwort "Terrorismus" hat die Boulevardpresse nur gewartet, und ebenso erhöhte sich schlagartig das Interesse bei Staatsmedien und Politikern. Vermutungen wurden angestellt, Schreckensszenarien entworfen, man bekundete Mitleid mit den Angehörigen, beruhigte die Bürger und forderte sie zugleich zu Wachsamkeit auf, beschwor die Tüchtigkeit der Sicherheitsorgane, die tatsächlichen Ereignisse wurden mehrfach rekonstruiert. Und natürlich durfte auch der Ruf nach besserer Ausstattung und erweiterten Kompetenzen der Ordnungskräfte nicht fehlen, genauso wenig wie die Forderung nach beschleunigtem Asylverfahren und rigiderer Abschiebungspraxis.
Es blieb niemandem verborgen, dass bei der Regie die Reaktionen auf früher verübte Terrorakte im Westen Pate standen. Ebenso klang in manchen Stellungnahmen eine gewisse Genugtuung an, dass Finnland nun einen weiteren Schritt in Richtung Westintegration vollzogen habe. Es bestünden nicht nur gleiche Werte, sondern man würde sich auch mit denselben Problemen konfrontiert sehen.
Wiederholt wurden die Solidaritätsadressen westlicher Länder verlesen und der gemeinsame Kampf gegen den internationalen Terrorismus beschworen. Nur notdürftig wird der Ärger darüber kaschiert, dass der Anschlag in Turku angesichts des Terrorakts in Barcelona einen Tag zuvor nicht das gewünschte internationale Medienecho fand.
Echte Anteilnahme, Zurückhaltung und Angst vor Racheakten
Trotz dieses makabren Beigeschmacks ist die Betroffenheit als durchaus echt zu betrachten. Unisono wird die Tat verurteilt, zugleich wird vehement gegen ausländerfeindliche Stimmungen Stellung bezogen. Sogar immigrationskritische Politiker wie die Spitzen der rechtspopulistischen "Perussuomalaiset" schlossen sich dieser Linie an. Sie hielten sich sichtbar mit Bemühungen zurück, die Ereignisse politisch auszuschlachten. Die konsensorientierten finnischen Bürger hätten derartige Versuche wohl kaum akzeptiert.
Mit Ausnahme der Boulevardpresse kommentieren Medien wie auch Politiker und Behörden den Messerangriff des 18-Jährigen recht zurückhaltend. Fakten werden zusammengetragen, nach Motiven und dem Umfeld des Täters wird geforscht, vor Racheakten gegen Immigranten gewarnt. Wie notwendig ein derartiger Apell ist, zeigt die Demolierung einer Pizzeria am Samstag in der Innenstadt von Turku.
Obwohl der Täter gemäß den Recherchen des finnischen Geheimdiensts islamisch-fundamentalistisch geprägt ist, bestehen Zweifel, ob es sich tatsächlich um einen terroristischen Akt handelt. Diese werden u.a. damit begründet, dass die Opfer ausschließlich Frauen waren. Zwei Männer wurden allein deshalb verletzt, weil sie zu Hilfe eilten. Ebenfalls sträubte sich die finnische Polizei anfangs, terroristische Motive anzunehmen. Und schließlich hat der IS sich bislang nicht zu der Aktion bekannt, im Unterschied etwa zu der einen Tag später stattgefundenen Messerattacke im sibirischen Surgut.
Orchestrierter Terror oder Verzweiflungstat
Dennoch zeigen sich die Sicherheitsbehörden davon überzeugt, dass islamische Terroristen nun zum ersten Mal auf finnischem Boden zugeschlagen haben. In der Zeitung "Aamulehti" wird auf die Einschätzung Otso Ihos verwiesen, der als Terrorismusexperte im "Jane Terrorism and Insurgancy Centre" in London tätig ist. Er glaubt, die "Handschrift" des IS identifizieren zu können, ja er hält die Existenz eines größeren Netzwerks im Hintergrund für durchaus möglich.
Spekulationen über eine hierarchisch strukturierte islamistische Terrororganisation, die vom Herrschaftsgebiet des IS aus die Fäden zieht, wurden bereits bei früheren Anschlägen angestellt. Konkrete Hinweise gibt es jedoch keine. Dass der IS die Verantwortung übernimmt, reicht nicht als Beleg. Wenn auch islamischer Fundamentalismus in salafistischem oder jihadistischem Gewand die jeweiligen Täter angestachelt haben mag, konnten im Hintergrund allenfalls radikale Imame und deren - meist wahabitische - Finanziers identifiziert werden. Die einzigen Gemeinsamkeiten mit dem IS und anderen im westarabischen Raum tätigen Terrororganisationen bilden die gemeinsame Finanzierungsquelle und die fundamentalistische Ideologie.
Warum junge Menschen mit Migrationshintergrund in der westlichen Welt zu Terroristen werden, lässt sich kaum hinreichend erklären, solange die sozialen Umstände unbeachtet bleiben. Diesen Aspekt hat die finnische Islamforscherin Maria Pakkala ins Zentrum ihrer Analyse gestellt und damit die in der Sondersendung zu Wort gekommenen "Terrorismusexperten" blass aussehen lassen. Sie verwies auf die desolate soziale Lage und die fehlende Perspektive marokkanischer Jugendlicher in ihrem Heimatland. Laut Weltbank sind allein 1,7 Millionen der 15- bis 24-Jährigen ohne Arbeit und Ausbildungsplatz.
Desgleichen werden die Erwartungen der gegenwärtig etwa vier Millionen marokkanischen Emigranten in den Staaten Westeuropas nur selten erfüllt. Die Aussichten auf einen Asylstatus sind schlecht, da nur wenige in ihrer Heimat tatsächlich bedroht waren. Da sie nach einem abschlägigen Bescheid gezwungen sind unterzutauchen, haben sie keinen Anspruch auf soziale und andere Leistungen. Sie sind eine leichte Beute für illegale Beschäftigung, meist weit unter dem Mindestlohnniveau. Es entsteht ein Nährboden für Kriminalität, für psychisch bedingte Verzweiflungstaten wie auch für religiös motivierten Terror. Leider verweist der finnische Ministerpräsident Juha Sipilä in seiner Erklärung mit keinem Wort auf diesen wichtigen Aspekt.