Der Übergang

Wie die US-amerikanische Regierung ihre Bevölkerung überwacht - und dem Einsatz des Militärs im Inland den Weg ebnet

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Im Mai dieses Jahres erschien in der von einem ehemaligen Mitarbeiter der „New York Times“ gegründeten Zeitschrift „Radar Magazine“ ein aufschlussreicher Artikel unter der Überschrift "The Last Roundup" Gestützt auf Aussagen einer Reihe von aktiven und ehemaligen Regierungsmitarbeitern und Militärangehörigen, beleuchtet der Autor ein Beispiel des Machtmissbrauchs der Regierung Bush, welches einen kurzen Blick in die finsteren Abgründe polizeistaatlicher Maßnahmen in den USA ermöglicht.

Christopher Ketcham, ein freier Journalist aus New York, der u.a. für die Zeitschriften „Harper’s“ und „Mother Jones“ arbeitet, beginnt seinen Artikel mit der Beschreibung eines Zwischenfalls, der sich im März 2004 ereignete. Der derzeitige Justizminister John Ashcroft lag mit einer Bauchspeicheldrüsenentzündung im Krankenhaus, als zwei damalige Mitarbeiter Präsident Bushs, sein Rechtsberater (und späterer Justizminister) Alberto Gonzales und der Stabschef des Weißen Hauses, Andrew Card, versuchten, den geschwächten und unter Medikamenteneinfluss stehenden Ashcroft zur Unterzeichung eines Dokumentes zu bewegen.

Ashcrofts Stellvertreter James Comey, der im Vorfeld davon unterrichtet wurde, eilte mitten in der Nacht, begleitet von einem Trupp Personenschützer des Secret Service, ins Krankenhaus, in dem Ashcroft gegenüber Gonzales und Card durchblicken ließ, dass er nicht gewillt sei, in seinem Zustand irgendwelche Dokumente zu unterschreiben. Er verwies beide an seinen Stellvertreter Comey, woraufhin Gonzales und Card ohne weitere Kommentare davon stürmten.

Rechtsstaatliche Maßnahmen?

Bei besagtem Dokument, so Ketcham, handelte es sich um eine Erklärung, mit der das Programm der US-Regierung zum Zweck der Überwachung und Bespitzelung amerikanischer Staatsbürger, vom Justizministerium als rechtlich einwandfrei bewertet werden sollte. Ashcroft und Comey hatten ausgiebig über eben jene Thematik diskutiert, bis Ashcroft kurz vor Ablauf der Frist zur Bewertung dieses Programms erkrankte. Daraufhin beschloss sein Stellvertreter Comey, das Abhör- und Überwachungsprogramm der US-Regierung als rechtlich nicht einwandfrei zu bewerten. Am Tag darauf wurde dieses Programm vom Weißen Haus bestätigt – ohne eine Bewertung durch das Justizministerium.

Kurz darauf berichtete die „New York Times“ von Details des Überwachungsprogrammes, welches Comey so sehr beunruhigt hatte, dass er entgegen allem Druck ablehnte, es rechtlich zu sanktionieren. Die Rede war von „gewaltigen elektronischen Datenbanken“, die im Rahmen der Abhör- und Überwachungsaktivitäten genutzt wurden – wobei auch der „New York Times“-Artikel nicht klären konnte, inwieweit die Differenzen innerhalb der Regierung aufgrund der Nutzung der Datenbanken an sich, oder aufgrund des Umgangs mit den daraus gewonnenen Informationen bestanden.

Kurz nach Comeys Rücktritt im Jahr 2005, so Ketchams Artikel weiter, hätten ehemalige Regierungsmitglieder und Personen aus dem Geheimdienst-Establishment erklärt, die Auseinandersetzung zwischen Comey und dem Weißen Haus stünde im Zusammenhang mit einer Datenbank, welche Informationen über Amerikaner enthielte, die als potentielle Bedrohungen für den Staat gewertet werden würden.

Ein Artikel im „Wall Street Journal“ beschrieb die Existenz so genannter „schwarzer Programme“, die – ohne Kontrolle des US-Kongresses – u.a. mit jenen Informationen über US-Bürger kombiniert werden, die durch die National Security Agency (NSA) gesammelt werden: Email- und Telefon-Daten, Internet-Suchbegriffe, Bankgeschäfte, Kreditkarten- und Reisedaten.

Hinzu kommen die Daten, welche beispielsweise von der für Terrorismus zuständigen Abteilung des FBI gespeichert werden, sowie Daten des Finanzministeriums als auch eines Programms des Pentagons, in dessen Rahmen Daten über Antikriegsaktivisten und Umweltschützer gesammelt werden. All dies läuft anscheinend im US-Heimatschutzministerium zusammen:

“Es gibt da eine Datenbank von Amerikanern, die oftmals wegen geringster und belanglosester Gründe als unfreundlich erachtet werden und die in Momenten der Panik eingesperrt werden könnten. Die Datenbank kann in kürzester Zeit „Staatsfeinde“ identifizieren und lokalisieren“, so ein namentlich nicht genannter, hochrangiger Regierungsmitarbeiter, der laut Ketchams Artikel unter fünf verschiedenen Präsidenten gedient haben soll. Die Datenbank, welche in dem Artikel als „Main Core“ bezeichnet wird, soll angeblich die Daten von bis zu acht Millionen Amerikanern enthalten und direkt im US-Heimatschutzministerium angesiedelt sein.

„Nationale Notfälle“ und „Staatsfeinde“

Ein weiteres interessantes Detail im Zusammenhang mit dieser Thematik ist die Rechtfertigung des Weißen Hauses für die Existenz des Abhörprogramms der NSA, welches demnach dadurch gerechtfertigt sei, dass dieses Programm Teil der Planungen zur Einschätzung und Auswertung von „Bedrohungen für den Fortbestand der Regierung“ sei.

Die so genannten „Continuity of Government“- Planungen beinhalten Notfallpläne der Regierung, die im Falle von großen Naturkatastrophen oder auch Terroranschlägen und Aufständen in Kraft treten sollen. Laut den jüngsten Änderungen in der „National Security Presidential Directive 51“ würden damit die verfassungsmäßige Gewaltenteilung sowie die Garantien der bürgerlichen Grundrechte außer Kraft gesetzt. In dieser Situation, so Ketchams Artikel, würde maßgeblich das US-Heimatschutzministerium die Regie im Staat übernehmen, während das Weiße Haus oberste Instanz des Staates bliebe – nunmehr uneingeschränkt durch Kongress und Gerichte.

Als sich der Kongressabgeordnete Peter DeFazio – Mitglied des Heimatschutz-Ausschusses des Repräsentantenhauses – detaillierten Einblick in die bereits erwähnte NSPD-51 verschaffen wollte, fiel ihm auf, dass dieses Dokument einige geheime Zusätze enthielt, die genauer bestimmten, aus welchem Anlass ein nationaler Notstand ausgerufen werden und wie lange er andauern könne. Die Anfragen zur Offenlegung dieser Dokumente werden vom Weißen Haus bis heute ignoriert – und gerade diese Verschwiegenheit ist es, die nachdenklich stimmt.

Was würde – im Falle eines nationalen Notfalls – mit all denen geschehen, die sich in jener mysteriösen Datenbank namens „Main Core“ befinden? Müssten sie in einem solchen Fall damit rechen, alsbald Besuch zu bekommen?

Bereits seit den 1980er Jahren existieren mindestens zehn Anlagen des US-Militärs in den USA, die als Lager in Betracht kommen würden – auf Grundlage eines seinerzeit vom Iran-Contra-Verschwörer Oliver North ersonnenen Plans namens REX-84, der unter anderem die Ernennung von Militärkommandeuren für bundesstaatliche und lokale Funktionen sowie die Inhaftierung von mindestens 400.000 illegalen Immigranten und einer ungenannten Anzahl amerikanischer Bürger vorsieht.

Abgesehen von der tatsächlichen Inhaftierung von mehr als hunderttausend Japanern bzw. Amerikanern japanischer Abstammung während des zweiten Weltkrieges, ist der Gedanke von Massenverhaftungen bestimmter Bevölkerungsgruppen anscheinend nie fallen gelassen worden. Im Zuge der Rassenunruhen in dutzenden amerikanischen Städten im Jahr 1968 entstand am US Army War College beispielsweise ein Plan zur Inhaftierung von Millionen „Militanten“ und „Negern“.

Ein weiteres Indiz für diesbezüglich bestehende Planungen ist ein Auftrag der US-Regierung, der im Jahr 2006 an die Firma Kellogg, Brown & Root vergeben wurde. Der Inhalt: „temporäre Arrest- und Bearbeitungsanlagen“ für mehrere hundert Millionen Dollar fertig zu stellen.

Militär für Polizeiaufgaben?

Derweil ist mit dem „Military Commissions Act 2006“ die Möglichkeit entstanden, auch amerikanische Staatsbürger als „ungesetzliche Kämpfer“ und damit quasi für „vogelfrei“ zu erklären. Im „John Warner Defense Authorization Act 2007“ wurde der Weg für den Einsatz amerikanischen Militärs im Inland im Rahmen von „Naturkatastrophen, Epidemien oder anderen schwerwiegenden Gefährdungen der öffentlichen Gesundheit, terroristischen Anschlägen, oder sonstigen Vorfällen“ geebnet.

Obwohl diese Änderungen des originalen „Posse Comitatus Act“ von 1878, der den Einsatz des Militärs im Inland – insbesondere für Polizeiaufgaben – weitgehend einschränkt bzw. verbietet, im darauf folgenden Jahr vom US-Kongress zurückgenommen wurden, nimmt Präsident Bush weiterhin für sich in Anspruch, dementsprechend handeln und Militäreinheiten auch für Polizeiaufgaben einsetzen zu können. Dies ist gemäß der US-Verfassung zwar illegal, wird aber anhand eines dementsprechenden „Signing Statement“ des Präsidenten – gemäß der Theorie der „einheitlichen Exekutive“ ("Unitary Executive Theory"), nach der Bush handelt, für legal erklärt.

Weiterhin existiert seit 2002 das „US Northern Command“ (NorthCom) der US-Streitkräfte, welches, laut dem Militär- und Geheimdienstexperten der „Washington Post“, William Arkin, den Einsatz des Militärs auf dem Territorium der USA „ohne zivile Aufsicht oder Kontrolle“ ermöglicht. Nun wurde NorthCom, erstmals seit seiner Gründung, eine aktive Kampfeinheit unterstellt.

„Civil Unrest and Crowd Control“

Das „1st Brigade Combat Team” der 3.US-Infanterie-Division, welches fast drei Jahre lang im Irak – u.a. zur Niederschlagung von Aufständen – eingesetzt wurde, ist laut einem Bericht der "Army Times" vom 1. Oktober dieses Jahres an für 12 Monate unter dem Kommando der US-Army North in den USA stationiert worden. Es wird erwartet, dass diese Einheit nach Ablauf der 12 Monate von einer anderen aktiven Kampfeinheit abgelöst wird.

Die auf der Peterson AFB, Colorado Springs, stationierte Einheit, die auch über Panzer verfügt, soll u.a. „zur Hilfe bei zivilen Unruhen und zur Kontrolle von Menschenmassen“ eingesetzt werden. Die Soldaten sollen zu diesem Zweck auch für den Umgang mit dem „ersten nicht-tödlichen Ausrüstungsset“ der US-Streitkräfte ausgebildet werden, zu dem u.a. Taser-Waffen gehören.

Ein weiterer Bestandteil dieser, im Rahmen des „Joint Non-Lethal Weapons Program“ entwickelten Waffen ist das so genannte „Active Denial System“ (ADS), welches mit Mikrowellen arbeitet und die Flüssigkeit der Hautzellen erhitzt. Der inzwischen zurückgetretene Staatsekretär der US-Luftwaffe, Michael Wynne, erklärte 2006, man solle Systeme wie ADS zuerst in den Vereinigten Staaten im Einsatz testen. (Siehe auch: Wie gefährlich ist die Mikrowellenwaffe ADS?).

Der Artikel in der „Army Times“ erwähnt unnötigerweise an gleich zwei Stellen, dass die besagte Ausrüstung zur Kontrolle – oder Unterdrückung – von Menschenmassen nicht etwa in den USA, sondern nur in „Einsatzgebieten“ eingesetzt werden soll: im Artikel selbst und als „Korrektur“ nachgeschoben. Auch ansonsten gibt man sich viel Mühe, die Tatsache, dass offensichtlich aktive US-Kampftruppen, gerade zum Zeitpunkt einer weiteren Zuspitzung wirtschaftlicher und sozialer Probleme, in den USA bereitgestellt werden und auch für Polizeieinsätze trainieren, möglich harmlos aussehen zu lassen.

Im amerikanischen Wahlkampf spielt all dies – wie leider zu erwarten war – keine Rolle. Die zunehmende Militarisierung der amerikanischen Innenpolitik und der Gesellschaft im Ganzen, die immer weitergehende Privatisierung militärischer und geheimdienstlicher Kapazitäten (Siehe auch Profitieren von Unsicherheit und Krieg) und vor allem die drohenden Konsequenzen dieser Entwicklung sind Themen, die kaum angesprochen werden. Dabei wäre gerade diesbezüglich ein von beiden Präsidentschaftskandidaten angekündigter Politikwechsel dringend erforderlich, um die fortschreitende Transformation der Vereinigten Staaten von Amerika zu einem autoritären Polizeistaat noch zu verhindern.