Der Ururenkel von Frankenstein

Ein Handbuch für angehende Götter: "Creatures"-Schöpfer Steve Grand erklärt uns das Leben, das Universum und den ganzen Rest

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Steve Grand ist ein Mann der Tat. Wo andere in Fachkreisen herumdebattieren, im Labor zaghaft experimentieren, Theorien aufstellen, testen, verwerfen, da hat Grand mit seinen kulleräugigen Creatures einfach eine der ersten Spezies "Künstlichen Lebens" a-life auf die Menschheit losgelassen. Die Population zählt weltweit inzwischen mehrere Millionen, manch echte Tierart kann da nur neidisch sein. Steve Grand sieht sich als Cyber-Gott Kein Wunder also, dass auch der Titel seines ersten Buchs alles andere als zimperlich (und nur bedingt ironisch) ist: "Creation - Life and how to make it", ein "So macht man Leben"-Handbuch für angehende Schöpfer.

Ganz ohne eine gehörige Portion Theorie geht es dennoch nicht ab. Bevor das Werk seinem Untertitel gerecht wird, erklärt uns Grand erst Mal auf knappen 150 Seiten das Leben, das Universum und den ganzen Rest. Er fährt eine Art Vereinigter Feldtheorie ohne die lästigen mathematisch-physikalischen Details auf, eine Komplett-Erklärung für alles von subatomaren Partikeln über menschliches Bewusstsein bis hin zu Fußball. Grand bedient sich dabei je nach Bedarf der Erkenntnisse (oder für seine Zwecke brauchbarer Versatzstücke davon) von Quantenphysik, Biologie, Evolutionstheorie, Bewusstseinsforschung und des noch jungen "Artificial Life"-Feldes, vermengt mit einem Schuss leicht esoterischen Holismus-Geschwurbels, anschaulich präsentiert mit einer typisch britischen Dosis Humors.

Grands Vision - und es ist in seiner Beschreibung eine Vision im emphatischen, quasi-religiösen Sinn - ist die einer Welt, die auf unterster Ebene einigen (noch unbekannten) einfachen Grundregeln gehorcht, auf deren Boden sich ein immenser Turm immer höherer Stufen der Komplexität von selbst in die Höhe schraubt. Es gibt eigentlich nichts außer dem Raum-Zeit-Kontinuum als Substratum, als grundlegendste, allumfassende Schicht. Doch in diesem Gewebe beginnen sich Unregelmäßigkeiten fortzupflanzen, wie wandernde Knötlein, die sich in den Urstoff schürzen, wie Wellen: Selbstpropagierende Phänomene, die sich nicht fortbewegen wie ein Ball das durch Luft tut, als ein fester Klumpen Materie, sondern wie Schall - als Muster, als Ordnung. Diese Phänomene - das, was wir subatomare Partikel nennen würden - erreichen nicht nur individuell ein gewisses Maß an Stabilität, an Beharrlichkeit, sie vermehren sich auch. Und bilden Eigenschaften heraus, die aus den ursprünglichen Grundregeln zwar ohne Zutun mysteriösen Geists folgen, aber in ihrer Komplexität nicht konkret vorhersehbar sind.

Steve Grand

Das Wunder der Emergenz

Und nun beginnt der Vorgang, sich auf höherer Ebene zu wiederholen: Auf der Basis der subatomaren Partikel bilden sich Atome, diese organisieren sich zu Molekülen, einige von diesen zu organischen Verbindungen, diese zu Proteinen, die schließlich zu Zellen, Mehrzellern, Tieren. Manche von diesen (wie beispielsweise der Mensch) bilden wiederum Gesellschaften - auch sie Phänomene, die aus ähnlichen Grundregeln erblühen. Das Wunder der Emergenz: Das Ganze ist mehr als seine Teile, denn es ist die Ordnung der Teile, und aus der ersprießt bei hinreichender Komplexität ein Verhalten des Systems, das nicht im voraus berechenbar (sondern bestenfalls simulierbar) ist. Alles, was man braucht, sind Grundparameter, die das Entstehen längerfristig stabiler Phänomene und evolutionärer Prozesse erlauben, genug Platz nach oben und viel, viel Zeit. John Conway hat stets (und nur in der Formulierung ironisch) behauptet, wenn man sein berühmtes Zellautomaten-Spiel "Life" auf hinreichend großem Spielfeld nur lange genug arbeiten ließe, entstünden selbstpropagierende Systeme, die irgendwann Doktorarbeiten schreiben würden. Auch das Bewusstsein ist nicht göttlich eingehauchte Seelenangelegenheit, sondern emergentes Phänomen aus dem hochkomplexen Zusammenspiel eines Netzwerks von Neuronen.

Die logische Konsequenz: Wenn das Leben nicht an die Materie gebunden ist, es nicht in Kohlenstoff/Wasser-Molekülen steckt, sondern allein in deren Ordnung, dann lassen sich auch auf anderer Basis Phänomene hervorrufen, welche die Bezeichnung "Leben" verdienen. (Das mit der Bezeichnung ist letztlich das Problem: Noch ist niemandem eine eindeutige Definition von "Leben" gelungen, auf die sich alle hätten einigen können.) Dann ist unsere physikalische Welt nicht das einzige Substratum, das solche Prozesse tragen kann. Und dann können wir selbst auf anderem Nährboden (um genauer zu sein: auf Nährboden, der zwar in unserer physikalischen Welt verankert ist, aber virtuell andere Gesetzte simulieren kann) so etwas wie Leben entstehen lassen.

"Bottom-up", nicht "top-down"

Das Wesentliche dabei aber ist: Wir können nicht einen kompletten Organismus und sein Verhalten "von oben her" programmieren, jede Ordnung, jede Reaktion detailliert vorschreiben, sondern wir müssen ganz unten anfangen, mit wenigen, einfachen Regeln und Strukturen, die Selbstorganisation und -propagierung garantieren, und uns dann von dem überraschen lassen, was daraus an Unkalkulierbarem entsteht. "Bottom-up", nicht "top-down" muss unsere Devise heissen. (Steve Grand ist selbstverständlich nicht der erste und einzige, der diese Erkenntnis hatte. Der beste Überblick über die noch junge Geschichte von "a-life", seine Pioniere und die wesentlichen Konzepte ist immer noch Steven Levys bereits 1992 erschienenes "Artificial Life - The Quest for a New Creation".)

Es gäbe unzählige Punkte, an denen man im Detail einhaken könnte, an denen Grand bei unsauberer Argumentation, unklaren Definitionen, irreführenden Gedankenexperimenten zu ertappen wäre. Das aber wirklich zu tun wäre pedantisch und verfehlt. Zu offensichtlich ist Grands Absicht nicht die einer nach strengen, akademischen Kriterien wasserdichten Beweisführung. Was er macht ist bricolage, ist Basteln an einem mit großer Geste, breitem Pinsel entworfenen Weltgebäude, dessen Standfestigkeit nicht daran zu messen ist, ob jedes einzelne Schräublein fein säuberlich angezogen ist. Die Frage kann nur sein, ob die groben Umrisse, ob das Fundament solide sind. Und da bewegt sich Grand durchaus im Konsens der relevanten Disziplinen. Seine Grundaussage, dass Leben in der prozesshaften, selbstreplizierenden, evolutionären Ordnung komplexer Systeme verortet ist, ist nicht völlig unumstritten, aber momentan die bei weitem überzeugendste Hypothese, welche die Wissenschaft anzubieten hat. Die Versuche, den mysteriösen élan vital unter anderem Namen doch noch ins Weltbild zu schmuggeln oder, wie bei Roger Penrose, die menschliche Seele zu retten, indem man sie in den Bereich unerklärter Quantenphänomene schiebt, sind Rückzugsgefechte. (Die meisten von ihnen letztlich durch ein achtbares, aber verfehltes Gefühl motiviert, dass man sonst das Leben, das Bewusstsein "wegerklärt", ihm jeden Wert raubt.

Es ist das Kreuz der Postmoderne, das es zu tragen gilt: Es verschwinden die transzendenten Autoritäten (Gott, "Die Natur"), die uns unhinterfragbare Ordnungen garantieren und für die Wertzuschreibungen all- und alleinmächtig zuständig sind. Der Wert, die Werte sind deshalb nicht weg - nur tragen wir ganz allein die Verantwortung für sie; mit allen radikalen Konsequenzen, die das hat. Wir haben selbst dafür zu sorgen, den Wert des Seins zu erkennen und zu schützen und müssen selbst dafür grade stehen, wenn wir es nicht tun.)

Mogeln mit "top-down" Methoden

Grand interessieren Theorie und solche Diskussionen im Endeffekt nur insofern, als sie ihm die konzeptuelle Grundlage liefern, um spannende Dinge zu tun. Es ist, glaube ich, kein Zufall, dass Grand sich nicht länger als nötig im akademischen Betrieb aufgehalten hat, kein Zufall, dass sein erstes großes Projekt auf dem Gebiet künstlichen Lebens ein kommerzielles Computerspiel war. Die Zwänge, denen "Creatures" als solches unterlag, gaben Grand gute Entschuldigungen an die Hand, bei der Implementierung seiner Theorien nicht kleinlich und dogmatisch sein zu können - oder müssen. Denn sobald es auf den gut 50 letzten Seiten des Buchs um die Praxis der "Creatures"-Programmierung geht, ist bei Grand all das Gerede von der Emergenz schnell Makulatur. Gewiss ist die Grundlage seiner "Creatures" ein komplexes System, das (bedingt) emergente Phänomene aufweist und mit Mechanismen arbeitet, die entsprechenden bei Lebewesen nicht unähnlich sind. Aber anstatt viel auf emergente Weise aus einer einfachen Basis sich selbst entwickeln zu lassen, mogelt Grand wo er nur kann mit unzweifelhaften "top-down"-Methoden, um seine kleinen Geschöpfchen auf ein Verhalten zu trimmen, dass in den Augen der Programmbenutzer möglichst "lebensecht" aussieht.

Creatures

Man sollte dabei nicht unterschätzen, wie extrem unser Wahrnehmungsapparat darauf spezialisiert ist, Lebewesen von toter Materie zu unterscheiden, und wie sehr er darauf programmiert ist, Phänomenen gegenüber, die als Lebewesen erkannt sind, gesondertes Verhalten an den Tag zu legen. (Noch eklatanter ist die Wahrnehmung von Gesichtern ein eigener, hochkomplexer und differenzierter Vorgang.) Die gesamten ungeheuren Reichtümer des Disney-Imperiums beruhen letztlich darauf - wäre unser Hirn nicht so begierig darauf, Leben als solches zu identifizieren, wäre es mit animierten Strichmännchen nicht so leicht reinzulegen. Grand nutzt das (womöglich unbewusst) gnadenlos aus. Einen ebenso großen Anteil wie die clevern a-life-Algorithmen dürfte an den Beschützerinstinkten stolzer Creatures-Züchter das Grafik-Design mit den beliebten Kindchenschema-Auslösern haben. Das hat nicht nur damit zu tun, dass "Creatures" eine Deadline hatte und die Aufgabe, ein benutzbares, laufendes, abgeschlossenes Unterhaltungs-Produkt zu sein. Auch Grands aktuelles Projekt "Lucy" (über das er leider erst in einem kommenden Buch ausführlich berichten wird), ein Roboter, dem aus vorgeblich rein wissenschaftlichen Zweck künstlich Leben eingehaucht (bzw. entlockt) werden soll, steckt im knopfäugigen Kostüm eines Plüsch-Orang-Utans.

Lucy und Soft Lucy

Das beweist weniger, dass Steve Grand seinen eigenen Theorien nicht 100% treu ist, als dass sein Ziel eben doch ein anderes ist, als der Emergenz beim emergieren zuzuschauen. Nicht umsonst kommt kaum eine Darstellung des a-life Felds ohne Beschwörung des Geists von Frankenstein aus; Grand beginnt gleich die Einleitung seines Buchs damit. Grand und vielen (wenn auch keineswegs allen) Kollegen geht es eben insgeheim nicht nur darum, Mechanismen aufzuspüren, die für das Leben grundlegend sind, nicht nur darum zu sehen, welche Resultate eine praktische Implizierung solcher Mechanismen aus sich selbst heraus hervorbringt. So schnell überholt die wissenschaftliche Erkenntnis unsere tiefeingefahrenen kulturellen Prägungen dann doch nicht: Es spukt da ganz schnell auch die Vorstellung der Schöpfung (im emphatischen, biblischen Sinne) mit. Und nicht irgendeine abstrakte Schöpfung gänzlich neuartiger Silizium-Wesenheiten soll es sein - das Ziel, die Krone, ist nach wie vor der neu- und selbstgeschaffene Mensch. (Und zwar nach wie vor konkret ein von Männern kraft der Ratio und ohne Zutun von Frauen und Körpern neu- und selbstgeborener Mensch - diese Fantasie wird so schnell nicht aussterben.)

Das virtuelle Eichhörnchen-Hirn in der Verkehrsampel

Grand hat keinerlei Probleme damit, sich als Ururenkel von Frankenstein zu präsentieren, und wenn er sich einen "Cyber-Gott" nennt, tut er das bestenfalls halb im Scherz. Schon bei seiner Beschreibung der "Creature"-Konstruktion ist er bei jeder noch so vagen Analogie eines seiner virtuellen Regelkreise mit biologischen Mechanismen im menschlichen Körper immer sofort bereit, den entsprechenden Enzym-Namen auf einen bescheidenen Algorithmus zu pappen. Und bei seinem (seltsam zurückhaltend-possierlichen) Ausblick auf den möglichen praktischen Nutzen der a-life-Forschung verrät seine Sprache auch ein Bestreben, so nah ans Menschenähnliche zu kommen, wie möglich. (Sein völliges Wegbürsten jeglicher Gefahren ist bei diesem Ausblick übrigens arg pauschal. MATRIX-ähnliche Szenarien vom Menschen als Sklaven einer Maschinenrasse sind selbstverständlich Unsinn; nicht minderer aber, dass die Nutzung so gänzlich zivil und friedlich laufen wird, wie Grand das behauptet. Was er dabei z.B. nicht erwähnt ist, dass das Britische Militär die "Creatures"-Technologie angekauft hat, um KIs für Kampfflieger-Simulationen zu züchten.)

Grand redet da (kein Witz!) vom virtuellen Eichhörnchen-Hirn in der Verkehrsampel, das die Phasen entsprechend der momentanen Verkehrsdichte regelt "und Spaß dabei hat"! Auch wenn man die Behauptung nicht für Hybris hält, ein in silico gezüchtetes System könne in Anspruch nehmen, lebendig und bewusst zu sein, kann man hier nicht anders als doch einen Griff in eine viel zu hohe Schublade zu konstatieren. (Ist es doch schon fraglich, ob ein echtes Eichhörnchen wirklich fähig ist, "Spaß zu haben".)

Wenn man Grands Weltbild ernst nimmt - und es gibt gute, von vielfacher Seite abgesicherte Gründe, es zumindest als Paradigma zu tun - dann heißt das nicht nur, dass wir in der Lage wären, eine Art zweiter Schöpfung in Gang zu setzen, die erstmals in der Erdgeschichte nicht auf Kohlenstoff und Wasser basiert. Dann heißt das auch, dass wir das nicht als Götter tun würden. Gott hat in einem solchen "bottom-up" Universum, wenn überhaupt, seinen Platz nicht als prima causa, sondern als Oberste Emergenz, als (wie Emerson es nannte) "Oversoul". Was wir bestenfalls tun könnten wäre, den Urknall zu liefern. Den Rest müsste kein Frankenstein, sondern das Leben selbst erledigen.

(Steve Grand: Creation - Life and How to Make It, London, Weidenfeld & Nicolson, 2000, 230 S., 18.99 Britische Pfund)