Der Virus von Thüringen ist überall
Wie aus demokratischen Wahlen Diktatur und Oligarchie hervorgehen und was dagegen zu tun ist
Der Grundfehler der Parlamentarischen Demokratie ist die Diskrepanz zwischen dem mittelalterlichen Wahlverfahren (Kandidaten und Parteien ankreuzen) und der technischen Entwicklung von 200 Jahren. In der Zeit nach dem Entwurf der repräsentativen Demokratie, etwa seit 1790, sind vielfältige neue Möglichkeiten für Politik und Gesellschaft entstandenen:
Telekommunikation, Plakatdruck im Offset-Verfahren, Demoskopie, universelle Medienpräsenz, Transportmöglichkeiten, Massenveranstaltungen mit Lautsprecher-Beschallung... All das wird von den Gewählten oder zu Wählenden aktiv eingesetzt, um die Wähler zu beeinflussen.
Die technischen Entwicklungen haben so eine Ohnmacht der Wählerinnen und Wähler gegenüber den gewählten Vertretern erzeugt und erst recht gegenüber höher Delegierten und mit jeder Stufe der Entwicklung hat sich dieses Missverhältnis weiter verstärkt.
Schon die Erfindungen von Mikrofonen, Lautsprechern und Radiosendern hat vor knapp 100 Jahren den Trend begünstigt, dass aus der parlamentarischen Demokratie heraus in mehreren Ländern Diktaturen entstanden sind. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Italien, Spanien und später in vielen "Entwicklungsländern".
Auch der Totalitarismus unter Lenin und Stalin ist erst durch die Kommunikationstechnik und die darauf basierende Propaganda möglich geworden. Das setzt sich bis heute fort in der Türkei, auf den Philippinen, in Afrika und in Staaten der ehemaligen Sowjetunion, um nur einige Beispiele zu nennen. Die Technik des Fernsehens hat das Problem nicht gelöst, sondern seit 60 Jahren weiter verschärft.
Entwicklung zur Postdemokratie
Gewählte Repräsentanten können durch Anwendung all dieser Technik ihr Mandat auf vielfältige Weise bestärken, die ihnen auf Zeit verliehene Macht immer weiter ausdehnen und die Aufmerksamkeit auf ihre Person und ihre Partei konzentrieren. Dadurch sind jetzt, auch in den Staaten, die sich als freie westliche Demokratie sehen und so bezeichnen, Strukturen entstanden, die der Demokratie frontal widersprechen und den Unwillen der Wählerinnen und Wähler verursacht haben.
Etliche Schlagworte bezeichnen diese Situation: Wählerfrust, Postdemokratie, Demokratiemüdigkeit, Misstrauen gegen Eliten, Neofeudalismus, Oligarchie der Herrschenden. All diese Schlagworte treffen irgendwie zu; denn die verfassungsmäßige Demokratie ist zu einer Scheindemokratie entartet, die hauptsächlich in Medien stattfindet und zwischen den Wahlen keine Beeinflussung der Gewählten durch die Wähler zulässt.
Die Menschen spüren ihre Ohnmacht. Ein Spruch, der das schon seit Jahren karikiert, lautet:
"Wahlen bewirken nichts, sonst wären sie verboten."
Dieser Spruch ist nur ein Witz; denn die Realität ist die, dass Wahlen das entscheidende Element der demokratischen Kulisse sind. Wahlen werden nicht verboten, sondern im Gegenteil, in den Medien werden sie aufgebauscht, immer wieder durchgekaut, analysiert und in die Diskussionen gebracht. Neuerdings gerne in Form von (hypothetischen) "Neuwahlen", die keiner haben will, die aber ständig von Politikern in Debatten gefordert werden.
Das Internet als Massenmedium
Das Sein bestimmt das Bewusstsein, zwar nicht sofort, sondern erst nach längerer Zeit. Das neue Sein ist die Realität des Internets, an dem sich jeder aktiv beteiligen kann, nicht nur passiv als Zuschauer oder Hörer oder Leser. Das Internet ist interaktiv wie das Gespräch am sprichwörtlichen Stammtisch oder (zu Zeiten Goethes) der ständige Briefwechsel.
Das Internet aber ist ein Massenmedium und zwar das erste interaktive. Dadurch hat sich die Massenkommunikation total verändert, sie hat sich zu Gunsten der bisher Ohnmächtigen verschoben und das Internet hat den Frust über die bestehende Postdemokratie auf die Tagesordnung gebracht.
In dieser Entwicklung, in der das Internet das Bewusstsein durch interaktive Kommunikation verändert, stecken wir alle erst mitten drin. Mit "wir alle" sind diejenigen gemeint, die einen Text wie diesen lesen und darauf antworten, kommentieren und auch selber schreiben. Diese Möglichkeit zur Diskussion sollten "wir alle" zur Wiederauferstehung von Demokratie nutzen.
Perversion der demokratischen Mehrheit
Das Bisherige war die Vorrede. Es geht um Systemfehler der parlamentarischen Demokratie, das sind Fehler, die seit Jahrzehnten aus der ohnmächtigen Situation der Wähler gegenüber den Gewählten entstanden sind.
Schon lange ist bekannt, mit welcher Unmäßigkeit sich gewählte Vertreter bereichern, absichern und für viele Jahre unentbehrlich machen. Wenn es dabei in Südafrika, Angola, Weißrussland, Kenia, Zimbabwe oder Kasachstan noch krasser zugeht als bei uns, ist das kein Grund, vor den Systemfehlern in der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union die Augen zu verschließen. Im Gegenteil, Extreme können uns helfen, die Symptome zu erkennen.
Die Vorgänge in Thüringen haben gezeigt, mit welcher Dreistigkeit parlamentarische Vertreter ihr Mandat missbrauchen. Wenn ein Gremium den Wählerwillen so verdreht, dass der Repräsentant von 5% Wählerstimmen zum Regierungschef bestimmt wird. Und dann wird auch noch im Fernsehen (zur besten Sendezeit) behauptet, das wäre Demokratie und derjenige, der die meisten Stimmen erhalten hat, wäre abgewählt.
Wie kommt eine solche Realsatire zustande? Es war nicht die Idee eines Einzelnen, sondern der Mehrheitsbeschluss eines Landesparlamentes mit Zustimmung von Parteigrößen, die sich erst später verbal abgesetzt haben.
Systematische Verengung des Spektrums
Der Verrat am Wählerwillen beginnt mit der Bildung von Koalitionen. Die Koalition mehrerer Parteien in einem Parlament gilt als selbstverständlich, aber sie dient im Normalfall der Selbstermächtigung von Parteigrößen, die sich über den Willen der Wähler und über den Auftrag der Verfassung hinweg setzen.
Die Wähler haben ein Parlament gewählt, das den Pluralismus in der Gesellschaft widerspiegeln soll. Dieses Parlament soll entscheiden, indem die Abgeordneten miteinander verhandeln und letztlich zu einem Ergebnis kommen, das den Willen der Wähler (statistisch) abbildet. Das wird, im guten Glauben an die Rechtschaffenheit der Delegierten, dadurch erreicht, dass die Repräsentanten "nach bestem Wissen und Gewissen" frei entscheiden dürfen.
Parteigrößen haben aber in undurchsichtigen Verhandlungen etwas anderes entschieden, nämlich, dass nur die Abgeordneten einer gewissen "Koalition" mitbestimmen und alle anderen für die gesamte Wahlperiode von den Entscheidungen ausgeschlossen sind. Die anderen könnten dann gleich vier Jahre lang in Urlaub gehen.
Natürlich wird das in den Medien nicht so kommuniziert, sondern es wird mit dem Wort "Opposition" beschönigt. Was nutzt dem Volk, das zum großen Teil anderer Meinung ist als die Koalition, was nutzt uns diese sogenannte parlamentarische Opposition, die wie ein totes Gleis fungiert, auf das die Wünsche vieler Wähler für wenigstens vier Jahre abgeschoben werden?
Doch es kommt noch schlimmer. Die Abgeordneten der Koalition werden verpflichtet, vier Jahre lang so abzustimmen, wie es die Fraktionsführung und damit die Koalitionsspitze im Koalitionsvertrag beschlossen haben. Mit dieser Praxis dominiert im besten Fall eine Mehrheit innerhalb der parlamentarischen Mehrheit und das wird, gemäß der Multiplikation von Brüchen, in den meisten Fällen eine Minderheit sein, bezogen auf das Parlament und die Wählerschaft. (Die Hälfte der Hälfte ist nur ein Viertel.) Auf diese Weise verfälscht eine Koalition den Wählerwillen.
Das Parlament soll echt entscheiden
Warum dann nicht eine Minderheitsregierung, die man besser Parlamentarische Regierung nennt? Die stärkste Partei stellt die Chefin oder den Chef und das Parlament stimmt offen, nach bestem Wissen und Gewissen, über die Vorschläge der Regierung ab. In der Regierung sollten auch Leute von den Parteien als Minister sitzen, die weniger Stimmen bekommen haben. So würde der Wille der Wähler respektiert und nicht, wie üblich, das Diktat eine Oligarchie von Berufspolitikern durchgesetzt. Eine solche Parlamentarische Regierung wäre innerhalb der bestehenden Verfassung die lebendigere Lösung und mehr Demokratie als die Bequemlichkeit einer GROKO.
Die Bildung von Koalitionen ist ein nicht notwendiges Übel der parlamentarischen Demokratie, das uns selbstverständlich erscheint, weil es schon immer so praktiziert wurde. Auch die Unterdrückung von Frauen in der Politik war vor 100 Jahren ein Übel, das in den meisten Demokratien selbstverständlich war, weil es so praktiziert wurde. Nichts, was falsch ist, darf selbstverständlich sein.
Mehrheitswahlrecht und Präsidentenwahl
Für das Problem mit den Koalitionen gibt es seit ewigen Zeiten in der repräsentativen Demokratie zwei Scheinlösungen:
- Das Mehrheitswahlrecht, bei dem nur Abgeordnete ins Parlament kommen, die in einem Wahlkreis gesiegt haben.
- Die präsidiale Demokratie, bei der ein Präsident direkt gewählt wird.
Beide Wege führen nicht zu mehr, sondern zu weniger Demokratie, wie gleich erläutert wird, ganz besonders aber die Kombination der beiden Methoden. Das hat sich in den USA sehr deutlich gezeigt. Wir müssen nicht unbedingt Namen nennen. Es gibt genügend Beispiele.
Das Mehrheitswahlrecht führt, über längere Zeit angewandt, zum Zweiparteiensystem. Die beiden Parteien wechseln sich ab in der Regierung. Dabei müssen sie sich inhaltlich einander angleichen, doch in der Öffentlichkeit befehden sie sich bis aufs Messer. Die kleinsten Unterschiede werden aufgebauscht und im Kampf um die Mandate werden sie zu erbitterten Feinden. Diese Entwicklung lässt sich in den USA schon lange beobachten. Es nutzt nur den Medien und den Werbeagenturen.
Noch gefährlicher für die Demokratie ist eine Präsidentenwahl. Das Modell ist deshalb beliebt, weil es in den USA praktiziert wird, aber es konzentriert zu viel Macht und Aufmerksamkeit auf eine Person, was absolut nicht mehr zeitgemäß ist. Päpste, Könige, Kaiser und Diktatoren sind nicht das Ziel von Demokratie, sondern deren Feindbilder.
Die direkte Wahl eines Präsidenten ist ein falscher Schritt in die falsche Richtung. Es schafft eine Position von der aus sich eine Diktatur leicht aufbauen und eine Zeit lang demokratisch verbrämen lässt. Zu beobachten jetzt beim Untergang der Demokratie in der Türkei.
Mehr Demokratie ist Direkte Demokratie
Die meisten populistischen Führer und Parteien tendieren dahin, die Probleme der parlamentarischen Demokratie im 21. Jahrhundert mit weniger Demokratie und mehr Propaganda zu lösen. Alle echten Demokraten sollten sich energisch dagegen stellen, nicht weniger, sondern mehr Demokratie fordern und mit allen Mitteln eine Trendwende einleiten. Das Wahlverhalten zeigt schon länger, dass dieser Trend bereits besteht: Abkehr von den großen Parteien, buntere Wahlergebnisse, die das Bilden von Koalitionen erschweren.
Vielleicht kommt dann die Einsicht, dass eine Parlamentarische Regierung, wie hier schon kurz skizziert, besser ist als das überkommene Schema, nach dem ein Koalitionsvertrag abgearbeitet wird und die Politik dem Ausgleich von Interessen zwischen Interessenverbänden (Finanzen, Industrie, Gewerkschaften, Verbraucher) dient.
Noch besser ist natürlich Direkte Demokratie in jeder erreichbaren Form. Dem stehen die Parteien entgegen, deren Interesse es ist, Direkte Demokratie zu verhindern. Das geschieht im Einklang mit den Öffentlich Rechtlichen Medien, die von den Parteien finanziell verwöhnt und über den Rundfunkrat vorsichtig reglementiert werden.
Direkte Demokratie ist übrigens auch die vernünftigste Lösung für die Europäische Union, wenn denn je eine Union zustande kommen sollte. Die Schweiz hat es vorexerziert. In einem Staatenbund mehrerer Völker und Sprachen ist Direkte Demokratie die praktikabelste demokratische Lösung, weil man sich in verschiedenen Sprachen viel besser auf Sachentscheidungen als auf die Beurteilung und Wahl von Personen und Parteien einigen kann.
Im digitalen Zeitalter des Internets ist eine Form von Direkter Digitaler Demokratie angesagt, die allerdings noch entworfen, entwickelt und programmiert werden muss. Keine Zeit für risikoloses Dahinplätschern. Wir brauchen Bewegung, sonst bewegt uns nur das Klima.
Rob Kenius ist Diplomphysiker und freier Autor, sein Buch zum Thema: Neustart mit Direkter Digitaler Demokratie.