"Der Winter naht": Herbstdepressionen und Dichter

Bild: Privat.

Anders als geknickt ist die Welt im Moment nicht mehr zu ertragen. Dazu eine steile These und die Verpflichtung des Menschseins zum Optimismus. Bruce Willis hilft.

Wer immer mich in diesen Tagen fragt, ob ich eine Herbstdepression habe, dem sei gesagt: "Nein! Ich bin ganzjährig depressiv und stolz darauf!"

Anders als geknickt ist die Welt im Moment nämlich nicht mehr zu ertragen. Warum sollte das im Herbst dann intensiver der Fall sein als während des Kölner Karnevals? Die Logik einer Herbstdepression macht keinen Sinn.

Das zeigt sich auch in den einschlägigen Gedichten, wie beispielsweise bei Rainer Maria Rilkes Deutschunterricht-trächtigem Gedicht "Herbsttag" von 1902. Darin stellt er die steile These auf:

"Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben."

Aber wer kann sich bei den heutigen Gebäudeenergiegesetzen noch ein Haus bauen? Und wer bleibt eingedenk einer Scheidungswahrscheinlichkeit von 35,15 Prozent nicht lieber prophylaktisch freiwillig alleine, und zwar umso länger, desto lieber?

Indiziert das Mitleid Depressiven gegenüber nicht vielmehr die Angst der Dummen vor denjenigen, die mehr wissen?

Zumindest behaupten Psychologen: Intelligenz und Depressionen gehen Hand in Hand. Denn angeblich bemerken Depressive einfach viel mehr von dem, was den weniger High-Gifteds entgeht.

Der Schriftsteller Gottfried Benn definierte darum Glück als "dumm sein und Arbeit haben" – und so kreuzunglücklich, wie er immer ausgesehen hat, ist anzunehmen, dass er in wahrscheinlich jeder Jahreszeit klug genug für diese Arbeitsthese gewesen sein muss.

Kriegsausbrüche im Osten machen das Ganze nicht besser

Dass im Herbst Blätter, Stimmungen und Temperaturen fallen, führt beim Menschen zu einer schiefen Serotonin-Melatonin-Lage. Kriegsausbrüche im Osten machen das Ganze nicht besser. Ein Ausgleich durch Sonnenlicht und Kohlehydrate ist möglich, weshalb die Evolution Weihnachtsbeleuchtungen und Lebkuchen hervorgebracht hat.

Nicht wenige Tiere verbringen darum ab Herbst gleich mehrere Monate in einem Dauerschlaf. Nicht wenige Menschen verbinden souverän die Phänomene Frühjahrsmüdigkeit, Sommerloch, Herbstdepression und Winterschlaf zu einer kunstvollen Einheit.

Im direkten Vergleich sehen Tiere dabei in der Regel besser aus. Einschlägigen Tiervideos auf Facebook nahezukommen, daran arbeite ich noch. Denn es ist auch in meinem Leben Herbst geworden.

Als ich im Oktober meine Schildkröte im Keller eingemottet habe, wurde mir klar, wie sehr wir beide eine genetische Anlage zur Faltenbildung im Gesicht teilen. Aber würden wir sie uns nicht teilen, hätte jeder von uns beiden doppelt so viele Falten. Die Sichtweise entscheidet, und das Menschsein verpflichtet zum Optimismus.

Es entscheiden selten Fakten über den Fortgang der Dinge, sondern oft das, was man daraus macht – und in diesem Licht besehen ist der Herbst an sich doch eine ganz wunderbare Jahreszeit. Wenn nur diese Müdigkeit nicht wäre.

Ich hätte genauso gut mein Hirn eben der Schildkröte ablegen können, es funktioniert ohnehin nicht mehr. Dann müsste ich es nicht den ganzen Herbst und Winter mit herumtragen. Nur sähe es im Frühjahr genauso aus wie die Schildkröte und bestünde die Gefahr einer Verwechslung.

Aber ich könnte in dem frei gewordenen Stauraum Rosmarin parken. Der hilft angeblich gegen jahreszeitenbedingte Konzentrationsprobleme. Hab ich dann aber vergessen, einzukaufen.

Ich bin seit September zu einem Experten für Demenz geworden, auch theoretisch. Ich google das Thema jeden Tag – und am nächsten Morgen erscheinen mir die geöffneten Fenster am Rechner wie nie vorher gesehen.

Wo steht das Auto?

Das Schöne an der Herbstdemenz ist: An den langen, dunklen Abenden kann man sich alte Filme ansehen wie das erste Mal. Alte Bücher sind wieder spannend und schön lange vorhandene Lebenspartner erfrischen durch scheinbar ganz neue Einfälle, insofern sie nicht zu sehr darüber erzürnt sind, dass man ihren Namen vergessen hat.

Rilke hatte von all dem wohl gewusst, als er meinte, jemand wie ich würde im Herbst dann "wachen, lesen, lange Briefe schreiben. Und wird in den Alleen hin und her unruhig wandern, wenn die Blätter treiben". Ja, da hat er recht.

Wenn ich mir im Moment schon nie merken kann, wo ich mein Auto geparkt habe, werde ich nicht nur auf Parkplätzen hin und her wandeln. Wenn aber "Der Winter naht" (das ist der Wahlspruch der Familie Stark in "Game of Thrones"), dann ist irgendwann auch der Frühling wieder schneller da als gedacht.

Lassen Sie es mich mit den Worten eines anderen deutschen Dichter formulieren, von denen ich hoffe, dass sie ein Samenkorn der Hoffnung setzen mögen in unseren dunklen Gemütern:

"Im Herbst bei kaltem Wetter fallen vom Baum die Blätter. Donnerwetter. Im Frühjahr dann, sind wieder welche dran. Sieh mal an.“ (Heinz Erhardt).

Denn warum im Herbst auf Galgenhumor verzichten?

"Jetzt erst recht!“ (so der Untertitel des dritten Teils von "Stirb langsam" mit Bruce Willis, gebürtiger Idar-Obersteiner).