Der algorithmische Zwang zum Bösen
Alles an GTA IV ist aktualisiert und auf Hochglanz gebracht worden - nur nicht die Vorwürfe der Gewaltspiele-Gegner
Mit Grand Theft Auto IV erscheint der neunte Teil der populären Action-Renn-Shooter-Reihe aus dem Hause Rockstar. Rechtsanwalt Jack Thomson nimmt Teil am Erfolg, indem er den nächsten einer Reihe von Vorwürfen gegen die Spielserie vorbringt – dieses Mal als Brief an die Mutter des Publishers formuliert, der wir beispringen möchten.
Liebe Mrs. Zelnick,
in der vergangenen Woche haben Sie wahrscheinlich einen Brief erhalten – oder Ihnen ist zugetragen worden, dass ein gewisser Jack Thompson, seines Zeichens Rechtsanwalt und Videospielegegner, einen Brief an Sie verfasst und diesen dann öffentlichkeitswirksam publiziert hat.
Sein Schreiben handelt von Ihrem Sohn, seiner Arbeit und der Frage, wie weit Videospielhersteller zu gehen bereit sind. Aus seinem Brief wird aber auch deutlich, welche methodischen und historischen Kapriolen die Gegner bereit sind zu schlagen, um ihre Sicht der Moral allgemeinverbindlich zu machen.
Your son last week was reported to have said the following about Grand Theft Auto IV, due to be released Tuesday, April 29: “We’ve already received numerous [GTA IV] reviews, and to a one, they are perfect scores. My mom couldn’t write better reviews…” Taking your son’s thought, I would encourage you either to play this game or have an adroit video gamer play it for you. Some of the latter gamers are on death row, so try to find one out in the civilian population who hasn’t killed someone yet.
Schon aufgrund des letztens Satzes sehe ich mich berufen, Ihnen, was GTA IV angeht, ein wenig unter die Arme zu greifen: Ich habe das Spiel nämlich gespielt (wenn auch noch nicht durchgespielt) und einen brauchbaren ersten Eindruck gewonnen. Dieser ermöglicht es mir Ihnen zu sagen, worüber Thornton sich echauffiert.
Obwohl ich mich – auch jenseits von Videospielen – mit zeitweise etwas abseitigen Kulturprodukten beschäftige, darf ich mich doch zu denjenigen zählen, die weder jemanden umgebracht haben, noch in der Todeszelle sitzen. Todeszellen für Videospieler gibt es hierzulande noch nicht, offensichtlich aber in den USA, denn dort scheint das Gewaltspieleproblem, wie Thompson weiter ausführt, wesentlich virulenter zu sein als in Deutschland:
What you will see in your son’s game, if this iteration of GTA is anything like its predecessors, is incredible interactive violence aimed at police officers (whom you can shoot in the head and see the blood spray), innocent bystanders (whom you can run over with your car just for the heck of it), and of course the plentiful female prostitutes you can have sex with and then filet with a knife or stomp with your feet in order to get your money back. Experts note that the recent plethora of cop killings is caused in part by your darling son’s entrepreneurial energy. There are three policemen dead in Alabama because of Grand Theft Auto. I was on 60 Minutes about it. I hope Strauss has provided you with a flat screen tv to see the grief of the bereaved families that fills the screen.
Vielleicht kennen Sie, Mrs. Zelnick, den kanadischen Filmregisseur David Cronenberg. Der hat einmal gesagt: „Zensoren machen etwas, das man eigentlich nur von Psychotikern erwartet: Sie verwechseln Illusion und Realität miteinander.“
Wenn Sie den Brief Jack Thompsons genau lesen, dann werden Sie diese Verwechslung darin auch finden. Drei Polizisten sind in Alabama wegen GTA getötet worden. Die genauen Umstände derer Tode sowie die Verbindung zur Spielserie lässt Thompson zwar im Dunkeln, ist sich aber sicher, dass es eine direkte Beziehung zwischen der virtuellen Welt von GTA und seiner Wahrnehmung der Ereignisse in Alabama gibt. Wie er dazu kommt, also warum er Virtualität und Realität miteinander verwechselt will ich versuchen, Ihnen anhand von GTA IV zu erläutern.
Brave New World
Ich weiß nicht, ob Sie bereits Kontakt mit einem der Spiele der GTA-Reihe hatten. In der neunten Folge der Bestseller-Serie werden Sie jedoch mit einer bereits bekannten Standard-Grundkonstellation konfrontiert: Dieses Mal spielen Sie als der serbische Immigrant Nico Bellic einen ehemaligen Soldaten des Balkankrieges, der auf falsche Versprechungen seines Cousins Roman in die USA nach Liberty City reist, um dort den American Dream zu leben.
Was Bellic in der Stadt, die in sehr vielen Details dem New York Ihrer Wirklichkeit entspricht, vorfindet, ist jedoch genau das Gegenteil dessen, was ihm versprochen wurde. Anstatt eines luxuriösen Lebens mit großbusigen Frauen und Geld im Überfluss sind es nur die Kakerlaken in Romans Appartement, die außergewöhnlich groß sind.
Roman ist fast pleite, sein Taxiunternehmen läuft mehr schlecht als recht und ständig sind ihm Kredithaie auf den Fersen, die seine Spielschulden eintreiben wollen. Da Blut bekanntlich dicker als Wasser ist, unterstützt Nico seinen Cousin, indem er ihm die Ganoven vom Hals hält und kleinere Aufträge für ihn ausführt.
Nico und Roman sind Figuren der Halbwelt. Mit Gewalt und Verbrechen versuchen sie sich Geld und Luxus zu verschaffen, lassen sich mit der italienischen und der russischen Mafia ein, operieren in Schutzgelderpresserringen, stehlen Autos und gehen – wenn es hart auf hart kommt – über Leichen, auch über Polizistenleichen. Die Ordnungshüter stehen aber auch nicht ausschließlich auf der Seite des Gesetzes, sind korrupt und brutal.
Zwischen den kleinen und großen Gaunereien versuchen die Cousins ein bisschen Farbe in ihr tristes Prekariatsleben zu bringen, spielen Dart, gehen kegeln, besuchen Clubs mit an- oder ausgezogenen Frauen und hoffen darauf, eine Begleiterin fürs Leben zu finden. Zusätzlich scheint Ihre Spielfigur Nico aber auch noch auf der Suche nach einem alten Landsmann zu sein, wie ich in verschiedenen Handlungszusammenfassungen des Spiels gelesen habe. So weit, das selbst herauszufinden, habe ich GTA IV aber noch nicht gespielt. Das Spiel ist noch recht neu und ich bin nicht der Einzige, der es noch nicht zur Gänze kennt.
Sex and Crime
Jack Thompson hat nach eigenem Bekunden noch gar keinen Blick auf GTA IV werfen können. Er meint, dies aber auch nicht zu müssen, wenn sich sowieso die Grundkonstellationen der Vorgänger darin wieder finden:
The pornography and violence that your son trafficks in is the kind of stuff that most mothers would be ashamed to see their son putting into the hands of other mothers’ children, but, hey, your son Strauss has recently assured the world that he is “a Boy Scout, everybody knows that.” I’d love to see the merit badges that Scout Troop handed out. Is there a Ted Bundy merit badge? If so, your loving son deserves one now. It should be red and green, for obvious reasons.
Eine aparte Spekulation, die Thompson Ihnen hier unterbreitet (und die zeigt, welches Gewaltpotenzial im Gehirn des Juristen zu finden ist – um es einmal mit seinen eigenen Worten zu formulieren). In der Tat ähnelt der neueste Clou Ihres Sohnes dessen vorherigen strukturell in vielem. Das liegt einerseits am Genre, das eben gewisse erzählerische Grundkonstellationen verlangt, andererseits natürlich am Versuch, Kohärenz zwischen den einzelnen Teilen von Grand Theft Auto herzustellen. In allen Teilen geht es darum, eine Kleinkriminellenbiografie auszubauen und sich vom Gauner zum großen Ganoven hochzuarbeiten. Der Tellerwäscher-Millionär-Mythos, der dahinter steht, kommt Ihnen sicherlich bekannt vor.
Wie die Vorgängerteile bezieht sich auch GTA IV in etlichen Details auf real existierende Vorbilder. Manche Rezensenten hierzulande attestieren dem Spiel deswegen gar sozialkritisches Potenzial. Die Übereinstimmungen scheinen kein Zufall zu sein, sondern geplant: Stadtteile von Liberty City verweisen auf New Yorker Bezirke, es gibt sogar die Travestie einer Freiheitsstatue mit einem Starbucks-Kaffeebecher anstelle der Fackel in der Hand und wohl auch die Gewalt- und Kriminalitätsstatistiken der Metropole sind mit in die Spielehandlung eingegangen.
Sie könnten also mit Fug und Recht den argumentativen Spieß umdrehen, dessen Spitze Thompson an die Kehle Ihres Sohnes hält und behaupten: Ohne die mehr oder weniger grausame Realität gäbe es GTA IV und ähnliche Spiele gar nicht. Spiel und Realität scheinen sich also irgendwie gegenseitig zu begingen. Unser deutscher Politiker Gregor Gysi dieses Paradox einmal treffend formuliert: „Sollen nackte Körper und Gewalt aus unserem Fernseher verbannt werden? Nackte Körper gehören glücklicherweise, Gewalt unglücklicherweise zu unserem Leben. Also lautet die eigentliche Frage: Soll das Leben aus unseren Fernsehern verbannt werden?“
Verführerische Komplexität
Was kann Jack Thompson nun bereits seit Jahren dazu bringen, Realität und Virtualität miteinander zu verwechseln, wenn er glaubt, durch das Verbot von Spielen wie GTA IV würden weniger Kinder auf Polizisten schießen und dann in Todeszellen landen? Es mag vielleicht das simulative Konzept der Spielereihe sein, das von Teil zu Teil immer weiter verfeinert wurde. Nicht nur hat die Grafik und damit die Detailausgestaltung seit dem Erscheinen des ersten Teils im Jahre 1999 bis heute deutlich an Qualität gewonnen.
Auch die Darstellung des Lebens in der virtuellen Stadt ist mehr und mehr verfeinert worden. In GTA IV kann man – um nur einige Beispiele zu nennen – beobachten, wie sich Passanten in den verschiedensten Situationen realistisch verhalten, die Fahreigenschaften von vielen Fahrzeugen wurden differenziert ausgearbeitet, die sozialen Interaktionen zwischen Ihrer Spielfigur Nico Bellic und seiner Umwelt sind situationsangemessen gestaltet worden. Ja, man kann sogar innerhalb der Virtualität von GTA IV in eine Virtualität zweiter Ordnung abtauchen und in Internetcafés im Web surfen, um dort auf den Seiten von Partnersuchbörsen Frauen kennen lernen.
Wem das zu viel der Virtualisierung ist, der kann mit GTA IV auch allein oder in Vierer-Gruppen Kontaktzu anderen Spielern aufnehmen und über ein Menü in eines von zwölf Minispielen gegen Netzwerkgegner antreten. Dann müssen Rennen gefahren, Autos geklaut oder kleinere Aufgaben erfüllt werden. Die Netzwerk-Anbindung ist bei Videospielen der jüngeren Generation ein Muss und verhilft nicht nur zur Interaktivität, sondern auch zur potenziellen Grenzenlosigkeit des Spielvergnügens. Für GTA IV sollen künftig Missions- und Terrain-Erweiterungen angeboten werden, die das Spiel zu einer unendlichen Aufgabe machen können.
„Und der Stadt Gassen soll sein voll Knaben und Mädchen, die auf ihren Gassen spielen.“ (Sacharja 8,5)
Mrs. Zelnick, Ihnen wird aufgefallen sein, wie wenig Jack Thompson Ihren Sohn und seine Arbeit mag. Als gottesfürchtigem Menschen ist es ihm ein Graus, die Kinder durch die Spiele von Rockstar Games verführt zu sehen. Zwei Bibelzitate führt der Rechtsanwalt an, um die Bedeutungsschwere seines Ansinnens zu unterstreichen – eine Geste, die gerade bei Ihnen in den USA ihre Wirkung nicht verfehlen soll. Kinder, die Spiele wie GTA IV spielen, lernen darin Teufelshandwerk, und derjenige, der ihnen diese Spiele gibt, muss der Teufel selbst (oder mit ihm vergleichbar) sein:
Your son, this very moment, is doing everything he possibly can to sell as many copies of GTA IV to teen boys in the United States, a country in which your son claims you raised him to be “a Boy Scout.” More like the Hitler Youth, I would say. Happy Mother’s day, Mrs. Zelnick, which this year is May 11, two weeks after your son unleashes porn and violence upon other mothers’ boys. I’m sure you’re very proud.
Sie sehen: Nicht einmal zwei Schreibmaschinenseiten hat Jack Thompson gebraucht, um zu Godwins Reductio ad Hitlerum zu gelangen. Damit versucht er natürlich nicht nur die linke und die rechte Kammer Ihres Mutterherzens zu treffen, sondern bringt auch mich als deutschstämmigen Briefeleser und Videospieler in die Gelegenheit, mich an Sie zu wenden.
Irgendwie fühle ich mich selbst auch schon ein bisschen schuldig und getroffen. In meiner Heimatstadt hängen nicht wenige GTA-IV-Werbeplakate, im Fernsehen habe ich schon mehrfach Werbespots zum Spiel gesehen und gespielt habe ich es, wie gesagt, ja auch schon. Die unschuldige, ja beinahe kindische Freude, die mich dabei ergriffen hat, nachts mit einem virtuell gestohlenen Auto eine virtuelle regennasse Stadtautobahn entlang zu fahren und dabei aus dem virtuellen Autoradio der Musik Philip Glass’ zu lauschen, wird ein wenig geschmälert, wenn ich daran denke, dass ich jetzt vielleicht auch als Hitlerjunge gesehen werde, weil ich allzu lobend über GTA IV und allzu ironisch über Kurzschluss-Denker wie Jack Thompson (oder hierzulande Uwe Schünemann) schreibe.
Sei’s drum! Als meine Aufgabe habe ich es gesehen, Ihnen das Spiel kurz vorzustellen, damit Sie im Gegensatz zu Ihrem Brieffreund Jack Thompson wissen, worüber Sie schreiben, wenn Sie ihm antworten. Sagen Sie ihm einen schönen Gruß von mir und legen Sie ihm den Erwerb von GTA IV ans Herz. Wenn er die Todesmaschinerie Ihres Sohnes damit nicht finanzieren will, kann er es ja einfach irgendwo stehlen. Wie das funktioniert, kann er sich in einer der Vorgängerversionen beibringen lassen.
Sincerely, Stefan Höltgen
Grand Theft Auto IV. Rockstar Games, Vertrieb: Take2. PS3-Version und Xbox-360-Version: 54,95 Euro. Keine Jugendfreigabe (in Deutschland)