Der dritte Mann
Kim Philby, John le Carré und die Welt im Spiegel
Verrat im Blut: Kim Philby wird Doppelagent
Jetzt leidet er wieder für uns: James Bond, der berühmteste Geheimagent Ihrer Majestät der Königin. Die Bond-Rolle scheint so viel Körpereinsatz zu verlangen, dass die PR-Industrie uns regelmäßig mit den neuesten Nachrichten darüber versorgen muss, bei welcher Kletterei, welchem Kampf oder welcher Verfolgungsjagd sich Daniel Craig gerade wieder was verletzt hat. Die Wirklichkeit sieht ganz anders aus. Aber wie wirklich ist die Wirklichkeit? Und wie fiktional sind erfundene Spionagegeschichten? Ein Blick hinter die Kulissen.
Das Vorbild für James Bond soll Commander Patrick Dalzel-Job gewesen sein. Er gehörte zu einem britischen Geheimkommando, das im 2. Weltkrieg in Frankreich hinter den feindlichen Linien operierte. An diesen Aktionen war auch der Bond-Erfinder Ian Fleming beteiligt, allerdings eher vom Schreibtisch aus. 1940 widersetzte sich Dalzel-Job einem Befehl seiner Vorgesetzten und sorgte dafür, dass der norwegische Ort Narvik einen Tag vor der deutschen Bombardierung evakuiert wurde, obwohl das den Deutschen klar machte, dass man ihre Pläne ausspioniert hatte. Dadurch rettete er 4 500 Menschen das Leben. Aber während James Bond zur Roman- und Kinolegende wurde, blieb Dalzel-Job relativ unbekannt.
Der berühmteste der echten Agenten aus dem Vereinigten Königreich heißt Philby. Kim Philby. Damit sind wir bereits wieder mitten in der Fiktion. Eigentlich hieß er Harold Adrian Russell Philby. Sein Vater nannte ihn zuerst Kimbo und dann Kim, nach dem Titelhelden des gleichnamigen Romans von Rudyard Kipling. Kiplings Held ist der Sohn eines Soldaten der britischen Kolonialarmee, der unter Indern aufwächst. Kim gehört gleichzeitig zu zwei verschiedenen Kulturen, und zu keiner richtig. Und er spielt das, was Kipling das „große Spiel“ nennt. Kim ist Spion. Und Kim Philby, „der erfolgreichste Spion des 20. Jahrhunderts“, spukt bis heute durch den britischen Spionageroman.
Schon Königin Elizabeth I. unterhielt eine Spionageorganisation, von der sie Informationen über die Spanier und andere Feinde bezog. Aber der moderne britische Geheimdienst hat seine Wurzeln in Indien. Das riesige Kolonialreich wurde von ein paar tausend Mann kontrolliert. Ohne die „geheime Abteilung“ der Kolonialregierung wäre das kaum möglich gewesen. Sie deckte Verschwörungen auf, vereitelte Aufstände und führte einen verdeckten Kampf gegen die Geheimagenten des russischen Zaren Alexander II., die versuchten, den indischen Nordwesten zu infiltrieren. Das war der Stoff, aus dem Kipling seinen überaus erfolgreichen Roman machte. Als Kim 1901 erschien, erfuhren die Leser von der Größe des britischen Empire, von romantischen Abenteuern weit weg von zuhause und von den inneren und äußeren Bedrohungen, denen das Empire ausgesetzt war. 1963, als fast jede westliche Zeitung auf der Titelseite über Kim Philby berichtete, wiederholte sich das. Nur mit dem Unterschied, dass von der Romantik und vom Empire nicht mehr viel übrig war. Und Philby war nicht der Held, sondern, wie einer seiner Biographen es formuliert, „möglicherweise der größte nicht gehängte Schuft in der modernen britischen Geschichte“.
Erdöl und Staubsauger: Philby sen. macht Karriere
Kim Philby wurde am 1. Januar 1912 in Indien geboren. Sein Vater, Harry St. John Bridger Philby, war Beamter der Kolonialregierung. 1917 wurde St. John auf die arabische Halbinsel geschickt, nach Riyadh, um dort eine politische Vertretung zu etablieren. Die Reise veränderte sein Leben. Philby wurde der Ratgeber von Ibn Saud und blieb es bis zu dessen Tod 1953. Er wurde Arabist, Forschungsreisender und eine enorm einflussreiche Figur in der modernen Geschichte Arabiens. St. John Philby muss man wohl auf eine Stufe mit T.E. Lawrence stellen, den wir besser kennen als ihn, weil es David Leans Film Lawrence of Arabia gibt.
Nach dem 1. Weltkrieg waren die Briten bemüht, den Mittleren Osten neu zu ordnen und vor allem dort, wo große Erdölvorkommen gefunden worden waren oder vermutet wurden, ihnen genehme Herrscher einzusetzen. Die meisten Vorteile versprachen sie sich von Hussein von Mekka, der in direkter Linie vom Propheten Mohammed abstammte. Durch ihn und seine Familie wollten sie die arabische Welt und deren Bodenschätze kontrollieren. So ließen sie etwa 1921 einen von Husseins Söhnen, Prinz Feisal, zum König von Bagdad ausrufen. Feisal hatte unter T.E. Lawrence den arabischen Aufstand gegen die Türken angeführt. Jetzt war er König des Irak, eines nach deren Bedürfnissen zurechtgeschneiderten Mandatsgebiets der Briten. Die Anglo-Iraq Oil Company war damals dabei, zur größten Erdölfirma der Welt zu werden.
In dem von Ibn Saud kontrollierten Gebiet war nach Überzeugung der Briten nicht mit bedeutenden Erdölvorkommen zu rechnen. Dieser Fehleinschätzung wegen spielte der von Philby unterstützte Herrscher in den Plänen der britischen Regierung eine untergeordnete Rolle. Er war ein lokaler Stammesführer, und das sollte er auch bleiben. Philby begeisterte sich für die pan-arabische Idee: ein geeintes Arabien unter einem starken Führer. „König der Araber“ sollte Ibn Saud werden. Philby brachte das dauernd in Konflikt mit seinen Vorgesetzten. 1925 wurde er gefeuert. Seiner eigenen Darstellung nach schied er freiwillig aus dem Staatsdienst aus, weil die Briten ihre Versprechen den Arabern gegenüber gebrochen hatten und er nicht länger für eine korrupte Regierung tätig sein wollte.
1925 war auch das Jahr, in dem Ibn Saud seinen Rivalen Hussein aus Mekka vertrieb. Damit legte er den Grundstein für das Königreich Saudi-Arabien. Für Philby eröffnete das neue Möglichkeiten. Aus rein pragmatischen Gründen (er war Atheist) konvertierte er zum Islam. Ibn Saud schenkte ihm eine junge Sklavin, mit der er in Riyadh eine Zweitfamilie gründete; seine Frau Dora und sein Sohn Kim lebten in England. Weil es finanziell nicht besonders lukrativ war, der Wesir von Ibn Saud zu sein, verdiente er sein Geld mit eher banalen Dingen. Auf der arabischen Halbinsel übernahm er die Generalvertretungen für den Automobilhersteller Ford, Singer-Nähmaschinen und eine Staubsaugerfirma. Wenn er nicht gerade Nähmaschinen verkaufte, unterminierte er die britische Vormachtstellung. Ob er das aus gekränkter Eitelkeit und aus Geltungssucht tat, oder weil ihm wirklich nur das Wohl der Araber am Herzen lag, oder weil er charakterliche Defizite hatte und aus Prinzip gegen das Establishment opponierte, ist umstritten.
Gold gegen Papiergeld: Standard Oil wird arabisch
St. John Philby hatte gleichermaßen Sympathien für die Sowjetunion wie für die USA. Die Amerikaner hielt er für Anti-Imperialisten, die nur am Geschäft interessiert waren, im Gegensatz zu den Briten aber nicht daran, in Regionen, in denen sie ihr Geld investierten, auch die politische Kontrolle auszuüben. Später dachte er um, aber vorläufig bestimmte das sein Handeln. Die Amerikaner wurden zunehmend von der Angst geplagt, dass ihre Erdölreserven zur Neige gehen und sie erneut in Abhängigkeit vom alten Kolonialherrn Großbritannien geraten könnten. Die US-Ölindustrie versuchte deshalb seit 1919, angeführt von der Firma Standard Oil of California, im Mittleren Osten Fuß zu fassen. Das war schwierig. Die einzige Fluglinie in der Region war britisch, die meisten Schifffahrtslinien waren britisch, die Telekommunikation war in britischer Hand. Die Herrscher der ölreichen Staaten Arabiens wurden von den Briten finanziell und militärisch gestützt. Dafür hatten sie Großbritannien das Recht abgetreten, den Teil ihrer Angelegenheiten zu regeln, der mit dem Ausland zu tun hatte. Die Amerikaner brachten keinen Fuß in die Tür zum Mittleren Osten, die von den Briten so sorgfältig bewacht wurde.
Das änderte sich 1932, als sich Philby in London mit einem Vertreter von Standard Oil traf. Die Amerikaner wollten in Saudi-Arabien nach Öl bohren, und Philby sollte als Vermittler zwischen Standard Oil und Ibn Saud fungieren. An einer Ölbohr-Konzession war auch die britische, in enger Anbindung an das Außenministerium agierende Anglo-Persian Oil Company interessiert. Philby sagte später, dass er bei gleichwertigen Bietern den mit dem besseren Angebot bevorzugt hätte. Aus politischen Gründen habe er jedoch die Amerikaner favorisiert, deren Handlungsweise damals noch völlig frei von imperialistischen Bestrebungen gewesen sei. Also spielte er ein doppeltes Spiel. Dem Vertreter der Anglo-Persian sagte er, dass seine Firma die besten Aussichten habe. Das entsprach der Wahrheit, denn Ibn Saud hätte lieber mit den Briten abgeschlossen. Philby wollte das verhindern. Ans Ziel kam er letztlich durch einen verblüffend einfachen Trick. Ibn Saud wollte Gold und auf keinen Fall Papiergeld akzeptieren. Philby sagte das nur den Amerikanern. Die Anglo-Persian ließ er in dem Glauben, mit indischen Rupienscheinen bezahlen zu können.
Am Ende der nur scheinbar fair und offen geführten Verhandlungen standen die Amerikaner als Sieger da. Im Mai 1933 wurde der Vertrag unterzeichnet. Bei dieser Gelegenheit beschlossen Ibn Saud und sein Kronrat, ihren Staat, der bisher einen langen, umständlichen Namen hatte, in „Königreich Saudi-Arabien“ umzubenennen. Mit dem Vertrag, bei dessen Verlesung König Ibn Saud mehrfach eingeschlafen sein soll (man musste dann warten, bis er wieder aufgewacht war), sicherte sich die Standard Oil ein echtes Schnäppchen. Ibn Saud erhielt einen Sofortkredit in Höhe von 35 000 Pfund (in Gold) und zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal 20 000 Pfund. Diese Kredite wurden mit dem verrechnet, was Ibn Saud sonst noch zu bekommen hatte: Eine jährliche Miete von 5 000 Pfund in Gold und zusätzlich vier Schilling für jede geförderte Tonne Öl. Die Amerikaner durften dafür Erdölfelder ausbeuten, die sich als die reichsten der Erde erweisen sollten. Bald gab sich auch die Standard Oil of California einen neuen Namen: Arabian American Oil Company. Man kann nur darüber spekulieren, welchen Lauf die Dinge ohne St. John Philby genommen hätten. Der von ihm eingefädelte Deal markiert jedenfalls einen entscheidenden Moment in der Geschichte des 20. Jahrhunderts – einen Moment, der uns bis heute beschäftigt.
Philby wurde Monopolist. Er erhielt von Ibn Saud als einziger das Recht, mit Motorfahrzeugen Pilger auf der Strecke zwischen Jedda und Mekka zu transportieren. Die Standard Oil gab ihm einen Beratervertrag, der ihm ein jährliches Honorar von 1 000 Pfund (umgerechnet etwa 5 000 Dollar) garantierte. Angesichts der Milliarden, die mit den saudi-arabischen Ölfeldern verdient wurden, war das eine lächerlich geringe Summe. Mag sein, dass er wirklich ein Idealist war, wie er das von sich behauptete. Oder er war einfach ein schlechter Geschäftsmann. Interessanterweise nahmen amerikanische Spione das Geschick und die Verschlagenheit, mit denen Philby die Verhandlungen geführt hatte, als Beweis dafür, dass er ein britischer Geheimagent war; davon ließ man sich selbst 20 Jahre später noch nicht abbringen. Es gibt auch Gerüchte, dass er ein Agent der Russen gewesen sei, was zu Spekulationen darüber geführt hat, dass sein Sohn Kim von ihm angeworben wurde. Für viele Briten ist St. John Philby schlicht ein Verräter. Einer Theorie nach ging es ihm primär um den Verrat, nicht um irgendeine gute Sache. Kim sei erblich vorbelastet gewesen und deshalb in die Fußstapfen seines Vaters getreten. Er habe den Verrat gleichsam im Blut gehabt. Das hat auch einem 1994 erschienenen Standardwerk über die beiden Philbys den Titel gegeben: Treason in the Blood von Anthony Cave Brown.
Kommunistische Studenten: Die Cambridge Five
St. John Philby verachtete das britische Establishment, dem er selber angehörte und von dem er auch nicht lassen wollte. Er schrieb Artikel für die Times, war Mitglied eines vornehmen Clubs in London, und als die Dinge in Saudi-Arabien einmal nicht so liefen, wie er es sich vorgestellt hatte, strebte er einen Sitz im Unterhaus oder eine Universitätskarriere an. Sein Sohn sollte wie er die Vorteile nutzen, die das britische Erziehungssystem für die Privilegierten bereitstellte. Beide Philbys besuchten die Westminster School, damals eine der sieben wichtigsten Privatschulen des Landes. Der Vater hatte in Cambridge studiert, der Sohn tat es auch. Etwa zur gleichen Zeit wie Kim schrieben sich Guy Francis de Moncey Burgess und Donald Duart Maclean in Cambridge ein. Die drei Kommilitonen gehörten zu einer Gruppe, die man später als die „Cambridge Five“ bezeichnen würde: Fünf Cambridge-Absolventen, die für den sowjetischen Geheimdienst arbeiteten.
Guy Burgess und wohl auch Kim Philby wurden von Anthony Blunt in einen exklusiven Debattierclub eingeführt, der sich „The Society“ nannte. Die Mitglieder (die „Apostel“) leisteten einen Eid, mit dem sie ewige Verschwiegenheit gelobten. Die Apostel sahen sich als eine Elite innerhalb einer Elite, als eine Gruppe von Auserwählten, deren Aufgabe es war, eine schlechte Gesellschaft besser zu machen. Das, dachten sie, erfordere die Zusammenarbeit mit der Kommunistischen Partei. Die KP galt ihnen als die einzige gesellschaftliche Kraft, die stark genug war, im Kampf gegen die Nazis und den Faschismus zu bestehen. Einige Mitglieder der Society führten bald ein Doppelleben. Auch der Kunsthistoriker Anthony Blunt, der sich später um die Gemäldesammlung von Königin Elizabeth II. kümmerte, war einer von den Cambridge Five.
Der Kapitalismus steckte in einer schweren Sinnkrise. Keine der etablierten Parteien hatte ein überzeugendes Konzept, wie der Arbeitslosigkeit und den immer größer werdenden Gefahren für den Frieden wirkungsvoll zu begegnen war. Inzwischen hatte die Weltwirtschaftskrise auch die Elite-Universitäten erreicht, deren Absolventen nicht mehr wie selbstverständlich damit rechnen konnten, in London eine gutbezahlte und prestigeträchtige Stelle zu finden. Im Cambridge der frühen 1930er war es nichts Ungewöhnliches, ein Kommunist zu sein. Die meisten von denen, die damals der KP beitraten oder mit ihr sympathisierten, dachten später um, z.B. nach dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939. Einige wenige taten es nicht.
Abenteuer in Wien: Philby betritt den Untergrund
Kim Philby hat gelegentlich erzählt, dass er Kommunist wurde, als er während der Weltwirtschaftskrise den industriellen Norden von England bereiste. Im Herbst 1933, als er von Cambridge abging, fasste er eine Karriere im diplomatischen Dienst ins Auge. Um sein Deutsch aufzupolieren, fuhr er nach Wien. Dort geriet er mitten in bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen zwischen Rechten und Linken. Philby erlebte mit, wie zwei Arbeitersiedlungen, der Karl-Marx-Hof und der Goethe-Hof, durch das Artilleriefeuer der rechtsextremen Heimwehr zerstört wurden. Das scheint ihn zu der Überzeugung gebracht zu haben, dass der demokratische Sozialismus dem Faschismus hoffnungslos unterlegen war.
Philby half Arbeitern, die den Beschuss überlebt hatten, sich in der Kanalisation zu verstecken. Dann schloss er sich einer Organisation an, die steckbrieflich gesuchte Sozialisten und Kommunisten außer Landes schmuggelte. Das war gefährlich und wie in einem Abenteuerroman. Ihm zur Seite stand die junge Kommunistin Litzi Friedman. Kim hatte in Cambridge einige homosexuelle Begegnungen gehabt, aber kaum Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht gesammelt. Litzi war da schon weiter. Sie soll genau gewusst haben, wie sie ihre Reize am besten einsetzen konnte; doch das ist vielleicht nur üble Nachrede. Jedenfalls war die Polizei auf ihre Untergrund-Aktivitäten aufmerksam geworden. Kim heiratete Litzi im Februar 1934, weil ihr das einen gewissen Schutz bot und sie mit einem britischen Pass problemlos nach England ausreisen konnte.
John le Carré schrieb 1968, dass die Philby-Geschichte noch immer unvollständig sei, wie ein nicht abgeschlossener Roman, in dem möglicherweise sogar die Hauptfigur noch immer fehle:
Im Leben von Burgess, Maclean und Philby können wir die Handschrift dieser Person ausmachen, ihren Einfluss, ihren Schatten: nie sehen wir ihr Gesicht oder hören wir bewusst ihren Namen. Es ist die Person, die für die Sowjets rekrutiert hat. Denn diese Männer wurden rekrutiert. Von wem? Zwischen dem Alter von 19 und 21 Jahren, so scheint es, wurden sie erkannt, wurde ihnen der Hof gemacht und wurden sie bewusst zu einem Leben des Betrugs und der Verstellung verführt. Von wem? Als sie erwachsen wurden, und als der jugendliche Traum von einem abenteuerlichen Kreuzzug durch Langeweile und die Ängste des kriminellen Verrats abgelöst wurde, wer bestärkte sie da in ihrem Glauben?
Le Carré hat diesen „nicht abgeschlossenen Roman“ fertig geschrieben und die fehlende Hauptfigur dazuerfunden: Karla, den Chef der russischen Gegenspionage in seinen Romanen um den britischen Geheimagenten George Smiley.
Kim Philby nannte den Mann, der ihn am 1. Juni 1934 im Londoner Regent’s Park ansprach und ihn fragte, ob er nicht für die Sowjetunion arbeiten wolle, „Otto“. Inzwischen weiß man, dass der Mann Arnold Deutsch hieß und ein Bekannter von Litzi Friedman war. Deutsch, ein Schüler von Wilhelm Reich, arbeitete in Wien als Psychologe und als Sexualtherapeut. Er gehörte zu einer Bewegung, die glaubte, dass Männer durch unbefriedigende Leistungen beim Sex in den Faschismus getrieben wurden. Daher sah er es als seine politische Aufgabe an, dem männlichen Proletariat eine Sexualtherapie angedeihen zu lassen. Die Wiener Sittenpolizei ermittelte gegen ihn. Deshalb – und nicht, weil er verdächtigt worden wäre, ein russischer Agent zu sein – floh er im April 1934 von Wien nach London, wo es ihm gelang, als politischer Flüchtling anerkannt zu werden.
Ein Orden vom General: Philby färbt sich um
Philby wollte der KP beitreten. Deutsch riet davon ab wie Karla bei le Carré. Aufgrund der widersprüchlichen Haltung der westlichen Demokratien gegenüber der Sowjetunion sei es von größter Wichtigkeit, zu erfahren, was sich zwischen diesen Demokratien und den faschistischen Staaten abspielte. Solche Informationen könne nur jemand erhalten, der selbst so tat, als würde er zur Bourgeoisie gehören, statt sich offen zum Kommunismus zu bekennen. Das entsprach einer neuen Direktive aus Moskau, die dazu aufforderte, Personen anzuwerben, die geeignet schienen, die britischen Nachrichtenorgane zu penetrieren. Im Juli 1934 wurde Philby von Deutsch formell rekrutiert. „Man überlegt es sich nicht zweimal“, sagte er nach seiner Flucht nach Moskau, „wenn man das Angebot bekommt, für eine Eliteorganisation zu arbeiten.“ Die Ausbildung zum Agenten scheint ganz ähnlich gewesen zu sein wie die, die in Kiplings Roman Kim beschrieben wird.
Zwischen Philby und Deutsch, der Kim nur „Söhnchen“ nannte, bestand ein Vater-Sohn-Verhältnis. Eine der ersten Aufgaben, die das Söhnchen erhielt war die, über alle Personen, die er kannte und die er traf, Kurzbiographien zu schreiben. Philby war sehr gut darin, in wenigen Sätzen den Charakter einer Person zusammenzufassen. Daraus wurde eine Routine, die er die nächsten 25 Jahre lang beibehielt. Auf Grundlage dieser Kurzcharakteristiken warb Deutsch die anderen vier Mitglieder der Cambridge Five an, darunter Burgess und Maclean. Burgess machte kein Hehl aus seiner Homosexualität und hatte sehr viele Kontakte. Deutsch übergab er eine Liste mit über 200 Namen von Sexualpartnern. Viele davon waren dabei, eine politische, militärische oder akademische Karriere zu machen und dürften später erpresst worden sein. Es war eine amoralische Welt, in der sich Kim Philby nun bewegte. Er selbst benutzte Burgess später als Boten und als Verführer.
Um in den diplomatischen Dienst aufgenommen zu werden, brauchte Philby die Empfehlung seiner Professoren in Cambridge. Diese lehnten ab, weil sie wussten, dass er sich in kommunistischen Kreisen bewegt hatte. Philby zog den Antrag daraufhin zurück. Um sich umzufärben, wurde er – auf Deutschs Anweisung hin – Mitglied der Anglo-German Fellowship. In dieser Gesellschaft trafen sich einflussreiche Persönlichkeiten, die nicht unbedingt mit Hitler sympathisierten, die aber dafür eintraten, die Beziehungen zwischen Deutschland und Großbritannien aufrecht zu erhalten und zu verbessern. Philby arbeitete inzwischen als Journalist. Seine neuen Freunde halfen ihm dabei, eine Presseakkreditierung für das Hauptquartier von General Franco zu erhalten. Im Februar 1937 brach er nach Spanien auf, um für den Evening Standard vom Bürgerkrieg zu berichten. Berichte schickte er auch an die Russen. Außerdem verfolgte die Mission das Ziel, den britischen Geheimdienst, der nicht weit von Francos Hauptquartier operierte, auf sich aufmerksam zu machen.
Kims Vater hatte seit 1926 immer wieder für die Times als Korrespondent gearbeitet. Bei dem Blatt hatte St. John viele Freunde. Jetzt ließ er seine Kontakte spielen. Kim wurde Sonderkorrespondent der Times. Philby jun. war nun Absolvent von Westminster und Cambridge, und er schrieb für das Blatt, das sich selbst „die Zeitung für Spitzenleute“ nannte. Um die Aufnahme in das Establishment perfekt zu machen, sorgte St. John dafür, dass sein Sohn dem Athenaeum Club beitreten durfte. In diesem Club verkehrten Minister, Bischöfe, Botschafter, hohe Richter, Strippenzieher aller Art. Eine bessere Tarnung konnte es für einen russischen Spion gar nicht geben. Und von Franco wurde er sogar noch mit einem Orden dekoriert.
Interessante Beschäftigungen: Philby wird Maulwurf
Von Zeit zu Zeit traf sich Philby mit dem russischen Geheimagenten Alexander Orlov, einem seiner Ausbilder. Als Orlov „zu Konsultationen“ nach Moskau zurückgerufen wurde, glaubte er, dass er liquidiert werden sollte. Er setzte sich mit Frau und Kindern nach Amerika ab. Dem russischen Geheimdienst schrieb er einen Brief, in dem er drohte, dass sein amerikanischer Anwalt die Identität von 66 hochrangigen Agenten, die er in Europa kontrolliert hatte, lüften werde, falls ihm oder seiner Familie etwas zustoßen sollte. Stalin nahm daraufhin den bereits erteilten Mordauftrag zurück, und Orlov scheint sich bis zu seinem natürlichen Tod an seinen Teil der Abmachung gehalten zu haben. Aber Philby musste in den nächsten Jahrzehnten stets damit rechnen, dass ihn Orlov doch noch verraten würde. Das muss Spuren hinterlassen haben.
Ein „Maulwurf“ zu werden, wie die Doppelagenten bei John le Carré heißen, war gar nicht leicht. Zuerst musste Philby Agent werden. Da es den britischen Geheimdienst offiziell nicht gab, konnte er sich nicht bewerben. Er musste entdeckt werden. Im Sommer 1940 hatte er es endlich geschafft. Ein ältliches Fräulein namens Marjorie Maxse bat ihn zu einem Treffen, bei dem ihm Miss Maxse ein „interessantes Beschäftigungsverhältnis“ anbot und etwas von einer Regierungsstelle raunte. Bei einem zweiten Treffen warb sie ihn an. Vielleicht verlief es so wie bei Bickham Sweet-Ascot, der zur gleichen Zeit Agent wurde und seine Erlebnisse in einem Buch (Baker Street Irregular) beschrieben hat. Sweet-Ascot wurde ins Kriegsministerium bestellt. In einem unmöblierten Raum wurde er von einem Offizier in Zivil erwartet, „der Sherlock Holmes äußerst ähnlich sah“. Der Offizier tat sehr geheimnisvoll: „Ich kann Ihnen nicht sagen, welche Art von Arbeit es sein würde. Ich kann nur sagen, dass Sie, falls Sie sich uns anschließen, keine Angst vor Fälschungen haben dürfen und dass Sie keine Angst vor Mord haben dürfen.“
Den Geheimdienst als feste Institution gab es erst seit ungefähr 30 Jahren. Der diplomatische Dienst und das Militär hatten immer wieder Spione beschäftigt, wenn es gerade erforderlich schien. Wirkliche Erfolgserlebnisse waren rar. Viele Aktionen britischer Agenten lesen sich wie die komischen Einlagen in einer Operette. 1909 beschloss der „Ausschuss für imperiale Verteidigung“ die Gründung eines Security Service, auch bekannt als MI 5. Dieser Sicherheitsdienst hatte eine defensive Aufgabe: Er sollte fremde Mächte daran hindern, britische Staatsgeheimnisse auszuspionieren. 1911 wurde ihm der Secret Intelligence Service zur Seite gestellt. Der SIS (auch bekannt als MI 6) war offensiv ausgerichtet: Er sollte die Geheimnisse anderer Länder ausspionieren. Beide Dienste wurden von honorigen, nicht immer sehr phantasievollen Berufsoffizieren aus der britischen Mittelschicht dominiert. Wer einmal eine Führungsposition innehatte, war praktisch unkündbar. Der Flexibilität der Dienste, ihrer Fähigkeit, sich rasch auf neue Situationen einzustellen, tat das nicht gut.
Viele Geheimdienstler scheinen sich bemüht zu haben, Richard Hannay zu imitieren, den John Buchan durch eine Reihe von Spionageromanen unsterblich gemacht hat (einer davon, The 39 Steps, diente Hitchcock als Vorlage für einen seiner besten Filme). Vielleicht war es auch umgekehrt. In der Welt der Spionage lässt sich ohnehin schlecht sagen, was Fiktion ist und was Realität. Das ist kein Wunder. John Buchan war genauso beim Geheimdienst wie Dennis Wheatley, William Somerset Maugham (der Autor von Ashenden, der Vorlage für Hitchcocks Secret Agent), Ian Fleming, Graham Greene oder John le Carré. Besonders die von Fleming im 2. Weltkrieg erdachten Operationen wirken so, als habe er bereits für die absurderen Momente in den Bond-Romanen geübt. Auch Kipling soll in Indien für die Briten spioniert haben (das ist nicht belegt). Und die erste Aufgabe, die der nach Kiplings Romanheld benannte Kim Philby als russischer Geheimagent zu erfüllen hatte, das auf den Punkt gebrachte Verfassen von Kurzbiographien, wäre auch eine gute Übung für angehende Schriftsteller. John le Carré, der selbst vom Spion zum Autor wurde (und eigentlich David Cornwell heißt), hat über die Gemeinsamkeiten der beiden Berufe viel nachgedacht. Bei Philby bemängelt er allerdings die „dürre Postamtsprosa“. Graham Greene fand, dass er gut schreiben konnte, hielt seine Charakterstudien für „bewundernswert, wenn auch nicht sehr freundlich“. Wer sich selbst ein Urteil bilden will, lese Philbys Memoiren: My Silent War.
Die geheime Welt
Die Exekutive des MI 5, die „Special Branch“ von Scotland Yard, war aus der zur Bekämpfung irischer Nationalisten eingesetzten „Irish Special Branch“ hervorgegangen. Im Sicherheitsdienst kamen auch Leute unter, die in Indien primär Erfahrungen mit dem administrativen Teil von verdeckten Ermittlungen gesammelt hatten. Das Rückgrat des MI 5 war das riesige Archiv, in dem die von den Polizisten der Special Branch zusammengetragenen Informationen verwahrt wurden. Nach Ausbruch des 2. Weltkriegs wurde der MI 5 in aller Eile vergrößert und nach Wormwood Scrubbs verlegt, einem viktorianischen, an Schauerromane erinnernden Gefängnisbau. Der Umzug verlief chaotisch. Oft erzählt wird die Geschichte von dem Anstaltsgeistlichen, der noch glaubte, in seiner Kapelle vor Strafgefangenen zu predigen, obwohl dort bereits Geheimagenten saßen.
Der MI 5 wurde noch immer von dem Mann geleitet, der ihn 1909 gegründet hatte: Major-General Sir Vernon Kell. Seinen Laden führte er, wie ein Historiker schreibt, „wie ein Kavallerie-Regiment vor der Panzer-Ära“. Nach der Vergrößerung brauchte er viele neue Archivarinnen. „Alle meine Mädchen“, gab Kell als Devise aus, „müssen aus gutem Hause stammen und schöne Beine haben.“ Eingestellt wurden junge Frauen aus der Mittel- und der Oberschicht, weil Kell davon überzeugt war, dass nur die unteren Schichten zum Verrat neigten. Bewerberinnen mussten in einem Fragebogen angeben, ob sie einen Adelstitel hatten; ob sie tippen und Akten ablegen konnten oder die Rechtschreibregeln kannten, war nicht so wichtig. Die Adresse des neuen Hauptquartiers war „streng geheim“. Bevor der Bus der Linie 72 vor dem Gefängnis hielt, rief der Fahrer: „Zum MI 5 alles umsteigen!“ Das fanden alle sehr amüsant. Die jungen Archivarinnen brachten Picknickkörbe mit und versammelten sich nachmittags auf der Wiese vor Wormwood Scrubbs, als machten sie eine Landpartie. Nach Dienstschluss erzählte man sich in den Salons der guten Gesellschaft amüsante Geschichten über das Arbeiten beim Geheimdienst.
Jede Abteilung der Regierung, wie jedes Geschäft, jedes Parlament, jede Schule und jeder Berufstand, hat ihren gerechten Anteil an den Idioten der Welt zu tragen. Es gab nie einen Grund für die Annahme, dass der Geheimdienst von dieser Verantwortung entbunden sein sollte.
John le Carré
Der MI 5 soll über ein geniales Archivierungssystem verfügt haben, das es ermöglichte, innerhalb von wenigen Minuten alles Wissenswerte über jeden Polit-Aktivisten und jeden Subversiven zu erfahren. Das ist der Mythos, der in solchen Fällen umso mehr aufrecht erhalten werden muss, je größer die Sammelwut wird. Die Realität war weniger glorreich. Alle Verdächtigen mit dem Nachnamen Smith wurden unter „Schmidt“ eingeordnet, weil die Archivleitung offenbar unter fortgeschrittener Xenophobie litt. Unter „B“ fanden sich zwei Personen, die an der Veranstaltung einer linken Gruppierung teilgenommen hatten und die der humorlose Agent aus einem Anwesenheitsbuch abgeschrieben hatte: „Mr. Fred Buggery“ (buggery = Analverkehr) und „Miss Maisie Bigtitz“. Wenn sich ein Butler seiner Herrschaft gegenüber unverschämt verhalten hatte, war das ebenso eine Karteikarte wert wie wenn jemand eine Petition für die Abschaffung der Buchzensur unterzeichnet hatte.
Der MI 5 hatte mit einer Informationsflut zu kämpfen, die eine irgendwie geartete Orientierung zumindest sehr schwierig machte (das erinnert an die Stasi in den letzten Jahren der DDR). Das Ablagesystem war chaotisch. Oft musste stundenlang nach einer Akte oder einer Karteikarte gesucht werden. Die Archivarinnen hatten bald keine Lust mehr und gewöhnten sich an, Anfragen mit dem Stempel N.L.T. (no likely trace = vermutlich nicht vorhanden) zu versehen, wenn sie nicht suchen wollten oder sie das Gefundene für unwichtig hielten. Damit war man auf der sicheren Seite, weil alle wussten, dass die legendären Karteikarten des MI 5 überall und nirgends sein konnten. Wenn die bearbeitete Anfrage den MI 5 verließ, war oft aus dem „vermutlich nicht vorhanden“ ein „liegt nichts vor“ geworden.
1940 wurde das streng geheime Archiv von einer deutschen Bombe getroffen. Dadurch brach ein Feuer aus, in dem der Großteil der Unterlagen verbrannte. Zum Glück war kurz zuvor jedes einzelne Dokument abphotographiert worden. Dann stellte sich heraus, dass sich von einem Teil der Negative keine Abzüge machen ließen. Bei anderen Akten war der Kopiervorgang gelungen, aber die Agenten hatten vergessen, Einzelblätter mit dem Namen des Verdächtigen zu versehen. Nach diesem Desaster wurde Sir Vernon Kell entlassen und der MI 5 grundlegend umstrukturiert.
Shirley Temple und die Bürokraten: Wie sicher ist die Sicherheit?
Das Chaos beim MI 5 kann wenigstens Anhaltspunkte dafür liefern, warum Philby so problemlos den obligatorischen Sicherheitscheck durchlief. Die Russen waren der Hauptgegner des SIS, was noch auf die alten Auseinandersetzungen um die imperiale Vorherrschaft in Asien zurückging. Eigentlich hätten also angesichts von Philbys kommunistischer Vergangenheit die Alarmglocken schrillen müssen. Beim SIS erfuhr man aber nichts davon. Der MI 5 hatte entweder keine Akte über ihn, oder sie war verbrannt, oder man fand sie nicht, oder die Sachbearbeiterin sparte sich Arbeit, indem sie die Anfrage mit dem N.L.T. stempelte. Wie zufällig und oft absurd diese Sicherheitsüberprüfungen waren, zeigt der Fall von Graham Greene. Greene hatte 1938 eine Filmkritik geschrieben, in der er den Repräsentanten des Kinderstars Shirley Temple vorwarf, das kleine Mädchen aus Profitgier zu sexuellen Posen zu zwingen. Dafür war er wegen Verleumdung verklagt worden. Über den Prozess gab es beim MI 5 eine Akte. Greenes Aufnahme in den SIS wäre daran beinahe gescheitert.
Zwischen SIS und MI 5 gab es einen erbitterten Konkurrenzkampf, der viele Energien der beiden Dienste verschlang. Das hatte damit zu tun, dass die Kompetenzen auf eine Weise verteilt waren, die sich nicht immer mit der Realität in Einklang bringen ließ. Der SIS war für das Ausland zuständig, der MI 5 für das Inland. Damit betrieb der SIS den Teil der Gegenspionage, der in anderen Ländern stattfand, obwohl das eigentlich die Domäne des MI 5 war. Die Gegenspionage in den Kolonien fiel dagegen in den Bereich des MI 5. Es gab auch starke Animositäten zwischen den beiden Diensten, weil die jeweiligen Mitglieder eine ganz unterschiedliche Berufsauffassung hatten. Die Angehörigen des MI 5 verstanden sich als die Garanten der nationalen Sicherheit, von Recht und Ordnung. Für sie musste man etwas von einem Gauner haben, wenn man für den SIS arbeitete, der schließlich dauernd damit beschäftigt war, gegen die Gesetze anderer Länder zu verstoßen. Für SIS-Leute war der MI 5 nur eine bessere Form von Polizei; Bürokraten, die ihre Zeit am Schreibtisch verbrachten und keine Ahnung von echter Geheimdienstarbeit hatten.
Der Chef des SIS hieß nicht „M“ wie bei James Bond, sondern „C“. Die meisten Experten glauben, dieses Kürzel gehe auf den Gründer Mansfield Cumming zurück und dessen Nachfolger hätten den Anfangsbuchstaben seines Namens der Einfachheit wegen übernommen. Eine andere Theorie besagt, es habe einen Geheimcode gegeben, innerhalb dessen ein leitender Beamter im Finanzministerium als „A“ firmierte, sein Kollege im Außenmnisterium als „B“, der oberste Geheimagent als „C“ usw. Als John le Carré einen Mann erfand, der den Geheimdienst unter dem Decknamen „Control“ leitet, glaubten viele britische Zeitungen, dass das Rätsel nun endlich gelüftet sei. Vermutlich wird man nie erfahren, wie es wirklich war. Wenn zehn Geheimagenten aussagen sollten, dass das „C“ von Cumming kommt oder von Control, oder wenn amtliche Dokumente gefunden werden sollten, aus denen hervorgeht, dass wichtigen Behörden Code-Buchstaben von A bis Z zugeteilt wurden, wird immer jemand sagen, dass es sich um eine bewusste Desinformation handelt, um die wahren Zusammenhänge zu verheimlichen. Das liegt in der Natur der Geheimdienste.
Als Philby zum SIS stieß, verbarg sich Major-General Sir Stewart Menzies hinter dem „C“. Als Karikatur findet man ihn in Graham Greenes Roman Our Man in Havana. Menzies’ Mutter war eine Art Hofdame bei Queen Mary, und er soll jederzeit beim König vorgelassen worden sein, was damals noch wichtiger war als heute. Die Beurteilungen seiner Leistungen gehen weit auseinander. Einig sind sich die Experten darin, dass er sehr geschickt im Umgang mit anderen Behörden war. Zyniker werden sagen, dass er die eine Fähigkeit besaß, die der Chef eines britischen Geheimdiensts unbedingt haben musste: er vermittelte den Politikern das Gefühl, dass er keine Dummheiten machen werde. Politiker und Beamte fanden das Geschäft, das der SIS und der MI 5 betrieben, irgendwie beunruhigend und wollten lieber nicht zu viel darüber wissen. Sie wollten aber sicher sein, durch die Dienste nicht kompromittiert zu werden. In John le Carrés Smiley-Romanen kommt immer die – gelegentlich sehr lustige – Figur des Oliver Lacon zum Einsatz, die als Bote zwischen Ministerium und Geheimdienst fungiert und vor allem darauf bedacht ist, dass es keinen Skandal und keine schlechte Presse gibt. In Smiley’s People zwingt er dem armen Titelhelden ein Gespräch über die Ehe auf, das beweist, wie gut le Carré als komischer Autor ist.
In Menzies’ SIS waren viele aus der geheimen indischen Abteilung aktiv, die eher flamboyant und abenteuerlustig waren (wer mehr bürokratisch orientiert war, ging zum MI 5). Er selbst war auch kein Aktenfresser. Lieber verließ er sich auf seinen Instinkt. Wie Kell, sein Gegenüber beim MI 5, hatte er noch ein Urvertrauen in die britische Mittel- und Oberschicht. Ein Mann wie Kim Philby, scheint man sich beim SIS gesagt zu haben, der beste Schulen besucht hatte und Mitglied im Athenaeum Club war, konnte unmöglich ein Kommunist sein. Trotzdem bleibt es rätselhaft, warum man kaum Nachforschungen anstellte. Philby war nicht einmal besonders geschickt beim Verschleiern seiner Vergangenheit. Seit 1939 lebte er mit der in Indien geborenen Aileen Furse zusammen. Im September 1940, als er Angaben für seine Personalakte machen musste, teilte er seinem neuen Arbeitgeber mit, dass er mit Aileen verheiratet sei. Tatsächlich war er noch bis 1946 mit Litzi Friedman verheiratet, einer aktenkundigen Kommunistin. Das hätte sich ganz leicht herausfinden lassen.
Doppelte Doppelagenten
Allen Dulles, ab 1942 amerikanischer Geheimagent und später CIA-Chef, hat das Vorgefallene einmal so erklärt: Philby erzählte C bei seinem Eintritt in den SIS offen und ehrlich von seiner kommunistischen Vergangenheit und seinen Verbindungen zum russischen Geheimdienst. C stellte ihn mit dem Ziel an, ihn zum Doppelagenten aufzubauen – oder, richtiger, zum doppelten Doppelagenten, denn als Doppelagent arbeitete er nun schon für die Russen. Seine Aufgabe sei es gewesen, britische Doppelagenten zu führen, den deutschen Geheimdienst des Admiral Canaris zu penetrieren und den Russen falsche Informationen zuzuspielen. Damit ist noch nicht gesagt, dass Philby auch wirklich, wie von C erwartet, als doppelter Doppelagent arbeitete, oder ob er nur so tat als ob, oder ob er irgendwann entlang des Wegs wieder der Doppelagent der Russen wurde, als der er allgemein gilt. Es gibt auch keinen Beleg dafür, dass sich Philby C gegenüber tatsächlich offenbarte und dass dieser ihn in dem Wissen einstellte, dass die Russen ihn für ihren Agenten hielten. Eine Denkschule geht davon aus, dass C wusste, dass Philby für die Russen arbeitete und ihn zu seinem ahnungslosen Werkzeug machte. Andere SIS-Historiker sind aber überzeugt, dass Philby viel klüger war als sein Chef. Durchschaute er deshalb Cs doppeltes Spiel? Und wie nutzte er das für sich aus?
Verwirrend? Das geht nicht nur dem Laien so. Hier noch eine von verschiedenen Autoren vorgebrachte Theorie: Philby war der Doppelagent, für den man ihn meistens hält und arbeitete für die Russen. Um aber seine Informationen rückwirkend möglichst unbrauchbar zu machen, lieferte man den Russen nach seiner Enttarnung (wann das genau war, dazu gibt es wieder verschiedene Ansichten) Verdachtsmomente, die diese davon überzeugen sollten, dass Philby ein Maulwurf war, den die Briten bei ihnen eingeschleust hatten. Ein solches Misstrauen zu säen, wäre nicht weiter schwierig gewesen, denn der Verdacht gehörte zum Geschäft. Geheimdienste scheinen sich manchmal so sehr in der eigenen Geheimniskrämerei zu verwirren, dass sie selbst nicht mehr wissen, was echt ist und was nicht.
In John le Carrés Philby-Roman Tinker, Tailor, Soldier, Spy fühlt sich Smiley an die russische Puppe erinnert, in der, wenn man sie öffnet, immer noch eine Puppe steckt, in der eine Person nach der anderen enthüllt wird. Nur Karla, der Geheimdienstchef, habe die letzte kleine Puppe im Inneren des Verräters gesehen, denkt Smiley. Da täuscht er sich. Seit als Folge von Gorbatschows Perestrojka alte KGB-Akten freigegeben wurden, weiß man z.B., dass 1944 eine russische Agentin behauptete, Philby arbeite als Doppelagent für die Briten. Die folgende Untersuchung erbrachte dafür keine Beweise, aber die Anschuldigung blieb in der Akte. Es gab mehrere Phasen in Philbys Karriere, in denen die Russen tatsächlich glaubten, dass er in Wirklichkeit nicht für sie, sondern für die Briten arbeitete. Es gab auch kritische Momente, in denen Philbys jeweiliger Führungsoffizier fliehen musste, weil er kurz vor der Enttarnung stand. Bis sich ein Nachfolger meldete, war er von den üblichen Kanälen zur Informationsübermittlung abgeschnitten. Stalin glaubte aber nur, was von seinen russischen Agenten auf dem vorher genehmigten Weg übermittelt wurde. Wenn der Engländer Philby eine andere Möglichkeit fand, Nachrichten nach Moskau zu schicken, waren sie wertlos. Wenn sich ein Romanautor so etwas ausdenken würde, würde man ihn vermutlich auslachen.
Über wertlose Nachrichten konnten auch die Briten viel erzählen. Der SIS war so sehr auf Geheimhaltung bedacht, dass er sich standhaft weigerte, die Quellen der von ihm ausspionierten Informationen zu nennen. Cs Kunden konnten glauben, was er ihnen berichtete oder eben nicht. Oft gingen sie lieber auf Nummer Sicher und glaubten es nicht, weil sie nicht wussten, woher die Informationen stammten und sie deren Wert kaum einschätzen konnten. Le Carré treibt das in Tinker, Tailor auf die Spitze. Dort erfährt nicht einmal der Chef, Control, welcher Quelle einer seiner Untergebenen die geheimen Informationen verdankt, die er regelmäßig aus Moskau erhält.
Im Herbst 1941, das wenigstens scheint sicher, erhielt Philby eine Führungsposition in der Abteilung für Gegenspionage innerhalb des SIS. Er bekam jetzt ein Jahresgehalt von 600 Pfund. Das Geld wurde ihm wöchentlich ausbezahlt, bar und in neuen Scheinen, damit es möglichst wenig Spuren gab. Weil der SIS formell nicht existierte, hatte er keine Pensionsansprüche. Als Altersvorsorge konnte er jedoch einen Teil seines Gehalts bei einer sehr diskreten Firma einzahlen, die mit einer ebenso diskreten Privatbank in Verbindung stand. In le Carrés neuem Buch, A Most Wanted Man (als Marionetten soeben auf Deutsch erschienen), doziert ein Mann vom britischen Geheimdienst, wie wichtig solche diskreten Privatbanken gewesen seien, um im Kalten Krieg KGB-Überläufer bezahlen zu können. Russische Doppelagenten und britische Doppelagenten: sie alle machten Geschäfte mit derselben Bank.
Rollenspiele und Intrigen: Philby steigt auf
Philby erwarb sich rasch das Vertrauen seines neuen Chefs, Felix Cowgill, und begann dann, gegen diesen zu intrigieren. Das machte er sehr geschickt. Kim war allgemein beliebt. Er galt als charmant, klug, ruhig, fleißig, loyal gegenüber Vorgesetzten und Untergebenen, pragmatisch und völlig unideologisch. Der perfekte Kollege. Die Rolle spielte er so gut, dass einige seiner Mitarbeiter und Freunde später überzeugt waren, dass er an Schizophrenie litt, weil das sonst nicht möglich gewesen wäre. Zu seinen Fans gehörte auch Graham Greene, der unter ihm arbeitete. Das FBI und das neu formierte Office of Strategic Services (OSS), der Vorläufer der CIA, wollten ihre Agenten von den Briten ausbilden lassen, die in dem Ruf standen, über den besten Geheimdienst der Welt zu verfügen. Als Cowgill zu Gesprächen nach Washington reiste, führte Philby für ihn die Geschäfte. In dieser Zeit arbeitete er sich durch die „Source Books“ für Spanien, Portugal und die Sowjetunion. Darin sollen die wichtigsten Informationen zu allen britischen Agenten in diesen Ländern enthalten gewesen sein. Wie vielen dieser Agenten Philbys Fleißarbeit das Leben kostete, ist nicht bekannt. Auch nicht genau bekannt ist, welche Folgen es für den eben erst entstehenden Nachrichtendienst der USA hatte, dass seine Agenten dort ausgebildet wurden, wo Philby eine führende Rolle spielte.
Wie Philby seinen Vorgesetzten Cowgill stürzte, ist unklar. Es gilt aber als sicher, dass er ihn stürzte. Es war wohl eine Politik der Nadelstiche. Am Ende der Intrige war Philby Chef der für die Sowjetunion zuständigen Abteilung für Gegenspionage. Das war ideal. Der Maulwurf Philby wusste, welche britischen Agenten in der Sowjetunion und an deren Grenzen aktiv waren und konnte sie jederzeit verraten. Er konnte sich, ohne Verdacht zu erregen, mit russischen Agenten treffen, die er als Überläufer führte. Offiziell ließ er sich bei diesen Treffen über geheime Pläne der Russen informieren; tatsächlich erhielt er Falschinformationen für die Briten und übermittelte er echte Informationen nach Moskau. Genau so beschreibt es auch John le Carré in Tinker, Tailor, Soldier, Spy. Russische Agenten, die ihre Nützlichkeit verloren hatten, mussten offenbar damit rechnen, von Philby an die Briten verraten zu werden. Das erhöhte die Glaubwürdigkeit seiner „Informanten“. Manche Philby-Kenner halten ihn weniger für einen Schizophrenen als vielmehr für einen „pathologischen Nihilisten“, wie Anthony Cave Brown es nennt – angetrieben von einer krankhaften Lust an der Zerstörung.