Der endgültige Inhalt
Was ist eigentlich Cyber-Kunst, beziehungsweise "net.art"? Ändert sich der Charakter von Kunst durch die elektronischen Medien, und welchen Inhalt haben neue Kunstwerke am Netz? Gibt es ihn schon, den neuen Netzkünstler? Kann ein neues Medium eine neue Kunstbewegung begründen, oder was stimmt mit einer solchen Frage nicht?
TEIL I
"Alles ist falsch" - so stand es in großen Buchstaben auf dem Gemälde eines dänischen Künstlers, dessen Name mir entfallen ist, an der Manifesta Rotterdam 96. Was würde dieses Gemälde bedeuten, wenn es digitalisiert und als frei verfügbare Kopie aufs Netz gestellt würde? Wie kommunizieren die Segmente des Fortschritts und der Tradition des Kunstsystems innerhalb der neuen Medien?
Da gab es, traditionell, diese Frage nach dem Stofflichen, nach "Material und Gegenstand", nach der Qualität des Mediums, die der Künstler als Handwerker zu beherrschen und für die er ein "tiefes Verstehen" zu entwickeln hatte. Es ist das Bedürfnis nach Substanz und Objekthaftigkeit, welches der digitalen Medienkunst ihre bildhauerische Note gibt. In diesem Mangel ist sie plastische Kunst. Wenn "der Inhalt eines jeden Mediums immer ein anderes Medium ist" (McLuhan), vorzugsweise ein altes Medium, dann suche man sich besser einen Ausweg. Die Suche nach dem radikal neuen Medium reproduziert einen paradoxen Wunsch nach einer essentiellen Substanz, die sich hinter der nächsten Oberfläche verbirgt. Nennen wir es Identität, nennen wir es Präzenz, nennen wir es Bedeutsamkeit. Die formalen Regeln, die zu einem "goldenen Inhalt" führen, muessen erst noch definiert werden.
Der Ausverkauf der Zukunft.
Eher innerhalb denn außerhalb der Medien können wir gewisse Bruchlinien entdecken. Die Speichermanie der Inhaltsbastionen in Erwartung des entgültigen Abkassierens führt zu einer profanen Ästhetik voll panischer Produktionen und konzeptueller Sackgassen. In einer real existierenden Geschenksökonomie wie der des Webs ist nicht viel Geld zu machen, ohne etwas gratis zurückzugeben. Es ist sehr viel wahrscheinlicher, daß geschlossene Tauschzirkel untereinander handeln als daß ein üblicher Informationsaustausch eintritt über Schaltkreise, die schliesslich an der Wallstreet enden. Inzwischen versucht ein auto-erotischer digitaler Spiritismus mit dem "come together" als Teil seiner Rekonstruktion der messianischen christlichen Subjektivität, mit all den bekannten Nebeneffekten wie Priesterschaft und Frömmelei, den univeralen Körper ohne Organe zu erschaffen. Der "digitale Kunsthandwerker" (Richard Barbrook) bereist und erkundet diese mystifizierten Zonen, um die virtuellen Kathedralen und Tempel des Netz-Kommerzes mit alchemistischen "Inhalten" zu füllen.
Im kulturellen Sektor der "virtuellen Arbeiterklasse" arbeitet man hart daran, neue Vorgaben einer Cyber-Subjektivität zu entwickeln, an die sich die erwarteten Cyber-Massen dann anschließen dürfen. Viele ekstatische Netz-Intellektuelle sind mit dem Glauben gesegnet, die Führungselite des kommenden Netzvolks zu sein. Sie aktualisieren das modernistische Modell des Übermenschen in seiner Krise menschlicher Kräfte, um als Crash-Dummy gegen die Zeitwand des ausgehenden Millenniums geschleudert zu werden. Ohne Arbeitsrecht und ohne soziale Absicherung hat der Netzpionier noch wenigstens den Stolz, an der Front zwischen Kommerzialisierung und Institutionalisierung zu kämpfen.
Tatsächlich ist das Web immer noch ein Eldorado für Hobbyisten, Do it yourself arriere-garde Künstler, abenteuerlustige Unternehmer und evangelistische Ideologen. Die heroische Info-Arena für die Massen jedoch, eine metaphysische Macht-Architektur der Inhalte, schielt schon um die Ecke. Die Opfer dieser Entwicklung sind mehr als sichtbar, sobald wir nur unsere Terminals verlassen.
Des Kaisers neue Medien
Nicht König Inhalt hatte unrecht, sondern eine spezifische Form der Wahrnehmung. Die Essenz von Inhalten ist der soziale Kontext (Kontakte, Kommunikationen, Konflikte). Ein sozialer Rahmen braucht weder ein eigentliches Medium noch legt er eine spezielle Substanz fest, die seine Netzwerke füllt. Es sind Aktivitätszonen und Aufmerksamkeitsschwellen, es sind Machtbeziehungen und magische Schlüsselwörter, die dem Inhalt gleichzusetzen sind. Aber zuvorderst ist es die soziale Architektur der Glaubensinhalte und Normen, Erinnerungsschichten, die eher ein Potential darstellen, ein umgebendes Kraftfeld. Ein instabiler Fluß, der Wiederholungen produziert, der selektiert und Grenzen und Normen durch Zeitlichkeit setzt. "Setz dich zum Inhalt und bleib zur Konversation" (www.minds.com). Wer sind die Produzenten? Wer macht den Profit? Wer ist verantwortlich? Die Aggregate einer kollektiven Subjektivität oder frei auftauchende Marktkräfte? Eine große soziale Skulptur oder eine anonyme, maschinenhafte Substanz/Essenz, den Cyberstrom irgendwie von "außen" informierend? Wer das glaubt, wird jemanden in dessen Namen finden.
Aufhören, Inhalt zu produzieren
Die übliche Klage, daß der Kapitalismus falsch liege, fällt in einem klassischen Widerspruch zusammen, solange sie von innerhalb des Kapitalismus erhoben wird. Sogar wenn ich diesen Text hier nicht verkaufe, sogar wenn ich ihn gratis hergebe, so funktioniert das doch innerhalb einer spezifischen Ökonomie. Die inverse Ökonomie der Avantgarden addiert geheiligte Werte auf die imaginären Konten einer WeltKulturBank: Ruf, Glaubwürdigkeit, kulturelles Kapital. Heute wird es fast undenkbar, ob es ein Außerhalb des Marktes gibt, ob es etwas nicht Verdinglichtes und durch das letztendliche Medium des digitalen Geldes übercodiertes gibt. Dem Kapitalismus zu widerstehen kann, wenn nicht zum schizoiden Initiationsritus, doch zum regressiven Spiel werden. Die Macht, der Macht zu entfliehen, die wiederum Macht im Zeichen von "keine Macht" erzeugt. Wir haben diese Träume der Unabhängigkeit hinter uns, die von der real existierenden Dichotomie einer Ökonomie des Kalten Krieges angetrieben wurden. Aber heute, nach dem Zerfall der dualen System-Theorie, lieben wir es auch, den Totalitarismus einer "Globalisierung" zu hassen, bis wir darin eine aktive Rolle übernehmen. Doch das Imaginäre kann nicht vollständig übertragen werden, es mag da einen schmalen taktischen Pfad geben, der zu einem Gebiet von "Inhalten" führt, die es nicht für Geld zu kaufen gibt, und das ganze Netz ist ja voll von solchem "Schrott".
Was also macht den Informationsbesitzer aus? Für den Empiriker gibt es keine Information ohne Zugang. Man stelle sich eine CD-ROM vor, eingegossen in einen Glasziegel - oder eine verschlüsselte PGP-Botschaft, und der Key ist verschwunden - oder eine Website die vom Netz abgekoppelt ist - welche Information enthält so etwas? Ist es wirklich der menschliche Empfänger, der aus dem Signal eine Information macht, und ein Haufen davon macht daraus dann Inhalt? Vielleicht erklärt uns Frank Hartmann irgendwann, was er unter "Datenkritik" versteht. Solange Ockhams/Soros Messer schneidet, werden wir auch in der Lage sein zu falsifizieren, ob etwas als Störgeräusch oder als Ideologie daherkommt. Härter arbeiten. Es geht um den Kult der Effizienz und um den verlorenen Respekt vor Effektivität (Morgan Garwood). Effizienz funktioniert innerhalb eines Systems, Effektivität in Wirkung auf sein Aussen. Effizienz mag ihr finales Ziel in einer auto-poietischen Komplexität haben, was aber sind die Nebeneffekte? Effizienz wird kein gültiges Kriterium für die Ästhetik von Netzwerken sein (David Garcia: notworks). Vielmehr geht es um die Modi der Wechselwirkungen mit dem je ausgeschlossenen Aussen.
Ein Interface ist kein Bild. Es kann ein Stecker sein, das Klingeln des Telefons, einige Schaltknöpfe, oder die Parameter eines Programms. Es ist kein eins-zu-eins Simulakrum, sondern eine eins-zu-eins-zu-noch-einem Übertragung zwischen verschiedenen Ebenen von Codes. Das Interface limitiert ein System als eine "Membrane" für Durchgangselemente. Es hat nichts mit einem Fernsehbildschirm zu tun. Es ist konstitutiv für die Definition des Systems und funktioniert nicht nur für Menschen, sondern auch zwischen und in maschinellen Aggregaten. Es muß nicht in Sichtbarkeit münden oder in einem neo-barocken Garten voll teurer Kunstinstallationen. Sichtbarkeit kann zur Ideologie der Aufklärung werden. Das Mysteriöse ans Licht zu bringen - hier sprechen wir über das Verborgene im Sinne der optischen Medien. Ich sehe, also verstehe ich. Das Netz hat keine Sichtbarkeit gebracht, sondern es produziert eine Menge von Erzählungen und es funktioniert als universale Projektionsfläche. Wie der Ozean in Stanislav Lems "Solaris" fungiert es als "kathartisches Interface" (Perry Hoberman), eher als eine gigantische Gruppentherapie denn als athenäische Agora, und doch grundsätzlich auf Basis der vermittelten Subjektivität seiner Benutzer, was zu Fragen nach der sozialen Netzwerk-Architektur führt, zu kulturspezifischer Groupware, und zu einer Neudefinition urbanen Lebens.
Die Inter-Passivität des Anwender-orientierten Multimedia, verschmutzt mit dem "rosa Rauschen" unerwünschter Daten ist nicht die Tür zu einer Welt, die allen anderen verschlossen bleibt. Wenn man in das System voller Datenobjekte eintaucht, beginnt man sich in dieser Umwelt zu orientieren, ohne sich ein buntes Bild davon machen zu können (man kann aber auch jemanden fragen, der schon dort war). Die effektivste Inhaltskanäle arbeiten mit dem reichen Code der menschlichen Sprache (Telefon, E-mail, Mailinglisten, Gerüchte). Und das ist es, was der kommerzielle Sektor nicht mag. Sei still und arbeite. Die Maschinen erledigen alles andere für Dich, sie erregen Dich.
Wir könnten unser Gehirn für etwas Besseres nutzen als nur zum Zuschauen. Das Interface arbeitet als Endsegment, das einen von der rekursiven Verkettung eines wurzellosen Baumes abtrennt, eines Netzwerks möglicher Entscheidungen zwischen Referenzknoten, die in ständiger Bewegung sind.
Man `weiß' von ihnen, also braucht man sie weder zu sehen, noch müssen sie einen ständig über ihre Existenz informieren. Die behavioristische Einübung durch `Push Media' bringt einen dazu, ständig manipuliert werden zu wollen. Es funktioniert durch die Etablierung eines sozial normativen Feldes voll überflüssiger Interessen und glatter Annehmbarkeiten.
Pseudo-Geek
Die Sichtbarkeit des Internet braucht kein `Bild'. Es geht mehr um die Abwesenheit von Körperlichkeit und den anderen Dingen, die durch die Operationen der Repräsentation verschwinden. Ein Netz definiert sich durch miteinander verbundene `Knoten'. Knoten wie Verbindungen können durch eine Schicht, welche die Komplexität einer bestimmten Klasse von Ereignissen in eine einzige Zone der Konsistenz bindet, physisch unsichtbar werden. Interfaces sind hier viel eher auf Protokolle zwischen Knoten und Schichten gegründet. Es sind vorgeschriebene Algorithmen möglicher Kommunikationen und das Format übertragbarer Daten, die Schnittstellen definieren. Bis zu einem gewissen Grad ist es ja möglich, eine Karte des Internet zu zeichnen, und es ist auch möglich, ein Theater daraus zu machen. Doch es könnte viel brauchbarer sein, zuvor zu beschreiben, wie es mit anderen Netzwerken auf anderen Schichten (und zu anderen Zeiten) verbindet, bis hin zur Ebene alltäglicher Störgeräusche. Das Reich des Netzes endet nicht mit dem Internet, es wechselt nur sein Protokoll. Seine Offline-Elemente erhalten und nähren seine Formen, sogar wenn diese Formen rückwirkend ihr `Außerhalb' beeinflussen. (Jordan Crandall)
Sich ein Bild machen
Ich bin immer noch in der bilderlosen Netz-Zeit (net-time) und was soll's? Vielleicht genügt es ja, einige Spiralen zu zeichnen oder eine Wolke, wenn einen jemand bittet, ein Bild vom `Netz' zu zeichnen. (Janos Sugar) Nach der Zeit elektronischer Einsamkeit vor unserem PC-Desk-Top Interface brauchen wir dynamische Karten für verschiedene Arten von Topologien vernetzter Client-Server-Städte, was zu Fragen der Macht, Arbeit, Repräsentation und sozialer Schnittstellen führt. In die Beziehungen, die Aktivitäten, den Austausch muß rückinvestiert werden, Besucherfrequenz alleine zählt hier nicht. Die verschiedenen Kanäle müssen verbunden werden, sich kreuzen, oder mindestens stimmig sein, damit sie zu `schwingen' beginnen, und es ist eher unwahrscheinlich, daß Geld dabei das einzige Ziel bleibt. Im schlimmsten Fall endet das Netz wie das heutige Formatradio: als Medium der Gehirntoten. Der Konstruktivismus von Wahrheit und Subjektivität über eine Technologie der Sichtbarkeit (Camera Obscura) endet mit den Plänen einer neuen Wissensarchitektur, wobei die Option eines äußeren Beobachterstatus verunmöglicht wurde.
Dieses Wissen besteht zu einem Grossteil aus einer Kenntnis der Orte und Wege, der Knoten und Kanten zwischen Menschen als Informationsquellen und führt zu einer Kunst der Orientierung und der Schaffung von kollaborativer Zeichenterritorien, zusammengezimmert aus den Daten-Resten die von den privatisierten Contentmaschinen als "public content" übriggelassen wurden. Die Metaphern der Intersubjektivität brauchen weder den Romantizismus eines strukturierten Lebens im stammeskulturellen Dorf, noch erbauliche Geschichten über die Welt des harten wirklichen Lebens. Das war immer schon eine virtuelle Nachbarschaft, in der man sich abends über die Ereignisse des Tages unterhielt. Das pompöse Bild, nach dem viele Menschen verlangen, jenes glamourös geordnete Interface, funktioniert ganz wie die Gartenarchitektur des absoluten Sonnenkönigs, der den (mechanistischen) Kosmos der Dinge repräsentiert.
Weiter zu den Maschinen, die Stufen der Schichtungen empor, Muster nach Muster; das Signal, elektrisch-elektronisches Potential, Wellen/Partikel, der Chip, die Bits, die Bytes, die Datenpakete, die Dokumente. Solange dies alles unter Maschinen zikuliert, handelt es sich um Daten. Während Maschinen mit Maschinen kommunizieren, richtet der weltweit murmelnde Datencode tatsächlich ein elektromagnetisches Klima ein, das in der Weltgeschichte neuartig ist. Wenn man die Information auf einer physischen Ebene analysiert, dann führt einen das an die Grenzen der Hardware (Friedrich Kittler), und gleichzeitig zum menschlichen Körper, der seine ganz eigenen Systeme der physischen Kommunikation hat, die jenseits aller Theorie des Bildes immersive Interfaces zu erzeugen imstande sind. Einige erinnern sich an Vladimir Muzheskys Genuß/Angst Wellengenerator. Es mag ein drahtloses Waffensystem sein, das solche bionoischen Informationssysteme zuerst benutzt, oder aber es wird ein Produkt von paranoischer Kunst oder einfach nur chinesischer Medizin bleiben.
Hacking Heidegger
Alles, überall, und jederzeit mit sich selbst verbunden. Der Prozeß des Faltens und Entfaltens. Packen und Entpacken, Lesen-Schreiben, in Protokolle einbetten, pushing/pulling, gruppieren, das alles macht Sinn auf einer ganz anderen Ebene. Den Leseschutz ausgeschaltet. Ein bestimmter Codebalken auf dem Bankkonto oder in der Polizeiakte kann dein Leben verändern. Auf dieser Ebene kann der Hacker als eine Art Künstler gesehen werden. Er manipuliert ein System derart, daß öffentlicher Inhalt produziert, Daten sozialisiert, Inhalte geändert werden. 2600, ein heroisches Computermagazin, zeigt, wie der Hacker nach Macht über das Netzwerk des technisch Erhabenen sucht, indem er Zugang gewinnt und ein geschlossenes System mit der Außenwelt verbindet.
Aber der Hacker ist auch ein sehr konservativer Künstler, getrieben vom Willen zur Autonomie und vom l'art pour l'art jenseits aller Prinzipien von (politischer) Aktivität.
Zurück zu The Thing, Heidegger sagte: `das Ding dingt'. Wie ist eine tautologische Sprachschleife zu knacken, wie ist ihr die `Wahrheit' (ihre metaphysische Funktion) zu entlocken? An einer anderen Stelle vergleicht Heidegger den Fluss, wie ihn der Dichter beschreibt, mit demselben Fluss, der von einem Kraftwerk zur Energiegewinnung genutzt wird. Der Unterschied zwischen Kunst und Technik. Was aber wenn der Künstler eine solche Technik nutzt? Er schafft irgendein Paradox. Ein Kraftwerk, das gar nichts produziert.
Doch brauchte das nicht ein tieferes Verständnis vom Medium selbst? Ein Mitgehen mit den Bits und Bytes, ein Sehen des Netzes, ein Beobachten der Kabel, so wie Van Gogh die Kraftlinien einer Sonnenblume gesehen hat? Noch gibt es keinen Rembrandt des TCP/IP, keinen Pollock des Desktop Interfaces, keinen Cezanne des Softimage, kein Dada des Html (hm, das vielleicht doch...), keinen Turner des Web. Aber jeder, der schon einmal seine Festplatte editiert hat, kann diese wahrhaft surrealistischen Deja-vues haben, wenn die Zufallsordnung privater Textbrocken aus alten E-mails vor einem abrollt. Die Abfall-Gedächtnis Traumanalyse? www.jodi.org verwendet die undefinierten Nebeneffekte von Html, Screenshots von Systemabstürzen, Schichten eingekapselter Codierung, bei denen Text als Graphik verwendet wird und umgekehrt.
Concept Art und Netzkunst
Tannenbaum schrieb einst ein ziemlich ernstes Buch mit dem Titel: `Die Kunst des Programmierens'. Ein Programm muß effizient laufen und darf keine Irrtümer enthalten. Es soll sowenig Zeit (Verarbeitungszustände) wie möglich brauchen. Das waren noch Zeiten, als die Programmierer stolz darauf waren, wenn ihr Code `elegant' war. Heute bleibt solange unklar, was überhaupt Programm `ist', bis man weiß, was es genau `macht'. Einige behaupten, das ganze Internet sei Kunst, die nur für sich selbst arbeitet (Andreas Broeckmanns maschinelle ästhetik des Packet-switching?), in der Nähe von etwas absoluter Schönheit, eine fast ozeanische Erfahrung mit einem versteckten Lächeln (Netz-Kunst bemerkte Heath Bunting).
Tatsächlich war es das Nichtmaterielle der Software und der Information, welches Kunst "dematerialisiert" hat und später dann `Konzeptkunst' genannt wurde. Alles konnte Träger für ein Kunstwerk werden, sei es Gesellschaft, ein Zug, das Postnetz, oder ein Fluß. Spirituelle Information (Erik Davis) - die Idee des Künstlers überlebt alles. Konzeptkunst, zusammen mit dem Ready-made-Trick, funktioniert als eins der wichtigen redundanten Genres der Gegenwartskunst. Während deren Vokabular sich in Richtung aller Formen von Multimedia ausweitet, zielt die Kunst des Programmierens auf die Funktionalität des ganzen Werks innerhalb des sozialen Feldes und des Kunstsystems, umgeben von Kontext - wie kommt ein Werk an einen bestimmten Ort? Doch es ist eine Frage taktischer Entscheidungen, einen laufenden Code in die schmutzige Umgebung des wirklichen Lebens zu implementieren. Er kann nicht nach allen Seiten hin geschlossen sein. Das Kunstsystem ist der erste Feind des kreativen Entwurfs, weil es geschlossene Räume braucht, ein programmierendes Umfeld. Umfahrungswege könnten wir in Alexei Shulgins Arbeiten finden.
netz.kunst.kult
Dann gibt es noch die neuen/alten großen Erzählungen. Pathetische Bilder. Sakrale Kunst. Das Netz als glatte Fläche und unbewohnte Wüste verstanden, alle Sorten von Stämmen können ihre Kulttempel dort errichten. Aber es ist eben auch ein zivilisiertes Raster, eine große virtuelle Kirche der 'westlichen' Subjektivität. Der lange Marsch durch's Web. Das neue Land voll Milch und Honig. Globaler Dialog, Gaja, darwinistische Algorithmen. Das Web wird zum dramatischen Interface für entfremdete Slacker, um sich selbst als Angehörige einer neuen Führungsspitze zu erfahren, als digitale Parzifals, Netz-Hippies, Gründungsväter von Substandards, Yuppies auf dem Weg zum digitalen Reichtum. Mehr Speicher, mehr Performanz und mehr Effizienz, um sich selbst als maschinelle Identität zu reproduzieren.
Könnte es nicht hilfreich sein, das romantisch-ironische Projekt einer Netz.Kunst als einen Beitrag in der Tradition häretischen Widerstands zu sehen? Oder errichtet es wieder ein Bauhaus aus Abfalldaten? Was soll's? Das mächtige Medium macht besten Gebrauch von den imperialen Infrastrukturen, integriert seine Feinde und läßt sie im Netz arbeiten - wenn es sein muß auch subversiv. Eine grundsätzlicher Zwiespalt, der zu einer schillernden Ironie als Grundmodus des digitalen Daseins führt. Glaub nicht ans Netz, aber verlaß es auch nicht. Es geht darum, die Systemgrenzen aufzuzeigen, mit den Kunststücken und Netscape-Irrtümern zu spielen, um nihilistische Kulte (search +BLAH), die es dem nicht ganz Anderen öffnen, dem Körper, einem großen Abendessen, dem Schreibzugang einiger Freunde, einem Scheißhaufen von Daten. Die Produktion einer kollektiven Subjektivität, die noch nicht vom Geld überbestimmt ist, ist nur ein vorläufiger Boden. Nichts radikal Neues, also wird man auch einen eleganten Weg des Abschieds finden. Kulturelle Daten, die, gerade so wie in Liebesliedern oder Gemälden oder Gedichten, als Info-Einheiten funktionieren, welche Gefühle und Sorge auslösen.
Pit Schultz
Geringfuegig veraenderte Uebersetzung von Frank Hartmann
Original in Englisch, "the final content", in: nettime (Hrsg.) ZKP4, Ljubljana Mai 1997, www.ljudmila.org/nettime