Der Arzt und Historiker Karl Heinz Roth über die Coronapandemie, folgenschwere Fehleinschätzungen und notwendige Konsequenzen für unser Gesundheitssystem
In dieser ersten Gesamtdarstellung kommen die staatlichen Versuche, das Virus einzudämmen, schlecht weg. Statt "effiziente und zugleich maßvolle" Gegenmaßnahmen zu ergreifen, hätten die Regierungen panisch reagiert und versucht, die Misere mit populistischen Manövern zu überspielen. Roths Vorschlag, um künftige Epidemien zu bekämpfen: Gesundheitsarbeit aufwerten und das marode öffentliche Gesundheitswesen wieder aufbauen.
Herr Roth, Sie haben Ihr Buch im Juli 2021 abgeschlossen. Hat sich seitdem Ihre Einschätzung in irgendeinem Punkt verändert?
Karl Heinz Roth: Eigentlich nicht. Seit November 2021 hat sich der Charakter der Pandemie durch die neue Variante Omikron noch einmal geändert, das ist natürlich eine Zäsur. An der Analyse der Phase zuvor muss ich aber nichts Wesentliches korrigieren, glaube ich.
Lassen Sie uns chronologisch vorgehen und mit der Vorgeschichte anfangen. Die Gefahr einer kommenden Pandemie trat seit der Jahrtausendwende immer stärker ins Bewusstsein von Wissenschaft und Politik. Sporadische Fälle der Vogelgrippe H5N1 unter Menschen, dann die Entstehung der beiden Beta-Coronaviren Sars-CoV-1 und Mers machten klar, wie schnell sich mittlerweile neuartige Krankheitserreger ausbreiten können.
Auf diese Bedrohung reagierten die Sicherheits- und Gesundheitsbehörden mit Planspielen für den Pandemie-Katastrophenfall. Aber als es dann so weit war und ein pandemisches Virus tatsächlich kam, funktionierte kaum etwas. Warum?
Karl Heinz Roth: Ein Kernproblem war sicher, dass diesen Übungen Worst-Case-Szenarien zugrunde lagen. Die Autoren der Planspiele und ihre Institutionen gingen von den alten Katastrophenszenarien des Kalten Krieges aus, das hatte den Charakter einer Atomkriegsübung. Eine realistischere Abschätzung von möglichen Pandemie-Verläufen ist dagegen im Großen und Ganzen ausgeblieben.
Der Fokus auf den schlimmsten aller möglichen Erreger hat dann zu fatalen Fehlreaktionen auf Covid-19 geführt.
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Sie erwähnen in Ihrem Buch in diesem Zusammenhang die berühmt-berüchtigte Risikoanalyse "Pandemie durch Virus ‚Modi-SARS‘" aus dem Jahr 2012, federführend entwickelt vom Robert-Koch-Institut (RKI). In diesem Szenario werden einige Merkmale der gegenwärtigen Pandemie bis in Details vorweggenommen. Da heißt es zum Beispiel, der Erreger "stammt aus Südostasien, wo der bei Wildtieren vorkommende Erreger über Märkte auf den Menschen übertragen wurde." Erwähnt wird auch, dass die Sterblichkeit steigt, weil "an Modi-SARS-Erkrankte, anders Erkrankte und Pflegebedürftige keine adäquate medizinische Versorgung beziehungsweise Pflege mehr erhalten können." Die Überlastung der Krankenversorgung wird einkalkuliert.
Karl Heinz Roth: Ja, aber andere Annahmen waren völlig unrealistisch. Die Drehbuchschreiber gingen davon aus, dass 93 Prozent der Infizierten so schwer erkranken würden, dass sie mindestens zwei Wochen lang ausfallen und zu erheblichen Teilen klinisch behandelt werden müssen. Die Sterblichkeit bezifferten sie mit durchschnittlich zehn Prozent der Erkrankten, die Epidemie sollte drei Jahre lang anhalten und mindestens 7,5 Millionen Opfer fordern – ein wahres Schreckensszenario.
Fixierung auf ein Killervirus
Andererseits wird in dieser Analyse die Resilienz der staatlichen Einrichtungen in einer solchen Situation überraschend optimistisch eingeschätzt. Da finden sich lustige Sätze wie: "Mit steigendem Krankenstand müssen genehmigte Urlaube und Fortbildungen verschoben werden." Oder weniger lustige wie: "Die Versorgung von Institutionen (zum Beispiel Krankenhäuser und Altenheime) kann grundsätzlich aufrechterhalten werden."
Karl Heinz Roth: Ja, es war eine Realsatire. Einerseits ging man von einem kommenden Armageddon aus, andererseits traf man keine praktischen Vorkehrungen für eine mittelschweren Pandemie, so wie Covid-19 eine ist.
Das war keine deutsche Besonderheit, sondern ein internationales Phänomen und trifft auf alle wichtigen Akteure zu, die sich mit der Pandemiegefahr beschäftigten, also auf die Behörden, die Großstiftungen Gates, Rockefeller und Wellcome Trust und die Pharmaindustrie.
Aber die Fixierung auf den schlimmsten aller möglichen Fälle führte dazu, dass die Planer die Bodenhaftung verloren. Es wurden Vorräte mit fast wirkungslosen Medikamenten wie "Tamiflu" oder "Relenza" angelegt, darauf hatte die Pharmaindustrie hingewirkt.
Material für die Basishygiene – Atemmasken, Gesichtsvisiere, Desinfektionsmittel, sterile Handschuhe und so weiter –, wurde dagegen nicht vorgehalten. So entstand eine groteske Schieflage.
Während der ersten Welle 2020 mussten Pflegekräfte in deutschen Krankenhäusern bekanntlich sich selbst Gesichtsvisiere basteln. In New York griffen Beschäftigte zu Plastikcapes, weil es keine Schutzkleidung gab. Überall fehlte grundlegendes Material für die Seuchenbekämpfung. Wie lässt sich das erklären?
Karl Heinz Roth: Die Mittel für die Infektionshygiene wurden über die globalen Lieferketten just in time bezogen, vor allem aus Asien. Lagerhaltung gilt heute als ineffizient, auch in der Vorstellungswelt der Behörden und in den Leitungsebenen der Krankenhäuser. Das Gesundheitswesen wurde sozusagen auf lean production umgestellt.
Die Vorbereitungen auf die kommende Pandemie litten von Anfang unter diesem Dilemma. Unausgesprochen war auch in den Planungsbehörden bekannt, dass die Gesundheitssysteme einer solchen Belastung niemals gewachsen sein würden.
Wegen der Deregulierung, Privatisierung und Kommerzialisierung der vergangenen Jahrzehnte ist das System marode. Es bewältigt die alltäglichen Anforderungen gerade noch so, aber die Beschäftigten und Institutionen sind permanent an der Grenze ihrer Belastbarkeit. Diese tiefgreifenden strukturellen Probleme wurden in der Pandemiedebatte völlig ausgeklammert.
Was will Bill Gates?
Bleiben wir noch einen Moment bei der Vorgeschichte, aber wechseln von den Sicherheits- und Gesundheitsbehörden zu den großen Stiftungen. Die Bill and Melinda Gates-Foundation (BMGF) und einige andere, kleinere Stiftungen beeinflussen mit ihren Spenden die globale Gesundheitspolitik, direkt über die WHO oder über die sogenannten Multiakteurspartnerschaften wie Gavi (Global Alliance for Vaccines and Immunisation) oder Cepi (Coalition for Epidemic Preparedness Innovations). Sie setzten dabei vor allem auf Impfungen. Warum?
Karl Heinz Roth: So lassen sich schnell vorzeigbare Erfolge erreichen, zum Beispiel um die Säuglings- und Kindersterblichkeit zu senken. Natürlich sind manche Impfkampagnen dringend erforderlich, aber der einseitige Fokus auf Immunisierung ist auch problematisch.
Ohne eine entsprechend ausgebaute medizinische Basisversorgung entstehen nämlich nur Strohfeuer, keine nachhaltigen Verbesserungen. Chronisch Kranke in den Schwellenländern und die Armutsbevölkerungen in den Metropolen haben immer weniger Zugang zu einer regulären Versorgung.
Wie schlecht es um das Gesundheitswesen steht, wurde klar, als wegen Covid-19 die Versorgung im Globalen Süden zurückgefahren wurde. Sofort stiegen die Todeszahlen durch Tuberkulose, Malaria und AIDS wieder an.
Die internationalen Stiftungen spielen mittlerweile eine Schlüsselrolle bei der Bekämpfung der alten und der neuen Infektionskrankheiten. Wie ist dieses Engagement zu bewerten, was steckt dahinter?
Karl Heinz Roth: Um die Rolle der Stiftungen zu verstehen, müssen wir etwas weiter in der Geschichte zurückgehen. Mit der Schuldenkrise der Entwicklungs- und Schwellenländer in den 1980er-Jahren begann ein Prozess, in dem das öffentliche Gesundheitswesen schrittweise demontiert wurde, zunächst im Globalen Süden, dann auch die Zentren des heutigen Kapitalismus.
Die Ansätze für eine medizinische Basisversorgung, die mühsam in den 1950er- und 1960er-Jahren aufgebaut worden waren, wurden wieder zurückgefahren.
Aufgrund ihrer Überschuldung mussten viele Länder ihre Beiträge für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) stunden lassen. Dadurch sank auch ihr politisches Gewicht im Verhältnis zu den Nationen der Transatlantikregion. 1993 wurden dann die verpflichtenden Beiträge der WHO-Mitgliedsländer eingefroren. Die Strukturen des Weltgesundheitssystems begannen zu verfallen.
Die internationalen Großstiftungen haben diese Situation nicht geschaffen, aber sie haben sie genutzt: Mit ihren Kooperationen haben sie ihren Einfluss ausgebaut und auf die globale Gesundheitspolitik auf Impfkampagnen ausgerichtet. Die Stiftungen waren nicht die Ursache für die Deregulierung im Gesundheitswesen, sie haben die Situation lediglich genutzt.
Die Übungen für eine kommende Pandemie und die Warnungen werden heute in der Impfgegner-Szene als Beleg für eine "Plandemie" gedeutet. Wie sehen Sie das?
Karl Heinz Roth: Wir kennen alle die Theorien, dass die globalen Großstiftungen Covid-19 mehr oder weniger angezettelt haben, um an den Impfkampagnen zu verdienen. In Wirklichkeit hat Bill Gates früh verstanden, dass globale Ausbrüche kommen werden.
Um den Kollaps zu verhindern, wollte er die Netzwerke des internationalen Gesundheitswesens erhalten, vor allem Unicef und WHO, und sie sozusagen zu einer Feuerwehr gegen die Pandemie-Gefahr umbauen. Dass dabei für die Medizinkonzerne erhebliche Renditen anfallen, ist sicher nicht unerwünscht, aber meines Erachtens nicht das Hauptmotiv.
Bill Gates sieht keinen Widerspruch darin, mit der Abwendung einer pandemischen Katastrophe Geld zu verdienen.
(Heimliches) Vorbild China
Covid-19 breitete sich seit Dezember 2020 aus. Wie reagierte China auf den Ausbruch?
Karl Heinz Roth: Zunächst versuchte die Staatsführung, den Ausbruch zu vertuschen. Nach etwa vier Wochen schaltete sie drastisch um und verband ihre detaillierten Pläne für die entsprechenden Notfallmaßnahmen mit einer Katastrophenmobilmachung.
Dieser radikale Shutdown mit massiven Kontaktbeschränkungen und Quarantäne-Maßnahmen hatte nicht nur Folgen im Land selbst, sondern war der Auslöser einer Weltwirtschaftskrise. Der Kollaps der chinesischen Wirtschaft führte zu einem Kollaps der Lieferketten, dann zu einem Kollaps der internationalen Finanzmärkte.
Wenn wir einmal vom diktatorischen Charakter der Maßnahmen absehen, schien der Lockdown zunächst erfolgreich zu sein. Aber die Virologen und Epidemiologen hätten schon damals wissen müssen, dass diese Pandemie mit solchen Methoden nicht zu besiegen ist. Dazu ist die Dunkelziffer bei Covid-19 zu groß.
Bekanntlich entwickeln zwei Drittel der Infizierten keine oder so schwache Symptome, dass sie höchstens mit Testverfahren erfasst werden können. Außerdem ist das Virus längst weitergewandert in andere Säugetierarten und überlebt in diesen Reservoirs. Es lässt sich nicht mehr ausrotten.
Die Bilanz bei den Todesopfern sieht für China dennoch vergleichsweise gut aus. Das Land hat offiziell nur 4.636 Todesopfer zu beklagen. Selbst wenn diese Zahl geschönt sein mag, die geringe Todesrate ist beeindruckend. In den USA nähert sich die offizielle Zahl der Verstorbenen den 900.000 …
Karl Heinz Roth: Ob das so bleibt, ist eine andere Frage. Die Covid-19-Ausbrüche werden nicht aufhören. Es kann sein, dass das Politbüro irgendwann vor der Pandemie kapituliere und mit dem Virus leben muss.
In China herrscht eine Art kapitalistischer Staatsabsolutismus: Die Staatsmacht kann grundlegende Rechte beschneiden oder auch wieder gewährt, immerhin sorgt sie für ihre Untertanen, das ist schon richtig.
Meine These lautet: Der Shutdown war gar nicht notwendig! Covid-19 ist keine Killerpandemie. Wenn ein Virus wie die Pocken sich ausbreitet, das 20 bis 25 Prozent aller Infizierten tötet, dann muss man ernsthaft nachdenken, wie schwer Grundrechte wiegen gegen den Untergang eines Viertels der Menschheit.
Bitte nicht missverstehen, Covid-19 ist eine schwere Pandemie, die schwerste seit der Spanischen Grippe von 1918 bis 1920. Aber der Lockdown mit seinen unspezifischen Kontaktbeschränkungen war weder notwendig noch zielführend.
Bevor wir zu Sinn oder Unsinn der sogenannten nicht-pharmazeutischen Maßnahmen kommen, lassen Sie uns noch kurz bei der Politik bleiben. Außerhalb von China versuchten viele Regierungen zunächst, das Problem auszusitzen. Als sich abzeichnete, dass das zu enormen Todeszahlen führen würde, erließen die Regierungen nach und nach pauschale Kontakt- und Mobilitätsbeschränkungen, mehr oder weniger strikt, mehr oder weniger sinnvoll. Wie erklären Sie dieses Vorgehen, wenn es doch Ihrer Meinung nach nicht notwendig war?
Karl Heinz Roth: Der harte Lockdown entstand aus Panik und Hilflosigkeit. Die verantwortlichen Politiker mussten feststellten, dass die Gesundheitssysteme nicht vorbereitet waren und selbst elementarste Hygienevorräten fehlten.
Von Seiten der Wissenschaft kam kaum Hilfestellung. Zugang zu den Krisenstäben erhielten vor allem Forscher, die die Paniktendenzen der Politik eher noch verstärkten. Die Modellierungen des weiteren Verlaufs lieferten schockierende Opferzahlen, allerdings waren diese Modelle für den Erreger Sars-CoV-2 überhaupt nicht realistisch.
Alle starrten auf die Infektionszahlen, die aber aufgrund der hohen Dunkelziffer kaum etwas aussagen, nicht auf die entscheidenden Krankenhauseinweisungen und Todeszahlen.
Bei den Maßnahmen handelte es sich zu einem Gutteil um Symbolpolitik beziehungsweise um konzeptlosen Aktionismus. Auf diese Art sollte energisches Handeln vorgespielt werden. Die Engpässe im Gesundheitswesen wurden verschleiert, damit eine Diskussion über die tieferliegenden Probleme gar nicht erst aufkommen konnte.
Aber, wie zuvor erwähnt, die diffuse Eindämmungsstrategie wird dem Charakter der Pandemie überhaupt nicht gerecht.
Der Lockdown war ein Misserfolg
Wie erfolgreich war der Lockdown Ihrer Ansicht nach?
Karl Heinz Roth: Er war weitgehend ineffizient. Die Prioritäten waren falsch. Covid-19 ist vor allem für chronisch Kranke und alte Menschen gefährlich, aber die pauschalen Maßnahmen begrenzten die Infektionszahlen nicht wirksam.
Deswegen wäre der umgekehrte Weg richtig gewesen, also bei den Krankenhäusern und in der Altenpflege ansetzen und die Gefährdeten schützen. Stattdessen wurden die Risikogruppen preisgegeben, insbesondere in den Heimen. Dort verstarb ein sehr großer Anteil an der Covid-19-Toten insgesamt.
Sie sprechen von einem Anteil von 40 Prozent an den Opfern im transatlantischen Raum, also in Nordamerika und Europa.
Karl Heinz Roth: Zum Teil waren die Lockdown-Maßnahmen kontraproduktiv. Beispielsweise wurden die Menschen mit Ausgangssperren in ihre Wohnungen gezwungen, obwohl das Virus sich in geschlossenen Räumen verbreitet, nicht im Freien. Sie haben den Pandemie-Prozess beschleunigt.
Die Schließung der Parks in den Slum-Städten des Globalen Südens war eine Katastrophe. Die Leute hätten sich stattdessen so lange wie möglich sich im Freien aufhalten sollen. Natürlich ist es ebenso unsinnig, Kreuzfahrtschiffe fahren zu lassen, wo sich die Menschen ebenfalls vor allem in geschlossenen Räumen aufhalten.
Die Kollateralschäden der Lockdown-Politik sind außerordentlich groß, vor allem im Globalen Süden: Die medizinische Unterversorgung, gestiegener Alkohol- und Drogenkonsums, mehr Selbstmorde und anderes. Der Chefstatistiker der WHO schätzte im Juli 2021, dass an der Pandemie wahrscheinlich sechs bis acht Millionen Menschen sterben werden.
Die Übersterblichkeit, die zum Teil auf Unterversorgung zurückgeht, steigt aber seiner Berechnung nach noch einmal fast um den gleichen Betrag. Dass diese Bilanz einfach ignoriert wird, macht mich fassungslos.
Im Verlauf des Jahres 2020 polarisierte sich die epidemiologische Debatte zwischen denjenigen, die auf weitgehende Kontaktbeschränkungen und möglichst geringe Infektionszahlen setzten, und auf der anderen Seite denen, die vor allem die gefährdeten Bevölkerungsteile schützen wollten. Sie skizzieren in Ihrem Buch einen "dritten Weg", einen Mittelweg zwischen "Laufen lassen bis zur Herdenimmunität!" und "Alles Runterfahren!" Wie hätte dieser Weg ausgesehen?
Karl Heinz Roth: Statt der unspezifischen Kontaktbeschränkungen wären gezielte Präventionsmaßnahmen notwendig gewesen. Dazu zählen Massentests, um neue Infektionsherde einzuhegen, das genaue Informieren der Bevölkerung und vor allem der Schutz von chronisch kranken und alten Menschen, auch durch die Einrichtung von Spezialkliniken und geeigneten Richtlinien für die Heime.
Das wäre effizient und zugleich maßvoll gewesen. Die Pandemie hätte sich zwar weiter ausgebreitet, aber die schweren Verläufe, Krankenhauseinweisungen und die Sterblichkeit wären von Anfang an deutlich zurückgegangen. Hunderttausende sind unnötig gestorben.
Das klingt fast zu schön, um wahr zu sein. Hätten denn wirklich Kneipen, Gastronomie und Clubs geöffnet bleiben können, ohne dass die Erkrankungszahlen nicht mehr zu beherrschen gewesen wären?
Karl Heinz Roth: In einer Pandemie müssen Versammlungen in geschlossenen Räumen mit einem geeigneten seuchenhygienischen Konzept erfasst werden, das ist schon richtig.
Aber da wäre eine Strategie der Überzeugung sinnvoll gewesen, nicht eine der Direktiven und der Entmündigung. Die Gesellschaft ist weitaus klüger, als Politiker glauben, auch die Gesundheitspolitiker.
In Schweden wurde erfolgreich die Bevölkerung überzeugt, geschlossene Räume ohne Belüftung wie Bars und Clubs zu meiden, weil sie eine Gefahr darstellen. Dann wurde allerdings der schwere Fehler gemacht, keine wirksamen Schutzmaßnahmen im medizinischen und pflegerischen Bereich zu ergreifen, was den schwedischen Ansatz diskreditierte.
Überzeugung statt Entmündigung
Warum wurde der dritte Weg nicht beschritten?
Karl Heinz Roth: Er hätte den Bruch mit der bisherigen Gesundheitspolitik bedeutet. Dazu hätte die Politik einen erheblichen Teil des öffentlichen Budgets in das Gesundheitswesen umzuwälzen müssen. Der dritte Weg hätte beinhaltet, die Heime wieder unter kommunale Aufsicht zu bringen und die Krankenversorgung und Pflege aufzuwerten.
Die nichtpharmazeutischen Maßnahmen zur Seuchenbekämpfung haben in vielen Ländern Proteste ausgelöst. Sie sind politisch nicht leicht einzuordnen, sie unterscheiden sich auch je nach Ort. Aber sicher gab es eine Tendenz zur Verharmlosung von Covid-19, bis hin zur Leugnung irgendeiner Gefahr.
Karl Heinz Roth: Alle Pandemien lösen Ängste aus. Die Angstreaktionen führen dazu, dass Gerüchte zirkulieren, die Menschen machen Sündenböcke aus und suchen nach Wundermitteln, um die Gefahr abzuwenden. Ja, die Menschen verschließen die Augen vor der Realität dieser Krankheit.
Andererseits müssen wir auch die Gegenseite sehen, nämlich die "No Covid / Zero Covid"-Kampagne, die seit Frühjahr 2020 fordert, mehr oder weniger den chinesischen Ansatz der Ausrottung zu verfolgen. Diese Fraktion hängt der Illusion an, die Pandemie ließe sich mit einem kompletten Shutdown innerhalb einer bestimmten Frist ausrotten. Das ist genauso illusionär. Diese beiden Lager haben sich meiner Meinung nach gegenseitig aufgeschaukelt.
Auch wenn der Gedanke schwer auszuhalten ist, Covid-19 wird nicht die letzte Pandemie bleiben. Wie sieht Ihrer Meinung nach ein zukunftsweisendes Programm aus, um mit dieser Gefahr umzugehen?
Karl Heinz Roth: Da wäre zunächst die Ausweitung von pharmazeutischen Maßnahmen, das heißt die Entwicklung von geeigneten Medikamenten und Impfstoffen. Gegen Sars-CoV-1 gab es Anfang der 2000er -Jahre vielversprechende Ansätze für Proteaseinhibitoren, das sind antivirale Medikamente.
Bevor sie in klinischen Studien erprobt werden konnten, wurde die Forschung abgebrochen, weil die Absatzmöglichkeiten der Pharmaindustrie nicht lukrativ genug schienen. 2020 hat man sich an diese Ansätze erinnert und mühsam aus den Tresoren der Labors die damaligen Untersuchungsergebnisse hervorgekramt.
Wäre die pharmakologische Forschung nicht an Renditen orientiert, sondern als Gemeingut organisiert, hätten wir diese Medikamente heute schon zur Verfügung.
Dann brauchen wir einen globalen Ansatz bei den Interventionen. Etwa 35 Prozent der Weltbevölkerung sind doppelt geimpft. In den entwickelten Zentren liegt die Rate allerdings etwa 60 Prozent, im Globalen Süden nur zwischen zwei und zehn Prozent.
Besonders wenig Impfungen gibt es in den verarmten Ländern (least-developed countries). Kein Wunder, wenn sich neue Varianten wie Delta aus Indien und Omikron aus Südafrika verbreiten! Nur durch ein globales Vorgehen können wir die weitere Ausbreitung abbremsen.
Vor diesem Hintergrund ist die Auseinandersetzung über einen Impfzwang in Deutschland ziemlich absurd.
Schließlich brauchen wir ein Konzept für eine nachhaltige Stärkung des Gesundheitswesens weltweit. Dazu gehört die Rekommunalisierung der Krankenhäuser, Alten- und Pflegeheime, eine massive Aufwertung der Gesundheits- und Pflegeberufe.
Ich denke an die Einführung der 30-Stunden-Woche, eine bessere Entlohnung der Beschäftigten, vor allem in den unteren Kategorien, Tarifverträge, Reservepuffer bei Personal und Material. Das wären vernünftige Schlussfolgerungen aus dem katastrophalen Versagen im Umgang mit Covid-19.
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