Der große Ölkrieg

Ölförderung in Venezuela; Bild: HumbRios /CC BY-SA 3.0

Der massive Einbruch der Rohölpreise ist Ausdruck eines verbissen geführten Kampfes im globalen Energiesektor

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Trotz Preisverfall scheint die globale Ölindustrie buchstäblich am Limit zu produzieren. Die Preise für den fossilen Energieträger gaben am vergangenen Donnerstag abermals nach, nachdem die OPEC bekannt gab, im Dezember täglich 30.2 Millionen Fass Rohöl (million barrels per day - mbpd) gefördert zu haben Damit lag die Organisation erdölexportierender Länder, auf deren Mitgliedsländer rund ein Drittel der globalen Ölproduktion entfällt, über ihrem selbst gesteckten Förderlimit von 30 mbpd.

Die OPEC-Prognose für das kommende Jahr geht von einem globalen Überangebot an Rohöl von 1,0 mbpd aus. Die globale Nachfrage nach dem Energieträger werde zwar - langsamer zunächst als erwartet - auf 92.3 mbpd steigen, doch würde diese steigende Nachfrage durch den Anstieg der Ölförderung in Ländern außerhalb der OPEC kompensiert, die auf 1,28 mbpd geschätzt wurden.

Ein Großteil dieser zusätzlichen Fördermenge ist auf den Anstieg der unkonventionellen - und besonders umweltschädlichen - Ölproduktion (Fracking, Ölsand) in den Vereinigten Staaten und Kanada zurückzuführen, sodass die USA mit einer Fördermenge von 11 mbpd Mitte 2014 Saudi-Arabien als den größten Ölproduzenten überflügelten. Bis 2019 sollen die USA laut einer Prognose der Internationalen Energieagentur IEA ihre Ölförderung sogar auf 13,1 mbpd ausweiten.

Diesen Anstieg des globalen Angebots korrespondiert eine langsamer wachsende globale Nachfrage. Neben Europa, das in konjunktureller Stagnation und Deflation versinkt, ist dieses langsamere Nachfragewachstum vor allem auf China zurückzuführen. In der vergangenen Dekade erlebte die Volksrepublik ein halsbrecherisches Wachstumstempo mit jährlichen Wachstumsraten von 10 bis 12 Prozent, das mit einer rasanten Motorisierung des Landes einherging. Dieser kontinuierliche Nachfrageschub war ursächlich für den langwierigen Anstieg der Ölpreise in den vergangenen Jahren. Doch inzwischen geht diese Wachstumsdynamik zurück, für die kommenden Jahre wird in China ein Wirtschaftswachstum von "nur" 6,5 bis sieben Prozent erwartet.

Die Weigerung der OPEC, angesichts dieser Tendenzen die Fördermenge zu begrenzen, ist vor allem auf die unnachgiebige Haltung Saudi-Arabiens und der arabischen Golfstaaten zurückzuführen. Mitte Januar betonte Suhail al-Mazrouei, Energieminister der Vereinigten Arabischen Emirate, dass die OPEC künftig nicht dazu übergehen werde, durch Förderkürzungen die globalen Rohölpreise zu stabilisieren. Stattdessen müssten die Vereinigten Staaten die Produktion von Energieträgern aus unkonventionellen Quellen einschränken:

Wir sehen ein Überangebot, primär aus Schieferöl, und das muss korrigiert werden.

Ein hochrangiges Mitglied der feudalen saudischen Oligarchie, der Milliardär und "Prinz" Alwaleed bin Talal, erklärte gegenüber USA-Today, dass die Weltwirtschaft angesichts dieser veränderten Lage "nie wieder einen Fasspreis von 100 US-Dollar" sehen werde. Neben dem wachsenden Angebot machte Alwaleed bin Talal die schwache globale Nachfrage für den Preiskollaps verantwortlich:

Wir alle wissen, dass Japan bei einem Wachstum von null Prozent verharrt. China sagt, es wird um sechs bis sieben Prozent wachsen. Indiens Wachstum wurde um die Hälfte beschnitten. Deutschland korrigierte vor Kurzem seine Wachstumsprognose von zwei Prozent auf ein Prozent.

Geopolitisches Manöver?

Diese Story von der Wechselwirkung von Angebot und Nachfrage, die den Rohölpreis mittels der "unsichtbaren Hand" des Marktes regulieren würden, bestreiten vor allem diejenigen OPEC-Länder, die sich für Förderkürzungen ausgesprochen haben - und die bei den arabischen Staaten in dieser Hinsicht auf Granit bissen. Insbesondere Venezuela und Iran haben auf eine deutliche Absenkung der Fördermengen gedrängt, um die Preise zu stabilisieren.

Die Länder, die hinter dem Fall der globalen Ölpreise stünden, würden ihre Entscheidung schon recht bald bereuen, polterte Irans Präsident Hassan Rouhani Mitte Januar. Zuvor bezeichnete der Iran die Passivität Saudi-Arabiens angesichts fallender Ölpreise als einen "strategischen Fehler". Der gezielt geförderte Preisverfall richte sich "gegen andere Länder", so Rouhani:

Iran leidet unter dem Fall der Ölpreise, aber andere ölproduzierende Staaten wie Saudi-Arabien und Kuwait werden noch stärker leiden.

Ähnlich argumentierte Venezuelas Präsident Maduro Ende Dezember, der den Preisverfall auf einen "Ölkrieg" der Vereinigten Staaten gegen Russland und sein Land zurückführte. Mittels des Preisverfalls sollen die geopolitischen Gegenspieler des Westens in den ökonomischen Zusammenbruch getrieben werden. Dieser "strategisch geplante Krieg", der eine Kooperation zwischen Saudi-Arabien und den USA impliziert, soll "Russland zerstören", so Marudo. Er sei aber auch "gegen Venezuela gerichtet", da er darauf abziele "unsere Revolution zu zerstören und einen ökonomischen Kollaps auszulösen".

In Russland wiederum werden Parallelen zu den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts gezogen, als die in Stagnation verharrende Sowjetunion durch den Preisverfall bei Rohöl zusätzlich destabilisiert wurde. Zu diesem Schluss kam eine von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) zitierte Studie des Russischen Institut für Strategische Studien (RISS):

Darin heißt es, es gebe wie in den achtziger Jahren Abmachungen zwischen den Vereinigten Staaten und Saudi-Arabien, den Ölpreis durch Überproduktion zu drücken. Die Sanktionen, der sinkende Ölpreis und der seit Anfang Oktober stark fallende Rubel-Kurs (hinter dem ebenfalls eine amerikanische Intervention vermutet wird) werden als Instrumente einer großangelegten Strategie zum Sturz Putins bezeichnet.

Angesichts der schweren wirtschaftlichen Turbulenzen, in die sowohl Venezuela als auch Russland aufgrund des Ölpreisverfalls gerieten, scheint diese Interpretation durchaus nachvollziehbar.

Die Russische Föderation steht vor einer Rezession, die die Wirtschaftsleistung des Landes 2015 nach Schätzungen des russischen Finanzministers um vier Prozent kontrahieren lassen werde. Angesichts einer rasch zunehmenden Inflation, die im Frühjahr auf bis zu 17 Prozent beschleunigen soll, und massiver Haushaltskürzungen um bis zu zehn Prozent wandte sich der russische Minister für wirtschaftliche Entwicklung, Alexei Ulyukaev, mit einem eindringlichen Appell an die Bürger Russlands:

In einer Krisensituation ist es am wichtigsten, mentale Ruhe zu bewahren ... und vor allem an die eigene Gesundheit und die Gesundheit der Familie zu denken.

Noch weitaus dramatischer gestaltet sich die Lage in Venezuela, wo die rechte Opposition angesichts zunehmender Versorgungsmängel bereits zu Protesten aufruft. Der Preisverfall des wichtigsten Exportgutes Venezuelas lässt das Land an den Rand des Staatsbankrotts taumeln: Die Inflation liegt bei 65 Prozent, das Haushaltsdefizit beträgt 17 Prozent des BIP. In amerikanischen Wirtschaftsblättern wird bereits über den Zusammenbruch Venezuelas spekuliert. Das Wirtschaftsmagazin Forbes etwa prognostiziert dem von Ölexporten abhängigen Land, das nun enorme Defizite in seiner Leistungsbilanz aufweist, eine gewalttätige Zukunft:

Das Problem in der Zahlungsbilanz ist nur ein Auslöser für eine massive Finanz- und Wirtschaftskrise, die letztendlich in eine politische Krise führen werden, die nur in einer Weise enden kann - mit dem ungeordneten Kollaps des Regimes. Ob dies die Form einer Revolution, eines Putsches oder des simplen Chaos annehmen wird, ist noch unklar. Aber wir werden Zeugen der Zerstörung der venezolanischen Wirtschaft.

Krieg gegen Fracking-Industrie?

Eine andere, weitverbreitete These sieht hingegen die wichtigste Frontstellung in diesem globalen Ölkrieg zwischen den Golfstaaten und den USA. Demnach hat Saudi-Arabien den Ölpreisverfall bewusst herbeigeführt, um die Förderung fossiler Energieträger aus unkonventionellen Lagerstätten - das in den USA kurzfristig boomende Fracking - zu verlangsamen oder größtenteils unrentabel zu machen. Der Preiseinbruch sei nicht durch eine schwache Nachfrage ausgelöst worden, erklärten Analysten des Finanzdienstleisters Nomura Securities, er sei vielmehr Folge eines temporären Preiskrieges, der von Saudi-Arabien gestartet wurde.

Dieser Preiskrieg richte sich gegen die amerikanische Schieferölförderung, die Gewinnung von Rohöl aus kanadischen Ölsand, die kostenaufwendige Tiefwasser-Ölförderung sowie Ölbohrungen in der Arktis. Saudi-Arabien werde dieses Kräftemessen gewinnen, da die Ölproduzenten auf der arabischen Halbinsel die niedrigsten Förderkosten hätten:

Die Produzenten im Mittleren Osten sehen sich mit Kosten von 14 bis 40 US-Dollar pro Fass bei der Ölproduktion konfrontiert, während die Hälfte der weltweit aktiven Förderprojekte nicht mehr ökonomisch attraktiv wäre, wenn die Priese unterhalb von 50 Dollar pro Fass blieben.

Diese Einschätzung teilte die Nachrichtenagentur Bloomberg. Den Verlierer in diesem Machtkampf macht Bloomberg gerade in der unkonventionellen US-Ölindustrie aus, die ein Preisniveau um die 80 US-Dollar braucht, um langfristig profitabel zu operieren.

Bislang hielten sich die Stilllegungen von Förderanlagen noch in einem überschaubaren Rahmen, da die meisten Unternehmen in diesem Sektor aufgrund der aufwendigen Fördertechnik hohe Kredite zu bedienen hätten. Diese beliefen sich auf 200 Milliarden US-Dollar. Das sei vergleichbar mit "den Finanzierungsbedarf der russischen staatlichen Energieunternehmen". Nur die schlechtesten Projekte seien folglich bisher aufgegeben worden. Die Website Business Insider berichtete bereits über ersten Entlassungswellen in der jungen Branche, bei denen 15 000 Arbeitsplätze verloren gingen.

Sollten keine Förderbeschränkungen zur Preisstabilisierung führen, würden die ersten verschuldeten Unternehmen Pleite gehen, was eine Kapitalflucht aus dem ganzen Sektor auslösen und weitere Pleiten nach sich ziehen könnte: "Die Insolvenzen und die fehlende Expansion würden so zu einem Rückgang der Förderung führen." Bloomberg sieht eine "lange, blutige Schlacht mit ungewissem Ausgang" auf den US-Ölsketor zukommen. Um diesen zu stützen, empfiehlt die auf Wirtschaftsthemen spezialisierte Nachrichtenagentur der US-Regierung eine Prise des berüchtigten Sozialismus für Reiche, der in Wirtschaftskreisen vor allem in Krisenzeiten immer begeisterte Anhänger hatte:

Es mag für die US-Regierung an der Zeit sein, sich zu überlegen, ob man den Einsatz in diesem Preiskrieg erhöhen will - und als souveränes Land zu intervenieren. Das könnte bedeuten, dass man die Schiefer-Produzenten zeitweilig subventioniert oder vor dem Bankrott rettet.

Ein weiteres Paradebeispiel für die sagenumwobene Effizienz der kapitalistischen Marktwirtschaft: Hunderte von Milliarden an US-Dollar sind in einen strukturell unrentablen Energiesektor geflossen, um das ökologisch desaströse Erdölzeitalter etwas zu verlängern und die geopolitischen Ambitionen Washingtons zu untermauern (Mit TTIP zurück in die imperiale Vergangenheit) - und schon erschallt der Ruf nach Subventionen. Nicht auszudenken, diese Gelder wären für den Aufbau einer regenerativen Industrie aufgewendet worden.