Der letale Faktor

In den USA sind über 40 Personen mit Anthrax-Bazillen in Berührung gekommen, Wissenschaftler arbeiten intensiv an neuen Therapien

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Mehr als 10 Personen in den USA sind akut an Milzbrand erkrankt, darunter ein Baby und inzwischen sind drei Todesopfer zu beklagen. Nach dem Foto-Redakteur Bob Stevens in Florida (Vgl. Milzbrand und die Angst) starben nun auch zwei Postangestellte in Washington D.C. an Lungenmilzbrand. Zwei weitere Postbeamte sollen auf Intensivstationen mit dem Tod kämpfen, eine weitere Briefsortiererin steht in New Jersey mit Lungenmilzbrandverdacht unter ärztlicher Beobachtung in einem Krankenhaus. Im ganzen Land sind bis heute über 40 Personen nachweislich mit dem Erreger in Kontakt gekommen, zurzeit werden mindestens 2000 Postbedienstete getestet und vorsorglich mit Antibiotika behandelt. Inzwischen arbeiten alle in Poststellen mit Handschuhen und teilweise mit Mundschutz.

Die Anthrax-Bazillen, die in Washington an Fernsehsender und den Senator Tom Daschle geschickt wurden, sollen von professioneller Qualität und sehr rein gewesen sein. Zudem stammen angeblich alle bisher nachgewiesenen Erreger aus derselben Quelle. Dass alle Sporen auf einen in einem Bio-Labor in Iowa gezüchteten Stamm zurück gehen, wurde mehrfach berichtet, aber bisher nicht offiziell bestätigt. Überhaupt wirkt es so, als werde einiges im laufenden Ermittlungsverfahren durch die Behörden zugenebelt. Der Abgeordnete Richard Gephardt, Mitglied des Repräsentantenhauses, nannte das Anthrax "highly sophisticated" und waffenfähig, obwohl von Tom Ridge, dem neuen obersten Hüter der Sicherheit in der US-Heimat, deutliche Dementis über die B-Waffentauglichkeit gekommen waren.

Gephardt ist der Ansicht, dass zwischen dem Milzbrand-Briefen und den Anschlägen vom 11.September ein Zusammenhang bestehe. Inzwischen sprach auch der US-Präsident davon, er wäre nicht überrascht, wenn Ibn Ladins Terror-Netzwerk El Quaida hinter den Vorfällen stecken würde.

Die CIA hat den starken Verdacht, dass der Irak in die Milzbrand-Verschickung involviert ist. Da Waffeninspektoren der UNO im Irak große Mengen waffenfähiges Anthrax gefunden hatten, erstaunt die Vermutung des mächtigen Geheimdienstes nicht. Es ist ja auch bekannt, dass die Hardliner unter den US-Politikern von Anfang an außer Afghanistan auch gerne den Irak angegriffen hätten. Zu dieser Fraktion gehört auch der ehemalige CIA-Direktors James Woolsey, der sich sicher ist, dass der Irak mit Ibn Ladin gemeinsame Sache gemacht hat, um die USA anzugreifen. Der geheimdienstlich verschwörerische Hinweis darauf, dass der Brief, der in Kenia eintraf, vor den Anschlägen aufgegeben worden war, hat sich allerdings nach dem letzten Testergebnis aufgelöst - er enthielt nämlich keine Anthrax-Erreger, vermutlich waren Pilze für die ersten, scheinbar positiven Testergebnisse verantwortlich.

Robert Kochs Original-Aufnahmen von Bacillus anthracis

Die Bundesregierung hat am 10. Oktober 2001 die Einrichtung einer Bundesinformationsstelle für biologische Kampfstoffe beschlossen. Sie soll beim Robert-Koch-Institut in Berlin angesiedelt werden. Das RKI informiert auf seiner Website bereits umfassend und kann ebenfalls über eine Hotline direkt telefonisch kontaktiert werden.

Das RKI informierte auch über die Nicht-Verfügbarkeit von Impfstoff, die Presseerklärung) ist die reinste Grusel-Liste, selbst die USA haben nur einen umstrittenen, klinisch nicht getesteten Impfstoff, der lediglich für das Militär verfügbar ist. Bisher gibt es in Deutschland keinen Run auf einschlägige Medikamente, wie er in den USA gleich nach dem 11.September los ging. In den USA hat die Regierung im großen Stil ihre Bestände aufgestockt. Der Renner ist das Medikament Ciprobay der Pharma-Firma Bayer. Die Produktion wurde sofort mehr als verdreifacht. In Deutschland ist der Patentschutz abgelaufen und es gibt günstige Generika, in den USA ist dagegen die Herstellung wirkstoffgleicher Pillen noch bis 2003 untersagt. Kanada hatte versucht mit Hinweis auf einen potenziellen Notstand das Bayer-Patent (Laufzeit bis 2004) zu unterlaufen, ist aber inzwischen unterlegen. In der Einigung sagte der Pharma-Riese zu:

die sofortige Versorgung der Bevölkerung im Falle von terroristischen Anschlägen mit bakteriologischen Waffen zu gewährleisten. Bayer wird auf Anforderung innerhalb von 48 Stunden eine Million Tabletten CIPRO an die Organisation zur Bevorratung von medizinischem Notfallbedarf "NESS" (National Emergency Stockpile System) ausliefern. Die kanadische Gesundheitsbehörde respektiert die bestehenden Patentrechte für CIPRO und hat sich verpflichtet, bis zu ihrem Ablauf das Antibiotikum Ciprofloxacin exklusiv von Bayer zu beziehen.

Ciprofloxacin wird seit 1999 nach einer US-Konsensus-Konferenz zu Biowaffen bei bioterroristischen Milzbrand-Anschlägen als erste Wahl zur Behandlung empfohlen. Der Grund ist, dass gegen andere Antibiotika wie Tetrazykline oder Penicilline damals russische Forscher bereits resistente Stämme entwickelt hatten. Durch weitere Manipulation könnte ein mutierter Bacillus anthracis aber längst auch gegen Cipro resistent sein, es ist also ein Trugschluss in erster Linie auf dieses Medikament zu vertrauen. Wer die Erreger so rein und klein als Sporen züchten kann wie für die Anschläge in Washington, der könnte auch fähig sein, ihre Resistenzen genetisch zu verändern.

Das Genom ist entziffert und auch das Erbgut gefährlicher Bakterien ist heute kein Buch mit sieben Siegeln mehr. In der November-Ausgabe des Fach-Journals Nature Genetics diskutieren Claire Fraser vom Institute for Genomic Research in Maryland und Malcom Dando vom Department of Peace Studies der University of Bradford in Großbritannien die Gefahren und Chancen der Gen-Forschung in Hinblick auf biologische Waffen.

Die Autoren machen nachdrücklich darauf aufmerksam, dass von nun an "Biologen ihre Abneigung überwinden müssen, dass die Implikationen ihrer Forschungsergebnisse im Kontext von biologischer Kriegsführung und terroristischen Aktivitäten diskutiert werden." Fraser sitzt an der Entschlüsselung des Genoms von Bacillus anthracis und sie hat es bereits zu 99 Prozent geschafft. Sie hat keinen Zweifel, dass mit entsprechendem biotechnischen Knowhow auch Terroristen Bakterien mit Resistenz-Genen gegen die gängigen Medikamente ausstatten könnten.

Die Wissenschaftler überall auf der Welt arbeiten auf Hochtouren, um neue Therapien und Impfstoffe zu entwickeln. Vergangene Woche gab es bereits zwei Artikel in dem Wissenschaftsmagazin Nature zu neuen Therapien und nun sind vorab wieder neue Erkenntnisse veröffentlicht, die erst am 8. November in der gedruckten Ausgabe erscheinen werden. John A. T. Young von der University of Wisconsin-Madison und Kollegen der Harvard Medical School haben das Protein auf der Oberfläche der körpereigenen Zellen entdeckt, an das die Giftstoffe, die der Anthrax-Erreger produziert, andocken können.

Der stäbchenförmige Erreger produziert haltbare Sporen, die im Körper des Infizierten Giftstoffe (Toxine) frei setzen, die dann die Abwehrzellen im Blut, die Makrophagen, töten und so den gesamten Körper fortschreitend vergiften. Das ist der Grund, warum Antibiotika meist nicht mehr greifen, wenn die Symptome der Krankheit auftreten. Der Organismus vergiftet sich systematisch und unaufhaltsam. Deshalb ist der Lungen- und Darmmilzbrand so viel gefährlicher als der Hautmilzbrand, der in vielen Fällen (und bei rechtzeitiger Behandlung) auf die Oberfläche des Körpers beschränkt bleibt. Entscheidend für die Bekämpfung von Anthrax ist es also, diese Vergiftung zu verhindern. Die Identifikation dieses Zell-Rezeptors ("Protective Antigen" genannt) für das Anthrax-Toxin könnte die Grundlage für neue Therapien darstellen, die das Andocken an die Zellen verhindern. Eine synthetisch geschaffene Version lockt das Gift an, bindet es, lässt es aber dann nicht in die Zelle durch und verhindert dadurch die Vergiftung. Eine derartige Behandlungsmethode würde auch Antibiotika-resistenten Biowaffen-Erregern keine Chance lassen. Dagegen dürfte es für terroristische Bio-Techniker äußerst schwierig, wenn nicht sogar unmöglich sein, gegen den synthetischen Zell-Rezeptor, der die Zelle schützt, eine Waffe in den Bazillus einzubauen.

In einem zweiten Artikel stellen Robert Liddington vom Burnham Institute, La Jolla in Kalifornien und Kollegen von verschiedenen anderen Universitäten in den USA und Großbritannien die kristalline Struktur eines Proteins vor, das ein weiteres Element der tödlich verlaufenden Milzbrand-Infektion darstellt. Sobald das Gift sich an den Rezeptor angedockt hat, transportiert es dieses Enzym, "Lethal Factor" genannt, in die Zelle und vergiftet sie dadurch. Die zelleigenen Proteine funktionieren nicht mehr, die Signalketten werden unterbrochen und die Zelle stirbt. Dem Team um Liddington ist es nun gelungen, die genaue Struktur dieses Lethal Factors zu analysieren und damit die Basis zu schaffen, auf der chemische Verbindungen gesucht werden können, die seine Aktivität unterbinden. Ein weiteres Kettenglied des verhängnisvollen Milzbrand-Vergiftungsprozesses, das durch entsprechende Medikamente heraus gerissen werden könnte.

Wer sich noch ausführlicher zu medizinischen Aspekten der Biowaffen informieren will: das renommierte Journal of the American Medical Association (JAMA) macht angesichts des massiven öffentliches Interesse Artikel zum Thema Biowaffen gebührenfrei und über die Website frei zugänglich. Ein wirkliches Angebot, denn die Gebühren sind eigentlich saftig. Es gibt zu Milzbrand verschiedene Veröffentlichungen aus den letzten drei Jahren und ganz aktuellen Datums.