Der schwedische Corona-Weg: Erfolg oder Misserfolg?
Wie steht es mit dem schwedischen Corona-Sonderweg? Ist es überhaupt noch ein Sonderweg? Wie ist momentan die Lage in Schweden? Und wie sind die gesundheitlichen und ökonomischen Auswirkungen?
Durch mehrere Zuschriften sehr aufmerksamer Telepolis-Leser wurde ich darauf aufmerksam gemacht, dass es zu den anfangs offiziell vom des schwedischen Staatsfernsehen berichteten schwedischen Verstorbenen-Zahlen immer erhebliche Nachmeldungen gibt und dass die Zahlen dann schrittweise aktualisiert werden, sodass man sie eigentlich erst nach etwa 10 Tagen seriös verwenden kann. Dass ich mit der fehlerhaften Verwendung der Zahlen am aktuellen Rand nicht allein bin, Johns Hopkins University, statista, worldometers.info und viele andere verwenden sie auch) macht es nicht besser. Dieser Fehler tut mir sehr leid. Deshalb wurden die Zahlen, die Tabelle und der Chart des Artikels alle noch einmal gründlich überarbeitet und neu berechnet:
Korrektur zum Telepolis-Artikel "Der schwedische Corona-Weg: Erfolg oder Misserfolg?" Die Aussagen zur Gesamtmortalität haben sich fast nicht verändert, aber diejenigen zur Covid-Mortalität haben sich ins Gegenteil verkehrt.
Gesamtmortalität
Die folgende Tabelle zeigt die Gesamtmortalität in Schweden seit 2010 in den jeweils ersten 47 Wochen des Jahres, also bis Mitte/ Ende November. Die Zahl der Verstorbenen wurde durch die Einwohnerzahl geteilt und dann mal Tausend genommen. So erhält man die Gesamtmortalität pro tausend Einwohner. Die Zahl der Verstorbenen stammt von The Human Mortality Database, dessen Direktor am Max Planck Institut arbeitet und die die Zahlen vom statistischen Zentralamt Schwedens (SCB) verwenden.1 Für die Bevölkerungszahlen wurde statista verwendet.2
Gesamtmortalität Schweden, jeweils Wochen 1-47 | Verstorbene pro tausend Einwohner | Rang (niedrigste Mortalität Rang 1) |
2020 | 7,91437 | 3 |
2019 | 7,47643 | 1 |
2018 | 7,88152 | 2 |
2017 | 7,94042 | 5 |
2016 | 7,91780 | 4 |
2015 | 8,22447 | 7 |
2014 | 8,13251 | 6 |
2013 | 8,36477 | 8 |
2012 | 8,53410 | 11 |
2011 | 8,43386 | 9 |
2010 | 8,50276 | 10 |
Hier der Chart dazu:
Man sieht, dass innerhalb der letzten 11 Jahre 2020 die drittniedrigste Gesamtmortalität aufwies. Das heißt, in zwei Jahren, 2019 und 2018, hatte Schweden eine niedrigere Gesamtmortalität als 2020 und in acht Jahren eine höhere Mortalität. 2020 ist also ein Jahr mit äußerst niedriger Sterblichkeit. Schön für die Schweden, dass nur so wenige Menschen 2020 verstarben. Man kann also bis Ende November nicht von einer Sterbewelle in Schweden sprechen oder von einem verantwortungslosen epidemiologischen Umgang, der besonders vielen Menschen das Leben kostete, im Gegenteil. Von der Sterblichkeit her betrachtet ist 2020 eines der drei besten Jahre innerhalb der letzten 11 Jahre. Angesichts dieser Zahlen von einer Übersterblichkeit in Schweden im Jahr 2020 zu sprechen, ist wissenschaftlich nicht haltbar.
Dieses Ergebnis bestätigen auch die Daten von Euromomo, die die Gesamt-Übersterblichkeit von Schweden genauso niedrig ausweist wie die seiner Nachbarländer Norwegen, Finnland und Dänemark und so niedrig wie die deutsche. In all diesen Ländern liegt laut Euromomo "keine Übersterblichkeit" vor, im Gegensatz zu den meisten Ländern im Westen und Süden Europas. Schweden gehört, zusammen mit sieben anderen Ländern, zu der Gruppe mit der niedrigsten Übersterblichkeit in Europa.3 Daraus abzuleiten, dass der schwedische Corona-Weg unter Gesamtmortalitätsgesichtspunkten fehlgeschlagen sei, ist wissenschaftlich nicht haltbar.
Covid-Mortalität
Gehen wir nun weg von sämtlichen Verstorbenen und richten den Blick lediglich auf die Covid-Toten. Am 6.12.2020 lag der gleitende 7-Tages-Durchnittswert der Covid-Toten in Deutschland bei 375, in Schweden bei 10.4 Bereinigt um die Bevölkerung (Deutschland 2019 83,2 Millionen, Schweden 10,2 Millionen) heißt das, dass momentan die Corona-Sterblichkeit pro eine Million Einwohner in Deutschland 4,6 Mal so hoch ist wie in Schweden. Am 7.12. waren sind die Zahlen für Schweden im Vergleich zu Deutschland noch besser. Armes Deutschland. In Deutschland sterben derzeit also etwa fünfmal so viele Menschen pro 1 Million Einwohner wie in Schweden. Anders ausgedrückt: In Schweden sterben derzeit nur etwa ein Fünftel so viele Menschen an Corona wie in Deutschland.5 Glückliches Schweden. Die Gefahr, in Deutschland an Covid zu sterben ist derzeit also sehr viel höher als in Schweden.
Hier die Schaubilder dazu, oben Deutschland6, unten Schweden7 Stand 7.12.2020:
Schweden hat die Pandemie aktuell unter epidemiologischen Gesichtspunkten offenbar also ziemlich gut im Griff, jedenfalls sehr viel besser als Deutschland oder gar Bayern unter Söder, das seit Monaten regelmäßig ganz besonders schlecht im bundesweiten Vergleich abschneidet.8 Die von Markus Söder verfolgte Corona-Politik scheint ganz besonders unerfolgreich zu sein, im Gegensatz zur schwedischen.
Corona-Maßnahmen in Schweden
Welche Maßnahmen zur Pandemie-Eindämmung ergreifen die Schweden eigentlich momentan, also Stand Anfang Dezember? Richten wir den Blick vor allem auf die Unterschiede zu Deutschland: Gesichtsmasken, also Mund-Nasen-Schutz-Masken gibt es in Schweden praktisch gar nicht. So gut wie alle Menschen laufen mit offenen Gesichtern herum.9 Die Schulen (bis zur achten Klasse) waren das ganze Jahr hindurch geöffnet, die Schüler tragen keine Gesichtsmasken. Restaurants, Cafés, Hotels, Fitnessstudios und sonstige private Geschäfte sind geöffnet.10
Öffentliche Veranstaltungen sind seit Kurzem auf acht Menschen begrenzt, nach 22 Uhr gilt ein Alkoholverbot und von 7.12.2020 bis 8.1.2021 gibt es Homeschooling für Oberstufen-Schüler. Eine Maskenpflicht wird derzeit nicht einmal ernsthaft diskutiert und privat dürfen sich auch mehr als acht Schweden treffen. Kurz: Schweden setzt nach wie vor auf einen äußerst liberalen Kurs in der Pandemie-Bekämpfung, appelliert ganz überwiegend an die Vernunft der Bürger*innen statt eine Vielzahl von Verboten einzuführen. Erhebliche Einschränkungen in die Grundrechte gab es nie: Das Notfall-Pandemie-Gesetz, das im April verabschiedet worden war, lief Ende Juni aus, ohne jemals genutzt worden zu sein.11 Für Menschen mit starkem Freiheitsdrang und Abscheu vor Gesichtsmasken klingt das nach wie vor paradiesisch.
So schreibt die Südwest Presse am 7.12.2020: "Manches in Schweden wirkt für Mitteleuropäer wie aus einer anderen Welt: Während Masken aufgrund von wissenschaftlichen Zweifeln an ihrem Nutzen komplett verpönt sind, wurden Personen mit positiv getesteten Familienmitgliedern im Haushalt bis vor Kurzem weiter zum Arbeiten geschickt. Ebenso sollten die Geschwister von positiv getesteten Kindern anfangs weiter die Schule oder die Tagesstätte besuchen, statt in Quarantäne zu gehen."12
Ökonomische Entwicklung
Vergleicht man die ökonomische Entwicklung von Deutschland und Schweden, so zeigt sich, dass Schweden hier deutlich erfolgreicher ist. Das deutsche Sozialprodukt ist in den ersten drei Quartalen 2020 um insgesamt 5,8 Prozent13 gegenüber dem Vorjahr zurückgegangen, das schwedische um 3,13 Prozent14. Der deutsche Wirtschaftsabschwung war also 1,85 Mal stärker als der schwedische, die deutsche Volkswirtschaft ist also fast doppelt so stark abgestürzt wie die schwedische.
Fazit
Zusammenfassend lässt sich sagen: Der schwedische Corona-Weg ist nach wie vor ein liberaler Sonderweg. Es gibt praktisch keine Gesichtsmasken und sehr wenige gesetzliche Grundrechtseinschränkungen. Das Leben in Schweden ist sehr viel freier als in Deutschland und den meisten anderen Industrieländern. Die Gesamtmortalität in Schweden ist 2020 die drittniedrigste innerhalb der letzten 11 Jahre. Derzeit sterben in Schweden pro eine Million Einwohner erheblich weniger (statt "mehr") Menschen an Corona als in Deutschland. Die Ökonomie litt und leidet erheblich weniger als in Deutschland.
Zum Autor:
Prof. Dr. Christian Kreiß, Jahrgang 1962: Studium und Promotion in Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsgeschichte an der LMU München. Neun Jahre Berufstätigkeit als Bankier, davon sieben Jahre als Investment Banker. Seit 2002 Professor an der Hochschule Aalen für Finanzierung und Volkswirtschaftslehre. Autor von sieben Büchern: Gekaufte Wissenschaft (2020); Das Mephisto-Prinzip in unserer Wirtschaft (2019); BWL Blenden Wuchern Lamentieren (2019, zusammen mit Heinz Siebenbrock); Werbung nein danke (2016); Gekaufte Forschung (2015); Geplanter Verschleiß (2014); Profitwahn (2013). Drei Einladungen in den Deutschen Bundestag als unabhängiger Experte (Grüne, Linke, SPD), Gewerkschaftsmitglied bei ver.di. Zahlreiche Fernseh-, Rundfunk- und Zeitschriften-Interviews, öffentliche Vorträge und Veröffentlichungen.
Homepage www.menschengerechtewirtschaft.de