Der soziale Frieden in Deutschland ist gefährdet
Albrecht von Lucke über bedenkliche Entwicklungen im postdemokratischen Zeitalter - Teil 1
Albrecht von Lucke, Jurist und Politikwissenschaftler, ist Redakteur der Blätter für deutsche und internationale Politik und freier Publizist. In seinem Buch Die gefährdete Republik. Von Bonn nach Berlin 1949 - 1989 - 2009 analysiert er die allmähliche Abkehr der Bundesrepublik von bewährten Leitmotiven wie „Nie wieder Krieg“ und „Wohlstand für alle“.
In den Mittelpunkt Ihres Buches „Die gefährdete Republik. Von Bonn nach Berlin: 1949 – 1989 – 2009“ stellen Sie den sozialen Frieden in der Bundesrepublik. Diesen sehen sie als gefährdet an. Übertreiben Sie da nicht etwas? Ist der soziale Frieden nicht erst beendet, wenn wie in Griechenland, England, Frankreich Zehntausende von Jugendlichen auf die Straße gehen und Autos anzünden?
Albrecht von Lucke: Zunächst stellt sich natürlich die Frage, was sozialen Frieden ausmacht: Wenn man erst die Proteste in Frankreich, Griechenland oder England, wo sich protestierende Jugendliche Straßenkämpfe mit der Polizei liefern, als Bruch des sozialen Friedens betrachtet, dann haben wir es dabei mit einer sehr groben Definition des sozialen Friedens zu tun. Der soziale Friede kann aber bereits dann erodieren, wenn Millionen von Bürgern mental aus der Demokratie aussteigen, wenn sie also von einer exit option Gebrauch machen und sich nicht mehr an der Republik beteiligen.
Das erleben wir, wie nicht nur die geringe Beteiligung an der letzten Bundestagswahl belegt, gegenwärtig massenhaft. Insofern halte ich nicht nur den sozialen Frieden in der Bundesrepublik für gefährdet, sondern vor allem den republikanischen Zusammenhalt dieses Landes. Zugespitzter ausgedrückt: Ich bin der Meinung, dass der republikanische, demokratische Geist der Bundesrepublik seit 1989 in stärkerem Maße gefährdet ist als je zuvor. Ich glaube sogar, dass wir die alte Republik „verloren“ haben.
Sehen Sie da keinen Widerspruch? Einerseits schreiben Sie, immer mehr Menschen würden aus der Politik aussteigen, andererseits sehen Sie den sozialen Frieden gefährdet. Wie aber soll in einem Volk sozialer Unfriede entstehen, wenn die Unzufriedenen es noch nicht mal mehr schaffen, sich ins Wahllokal zu schleppen? Unzufriedenheit bemerkt man doch erst in der Unruhe.
Albrecht von Lucke: Das ist eben die Frage. Bei Ihnen scheint der soziale Frieden erst dann gestört zu sein, wenn die Menschen protestieren, wenn sie dramatisch Krawall machen, sich kriminell oder gewalttätig äußern. Ich hingegen glaube, man muss mit der Frage, was sozialer Frieden bedeutet, viel sorgfältiger umgehen. Dann wird man feststellen, dass das, was die alte Bundesrepublik ausgemacht hat, ihre hohe Fähigkeit zu sozialer Integration war. Darin sehe ich primär die Definition von sozialem Frieden: soziale Integration, Zufriedenheit in der Bevölkerung mit der Demokratie zu schaffen, durch Aufstiegsmöglichkeiten, mit der Möglichkeit, sich in der Gesellschaft zu betätigen, sowohl als sozialer wie als politischer Akteur. Diese Möglichkeit sozialer Integration und sozialer Beteiligung erodiert zunehmend. Das sieht man daran, dass die Leute nicht mehr zu Wahl gehen und sich mehr und mehr von der Demokratie abwenden – und zwar nicht zuletzt deshalb, weil sie aus dem sozialen Gefüge ausgeschlossen werden oder sich ausgeschlossen, also desintegriert fühlen.
Wenn Sie etwa anschauen, wie hoch die Anzahl der sogenannten Unterschichtsangehörigen ist oder der Kinder, die bereits in Hartz-IV-Familien hineingeboren werden, werden Sie feststellen, dass die Zahl derer, die nicht mehr am sozialen Geschehen teilnimmt, in den letzten Jahren erheblich größer geworden ist.
All das würde ich bereits als Warnsignal für sozialen Unfrieden oder die Störung des sozialen Friedens bezeichnen. Es führt zur Abkehr vom Politischen und von der Demokratie. Nicht zuletzt aufgrund dieser Phänomene sprechen viele Beobachter davon, dass wir in postdemokratischen Zeiten leben.
Besteht tatsächlich eine Gefahr für die Demokratie, nur weil ganze Bevölkerungsteile entschließen, nicht mehr an ihr teilhaben zu wollen? Für den Staat besteht sicherlich kein Handlungszwang, solange diese Abkehr vom Staat friedlich verläuft.
Albrecht von Lucke: Wenn man den Anspruch eines Staates darin sieht, dass alles friedlich bleibt und es nicht zu Protesten oder, dramatisch gesprochen, zu einem Klassenkampf kommt, kann man sich mit einer Zuschauerdemokratie zufrieden geben. Der Anspruch einer wirklichen Demokratie geht aber weiter. Die Bürger müssen sich in ihr wiederfinden und sich als Gleiche aufgehoben fühlen. Sie müssen den Eindruck haben, als politische Bürger beteiligt zu sein. Wenn das nicht mehr der Fall ist, melden sich die Bürger ab. Dann wird das „Durchregieren“, um das schöne Wort von Angela Merkel zu benutzen, um so leichter möglich, weil die klassische Kontrolle der Regierung durch den Souverän fehlt.
Wenn die Bürger sich aus der Teilhabe an der Demokratie verabschieden, kann das also „nur“ zu einer Zuschauerdemokratie führen, aber auch zum Umschlagen in eine Politik, die mit starken Formen der PR und des Marketing operiert, in der nicht mehr demokratisch diskutiert wird, sondern, wie Colin Crouch in seinem Buch über die „Postdemokratie“ schreibt, von oben mit Hilfe von Thinktanks und Marketingagenturen politische Slogans vorgegeben werden, aber in Wirklichkeit kein politischer Wettbewerb mehr existiert. Dann haben wir es mit einer schleichenden Verabschiedung von der Demokratie zu tun.
Dieses Phänomen kann man derzeit in vielen Staaten Europas beobachten und zunehmend auch in Deutschland – nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Linke, womit ich SPD und Linkspartei meine, in ganz erheblichem Maße geschwächt ist. So sehr geschwächt, dass nicht garantiert ist, dass wir es bei den nächsten Wahlen noch mit einer echten Regierungsalternative zu tun haben. Damit beginnt auch in Deutschland der Wettbewerb der unterschiedlichen Parteien und Programme zunehmend auszusetzen.
Halten Sie es für möglich, dass mehr direkte Demokratie den „Ausstieg“ der Bürger aus der Demokratie verhindern kann?
Albrecht von Lucke: Direkte Demokratie ist eine Form, den Bürger stärker zu beteiligen und damit der Demokratie zu erhalten. Es ist schon in diversen Umfragen deutlich geworden, dass mit den Möglichkeiten der Bürger, auf die Politik Einfluss zu nehmen, deren Bereitschaft steigt, der Demokratie zuzustimmen. Erhöhte Partizipation erhöht die Identifikation mit der Demokratie und ist deshalb ein probates Mittel, der zunehmenden Abwendung von Politik und Demokratie zu wehren – auch wenn dies, wie das Beispiel der jüngsten Abstimmung gegen Minarette in der Schweiz belegt, nicht immer zu Ergebnissen führt, die ich als emanzipatorisch bezeichnen würde.
Es gab aber unlängst in Hamburger Zeitungen und der Schweiz eine Diskussion darüber, dass an direktdemokratischen Verfahren gerade die Unterschichten nicht teilnehmen. Selbst bei Volksentscheiden sind sie also nicht an die Urne zu bewegen.
Albrecht von Lucke: Das ist in der Tat ein Problem. Deshalb wird ja auch darüber diskutiert, die Demokratie quasi zur Pflichtveranstaltung zu machen und den Bürgern eine Wahlpflicht aufzuerlegen. Das ist eine prekäre Situation, wenn man die sozial Schwachen gewissermaßen zu ihrem eigenen Schutz verpflichten muss, an der Demokratie teilzuhaben. Das bringt aber auch zum Ausdruck, welches Gefahrenpotential darin liegt, wenn sich, wie bei der letzten Bundestagswahl, 30 Prozent der Bevölkerung nicht mehr an die Wahlurne begeben, sich also bei der Wahlbeteiligung die neue Zwei-Drittel-Gesellschaft spiegelt.
Sollte aber nicht auch jeder Bürger das Recht haben, nicht an Wahlen teilzunehmen? Das ist immerhin auch eine politische Aussage.
Albrecht von Lucke: Ich bin gegenüber der Forderung nach einer Wahlpflicht in der Tat sehr skeptisch. Ich wollte nur zum Ausdruck bringen, in welchem Dilemma diejenigen sind, die einerseits ein Interesse daran haben, dass möglichst alle Bürger sich an der Demokratie beteiligen, andererseits aber die Forderung vertreten, dass demokratisches Verhalten immer nur ein freiwilliges sein kann. In einem Gemeinwesen, dass es offenbar immer weniger schafft, die Menschen für Politik zu interessieren, werden sich dann erhebliche Teile der Bevölkerung gar nicht mehr beteiligen – mit negativen Folgen für sie selbst.
Kann man aber nicht auch sagen, dass die latente Hoffnung auf Besserung, die jeder Demokratie innewohnt, den sozialen Frieden erhält? Wer glaubt, dass sich mit dem nächsten Regierungswechsel seine persönliche Situation ohnehin bessern wird, braucht seine Forderungen nicht auf der Straße kundzutun.
Albrecht von Lucke: Es ist ja gerade das Problem, dass diese Hoffnung zunehmend erodiert. Man sieht es an einigen Umfragen: Die klassische Politikverdrossenheit mit der typischen Grundhaltung „Die Politiker machen sowieso, was sie wollen, da muss ich mich gar nicht mehr beteiligen“ grassiert in steigendem Maße. Das impliziert ein sehr viel problematischeres Abwenden von der Politik. Wenn sie sich aus der Haltung erklären würde „Ich verlasse mich auf die Politiker. Die werden es schon richtig machen. Ich muss doch gar nicht mehr zur Wahl gehen“, könnte man ja durchaus optimistisch sein. Das scheint mir aber in zunehmendem Maße nicht mehr der Fall zu sein.
Sie meinen zudem, auch der Ruf nach dem Staat unterhöhle die Demokratie, weil er die Parlamente entmachte und die Regierungen stärke, wie im Fall der Konjunkturpakete. Wie kommen sie darauf?
Albrecht von Lucke: Meine These ist etwas grundsätzlicher: Die vergangenen 20 Jahre lang hatten wir es mit einem starken Glauben an die Selbstheilungskräfte des Marktes zu tun. Dieser Glaube ist im letzten Jahr massiv erodiert. Es folgte die reflexartige Hinwendung zum Staat. Der Staat soll plötzlich das Heil der Politik bedeuten. Das ist in einem gewissen Maß nachvollziehbar, denn bei der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise handelt es sich ja in der Tat um ein höchst gefährliches Ereignis.
Dennoch ist es bezeichnend, dass der Bürger nicht sagt: „Ich möchte wieder Herr der demokratischen Entscheidungen sein!“ Stattdessen findet eine Vertrauensverlagerung auf den Staat statt. Der Staat, der nach der neoliberalen Diktion eigentlich keinerlei Rolle mehr zu spielen hatte, ist plötzlich wieder der Garant der Sicherheit. Das ist deshalb so ein großes Problem, weil daraus keine Emanzipation der Zivilgesellschaft erwachsen kann, sondern eine reine Umverlagerung des Vertrauens stattfindet.
Daraus resultiert eine weitere Schwächung der Demokratie, weil keine Aktivierung des Bürgers, sondern das Gegenteil stattfindet: Der Bürger steht sprachlos vor der Krise, weil ihm ständig versichert wurde, dass er sich keine Sorgen zu machen brauche, da die Wirtschaft im Selbstlauf funktioniert, nach Adam Smith gelenkt von einer unsichtbaren Hand. Plötzlich bricht das so aufgebaute Vertrauen weg, und er verlagert es auf die Regierung. Die Regierung nahm sich zugleich seiner an und sagte, er solle Ruhe bewahren und darauf vertrauen, dass es die Politik richten wird. Ruhe wurde wieder zur ersten Bürgerpflicht. Das bedeutet aber auch den Verzicht auf demokratische Partizipation. Der Staat gewinnt an Reputation, während der Bürger sich selbst entmündigt.
Der von Neoliberalen gerne zitierte Übervater Ludwig Erhard schreibt in seinem Buch „Wohlstand für alle“, dass die Politik auf jeden Fall vermeiden solle, Erwartungshaltungen zu wecken, weil dann immer wieder nach dem starken Staat gerufen werde. Erhard musste sich jedoch keine Gedanken über die Globalisierung, internationale Finanzmärkte, einen europäischen Binnenmarkt usw. machen. Außerdem war ihm der Titel seines Buches „Wohlstand für alle“ Programm: Er wollte eine gerechte und gleichmäßige Verteilung des Einkommens und Vermögens. Beruhen die neuen neoliberalen Ideen insofern nicht auf veralteten Annahmen?
Albrecht von Lucke: Durchaus, wobei die Annahmen eben nicht als veraltet daherkamen, sondern im Gegenteil das Erhardsche Leitmotiv veraltet erscheinen ließen: die alte bundesrepublikanische Vorstellung von einem korporatistischen Ausgleich zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die in einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft ohne drastische Einkommensunterschiede ihren Ausdruck finden sollte. Dieses Leitmotiv ist in den letzten 20 Jahren dramatisch erodiert.
Seit dem von Fukuyama so genannten „Ende der Geschichte“ war der Glaube an eine radikale Ökonomisierung zur neuen Hauptideologie geworden. Das bedeutete, dass das Leitmotiv Erhards, Gleichverteilung von Einkommen und Vermögen, als zunehmend hinfällig erschien. Gerade in Deutschland hat man sich die grundsätzliche Frage, inwieweit es die Gleichheit der demokratisch Beteiligten, eine gewisse Homogenität der Bürger, geben muss, nicht gestellt. Sie erschien als Frage von gestern. Dieser Glaube ist in der Krise von einem Tag auf den anderen wieder zusammengebrochen, aber leider nur für kurze Zeit. Denn die Haltung der Wirtschaft hat sich bis heute nicht grundlegend verändert. Das neoliberale Leitmotiv „Bereichert euch!“ ist nicht in Frage gestellt worden und die grundsätzlichen Probleme bleiben erhalten. Dabei wäre eine Rückkehr zum Leitmotiv der sozialen Marktwirtschaft, die von 1949 bis 1989 die Bundesrepublik maßgeblich geprägt hat, das Gebot der Stunde.
Das andere Problem, das sie erkannt zu haben glauben, ist die fehlende Identifikation der Bürger mit ihrem Staat und dem Grundgesetz. Stattdessen würden sie sich jetzt zunehmend mit der Nation identifizieren. Aber die Generationen, die noch die Gründung der Bundesrepublik erlebt haben, haben sich auch nicht mit dem Grundgesetz auseinandergesetzt – dennoch war der Staat stabil.
Albrecht von Lucke: Natürlich war die ganze Geschichte der Bonner Republik kein garantierter Erfolg von Beginn an, sondern ein gewaltiger Lernprozess. Denn die alte Republik, gegründet nur vier Jahre nach Ende des Nationalsozialismus, bestand ja keineswegs aus lauter Demokraten. Wenn man sich aber mit dem Parlamentarischen Rat als dem eigentlichen Schöpfer des Grundgesetzes beschäftigt, wird man feststellen, dass dort ein ungeheurer intellektueller Einsatz für die Begründung der Demokratie praktiziert wurde, der dann in zunehmendem Maße in dieser Republik zum Tragen kam.
Wenn also die Bürger der Bundesrepublik diese sukzessive als ein Gemeinwesen begreifen lernten, das auf Menschenrechten, Sozialstaat, Demokratie und Gewaltenteilung basiert, dann war das auch Ausdruck eines starken grundgesetzlichen Verständnisses. Das hat zu einem erheblichen Stolz auf dieses Grundgesetz geführt, der im Begriff des Verfassungspatriotismus kulminierte.
Das hing aber auch damit zusammen, dass die Bundesrepublik bis 1989 ein Provisorium war. Die Bundesrepublik war kein souveräner Staat. Seit 1989 haben wir es dagegen mit einer „Normalisierung“ der Bundesrepublik als deutscher Nation zu tun. Das fing bereits 1989/90 an, als gefordert wurde, dass Deutschland wieder als Akteur auf der internationalen Bühne auftritt, und fand 1999 seine erste entscheidende Umsetzung im Kosovo-Krieg – ironischerweise just in dem Jahr, als die alte Bonner Republik nach Berlin umzieht. Die neue Berliner Republik begann also im Krieg.
Dieser Prozess der nationalen „Normalisierung“ hat dazu geführt, dass wir heute in aller Regel nicht mehr von der Bundesrepublik oder gar der Berliner Republik sprechen, sondern schlicht von Deutschland. Das findet sich auch in vielen Symbolen wieder, beispielsweise in der schlichten Tatsache, dass auf den Briefmarken heute nicht mehr Bundesrepublik Deutschland, sondern nur noch Deutschland steht. Wir haben es also von der Bezeichnung her mit einem neuen Akteur zu tun. Das ist eine grundsätzlich andere Situation als in der Zeit von 1949 bis 1989. Das schwarz-rot-goldene Fahnenmeer während der Fußballweltmeisterschaft 2006 war eine nach außen sichtbare Versöhnung der bundesrepublikanischen Bevölkerung mit der klassischen Insignie eines souveränen Staates, nämlich seiner Fahne. Das wäre in der alten Bundesrepublik so nicht vorgekommen. Das meine ich unter anderem, wenn ich sage, wir haben die Republik verloren.
Glauben Sie nicht, dass dies eher damit zusammenhängt, dass die Bundesrepublik sich bis 1989/90 in erster Linie durch den Gegensatz zur DDR identifiziert hat? Nach der Wiedervereinigung fiel diese Identifikationsnotwendigkeit einfach weg, und aus der Bundesrepublik wurde Deutschland.
Albrecht von Lucke: Das ist sicher richtig, und doch glaube ich, dass sich in der Bundesrepublik bis 1989 ein spezifisch bundesrepublikanisches Bewusstsein ausbildete, das stark durch die Dominanz innenpolitischer Diskurse geprägt war – eben auch deshalb, weil es durch den Kalten Krieg und die spezielle Rolle Deutschlands eine „Karenz“ von außenpolitischer Verantwortung gab, wie dies der Soziologe Niklas Luhmann nannte. Eine Karenz, die sich nicht zuletzt darin ausdrückte, dass die Republik nicht zur Führung von Kriegen als dem klassischen Fall der Ausübung staatlicher Souveränität in der Lage war.
Sie meinen, es würde in der deutschen Öffentlichkeit nicht genügend diskutiert über die Kriege, die Deutschland heute, als Nationalstaat, wieder führt. Man begreife die Rückkehr des Krieges als Rückkehr der Normalität. Dennoch wird in dieser Legislaturperiode die Wehrpflicht auf sechs Monate gekürzt werden. Sind das Zeichen dafür, dass das Konzept der „Staatsbürgers in Uniform“ gescheitert ist?
Albrecht von Lucke: Soweit würde ich nicht gehen, weil ich bereits Zweifel daran habe, dass das hohe Ideal des „Staatsbürgers in Uniform“ jemals wirklich überzeugend in die Realität umgesetzt wurde. Die Verkürzung der Wehrpflicht halte ich aber in der Tat für symptomatisch für die Entwicklung nach 1989. Die allgemeine Wehrpflicht war ein entscheidendes Momentum der alten Bundesrepublik. Bundeskanzler Kiesinger (CDU) hat die Wehrpflicht einmal als „Schule der Nation“ bezeichnet. Der Bürger sollte, im konservativen Verständnis, durch die Sozialisation in der Bundeswehr ein nationales oder wehrhaftes Ethos entwickeln. Umgekehrt sollte nach liberaler Auffassung der zivile Geist der bundesrepublikanischen Bevölkerung in die Bundeswehr einfließen, der Bürger sollte Anteil an der Institution Bundeswehr haben: deshalb die Vorstellung von „Bürgern in Uniform“.
Dass nun die Wehrpflicht zum erweiterten Praktikum herabgestuft wird, bedeutet zum einen den schleichenden Ausstieg aus der Wehrpflicht, zum anderen, dass die Umwandlung der Bundeswehr in eine Berufs- und Einsatzarmee in forciertem Maß voranschreitet. Das korrespondiert damit, dass wir es bei der Bundesrepublik inzwischen mit einem souveränen Staat zu tun haben, der sich nicht nur im Ausnahmefall bereit erklärt, Krieg zu führen, sondern seinen UN-Verpflichtungen nachkommen will und auch in Zukunft an Kriegen beteiligt sein wird.
Erstaunlicherweise wird dieser fundamentale Wandel bis heute in der Bevölkerung nicht hinreichend diskutiert. Am stärksten ist dies am Afghanistaneinsatz zu merken. Die Bevölkerung ist dem Krieg sehr kritisch gegenüber eingestellt, weshalb die Bundesregierung bis vor kurzem auch vehement ablehnte, offiziell von Krieg oder Kampfeinsatz zu sprechen. Erst der neue Verteidigungsminister hat damit gebrochen und auch die Kanzlerin spricht mittlerweile von „kriegsähnlichen Zuständen“ in Teilen Afghanistans. Aber trotzdem finden keine richtigen Debatten statt. Die Bevölkerung ist also noch nicht auf der Höhe der Zeit, was ich als sehr problematisch ansehe. Sie hat noch nicht hinreichend zur Kenntnis genommen, dass Deutschland als politischer Akteur auf die globale Bühne zurückgekehrt ist. Die Phänomene sind dem Bewusstsein vorausgeeilt, ja enteilt, und konnten überhaupt noch nicht diskursiv verarbeitet werden.
Sie glauben, die Deutschen würden den Leitsatz der Bonner Republik, „Nie wieder Krieg!“, allmählich vergessen. Dem scheint aber nicht so zu sein: Die Mehrheit der Deutschen ist gegen den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr, und die Proteste gegen den Irakkrieg waren riesig. Deutschland ist nach wie vor ein tief pazifistisches Land.
Albrecht von Lucke: Ich wollte damit nicht sagen, dass die Deutschen ein bellizistisches Volk wären. Das positive historische Erbe der Bundesrepublik ist es ja gerade, dass die Deutschen jedem Krieg gegenüber zunächst zutiefst skeptisch eingestellt sind. Diese Skepsis erhält schließlich auch immer wieder Nahrung: Dass sich etwa sehr schnell herausstellte, dass der jüngste Irak-Krieg von den USA mit Hilfe eines gewaltigen Lügengebildes entfacht wurde, bestätigte sie in ihrem pazifistischen Grundgefühl.
Auf der anderen Seite lautet die zweite Lehre aus der deutschen Geschichte „Nie wieder Auschwitz“: Es muss verhindert werden, dass massive Menschenrechtsverbrechen begangen werden. Es existiert also das Dilemma, dass man auf der einen Seite um die Grausamkeit des Krieges weiß und man große Vorbehalte gegen jeden kriegerischen Einsatz hegt, auf der anderen Seite aber auch weiß, das es eine moralische Pflicht sein kann, zur Verhinderung eines Menschheitsverbrechen zu intervenieren.
Trotzdem würde ich nicht behaupten, dass Deutschland heute kein im Grunde pazifistisches Land ist. Das Problem scheint mir zu sein, dass man sich den neuen Realitäten nicht stellt. Das verweist auf das Grundproblem dieses neuen Deutschlands, das ich in meinem neuen Buch behandle, nämlich dass Debatten, Streitigkeiten und Auseinandersetzungen über politische Alternativen in Deutschland seit zwanzig Jahren nicht mehr in dem Maße stattfinden, wie es die alte Bundesrepublik gekennzeichnet hat. Ich glaube, dass wir es mit einer wachsenden Apathie zu tun haben, weil kein Wettstreit der politischen Ideen mehr stattfindet.
Der zweite Teil des Gesprächs: Abwendung von der Demokratie.