Der tollste Ayatollah
Machtkämpfe innerhalb der Sadristen im Irak - USA werden als einäugiges Lügenmonster stilisiert
Die kulturelle Kluft zwischen den anglo-amerikanischen Besatzern und der irakischen Bevölkerung vertiefe sich zum Abgrund, diagnostiziert ein beachtenswerter Artikel des amerikanischen Magazins Mother Jones. Nachdem die Bedrohung durch irakische Massenvernichtungswaffen und die Verbindungen des alten Regimes zur al-Qaida als Kriegsgründe mittlerweile vollkommen entwertet seien, fällt jetzt auch die dritte Säule der Argumentation: die Befreiung. Schon längst werde dieses Wort der Stimmung im Lande nicht mehr gerecht, stattdessen spreche man besser von "Ressentiment geladener Abhängigkeit (resentful dependence)".
Noch geht man offiziell davon aus, dass der erbitterte Guerillakrieg gegen die Besatzer vor allem von sunnitischen "Widerstandsnestern" aus geführt wird. Über die genaue Zusammensetzung der Guerilla, ob sie, wie fortwährend propagiert, nur dem alten Baathistischen Kern zugerechnet werden kann oder ob diese Annahme nicht einem politisch-strategischen Wunschdenken der Amerikaner entspricht, darüber wird in der gegenwärtigen Berichterstattung viel spekuliert (auch dazu bietet der MotherJones-Bericht erhellende Einblicke).
Bemerkenswert ist, dass sich die Amerikaner - trotz der üblichen "Watch Out!"-Rhethorik von Wolfowitz Richtung Teheran - gegenüber den Unruhen im schiitischen Lager bislang ziemlich gelassen geben. Obwohl, wie ein jordanischer Politiker vor einigen Tagen äußerte, der ganze Irak in Brand gesteckt würde, sollten sich die Schiiten dem sunnitischen Widerstand anschließen.
Inmitten der vielen Meldungen über die wachsende Frustration platzte nun letzte Woche die Neuigkeit, dass ein bekannter Sunni-Muslim, ein Kleriker namens Achmed Kubeisi, den Schiitenführer Muktada as-Sadr (siehe Der Punk unter den irakischen Schiitenführern) mit geschätzten 50 Millionen Dollar unterstütze: ein "seltenes Beispiel für die Kooperation über dem sektiererischen Graben im Irak hinweg" (Washington Post), das der amerikanischen Führungsriege "kalte Schauer über den Rücken jagte" (Mother Jones).
Wenn die Informationen des Washington Post-Berichts stimmen und der sunnitische Kleriker obendrein seine Anhänger zu den berüchtigten Freitagspredigten von Muktada as-Sadr schickt, dann hat die US-Administration tatsächlich gute Gründe, alarmiert zu sein.
Unter den Schiitenführern vertritt as-Sadr bislang den unerbittlichsten, glühendsten Widerstand gegen die amerikanische Besatzung - "Wer für die USA ist, ist kein Muslim". Bislang... Jetzt tritt ihm aus eigenem Haus, dem der Sadristen, die sich u.a. auf Muktadas hochverehrten Vater, Sadiq as-Sadr berufen, ein Rivale entgegen, der es an zugkräftiger anti-amerikanischer Rhethorik mit ihm aufnehmen kann: der selbsternannte Ayatollah Scheich Muhamed al-Jaqubi.
Am 15.August sollen unzählige Sympathisanten vor der ar-Rahman Moschee in Bagdads Oberklassenviertel al-Mansur Muktada as-Sadrs engstem Vertrauten im hohen schiitischen Klerus, al-Hairi, scharf verurteilt und "Ja für al-Jaqubi" skandiert haben. Für die Asian Times ein Indiz dafür, dass hier ein Zwist, eine Fitna, die von Muslimen normalerweise unter allen Umständen vermieden wird, im Gange ist.
Es geht um einen Richtungsstreit innerhalb des schiitischen Klerus im Irak. Während die konservative Fraktion der Hawsa (oder Hausa), eine Art "vatikanischer Oberrat" der Schiiten in Nadschaf, unter der Führung des greisen Ayatollahs Ali Sistani der althergebrachten Tradition der Zurückhaltung in politischen Angelegenheiten huldige, sehen sich die Sadristen in einer anderen, aktivistischeren Tradition: der "Hawsa natika", der revolutionären Linie der Hawsa. Trotz vieler anderer historischer Vorläufer, beruft man sich hier vorzüglich auf den Widerstand von Muhamed Sadiq as-Sadr, den dieser dem Regime von Saddam Hussein entgegensetzte (und mit dem Martyrertod bezahlte).
Al-Jaqubi soll der Lieblingsschüler des Vaters von Muqtatda as-Sadrs gewesen sein. Jetzt ist er Hauptrivale des Sohnes im Versuch, die Kontrolle über die irakischen Schiiten zu erlangen, so die Asian Times.
Die Organisation, die al-Jaqubi zu diesem Zweck gegründet hat, die Fudala ("Die Großzügigen"), versteht sich - wenig überraschend- als die einzig wahre Hawsa. Zu ihren Hauptaufgaben gehört, auch das keine Überraschung, die Verteidigung der Muslime gegen die westliche Kultur.
Argumentative Unterstützung sollen sich die Anhänger, über deren Anzahl noch keine Schätzungen vorliegen, aus den gelehrten Werken des Ayatollahs beschaffen, in denen die Freimaurer für den schon lange währenden Kulturkampf zwischen dem Westen und dem Islam als Drahtzieher verantwortlich gemacht werden. Die USA fungieren als der große Anti-Muslim, ein einäugiges Lügenmonster, so etwas wie der Antichrist, halbblind eben und mit überwältigender finanzieller und technologischer Macht ausgestattet. Mit seinem einäugigen Blick, der alleine auf Geld und nichts anderes ausgerichtet ist, bereitet der "Awar al-daschal" allen Muslimen die Hölle. Helfen kann hier nur die Aussicht auf das Paradies, das jedem Muslim, der durch diese Hölle gegangen ist, bevorsteht, die Erlösung durch das Wiedererscheinen des Mahdis, des verschwundenen Imams, (übrigens in Zusammenarbeit mit Jesus Christus!) und selbstverständlich der Kampf gegen dieses Monster.
Konkret sollen diese Ansprüche durch Fudala-Zentren im gesamten Irak, eigene Zeitungen, engagierte Sozialarbeit in der armen schiitischen Bevölkerungsschicht, religiöse Erziehung und vor allem über eine bedeutende Mitwirkung an der Ausarbeitung der irakischen Verfassung realisiert werden. Militante Ambitionen, wie sie etwa der rivalisierende Bruder, Muktada, mit seiner "Al-Mahdi-Armee" an den Tag legt, hegt man zumindest öffentlich nicht. Die Frontlinien sehe man woanders, der Kampf gegen den Westen habe viele Gesichter, sagte der Sprecher der Fudala, Abu Abdullah, bei einer Pressekonferenz zur Gründung der Organisation.
Es gibt einen kulturellen und pädagogischen Krieg, weil uns die westlichen kulturellen und pädagogischen Institutionen zerstören wollen. Und es gibt einen wirtschaftlichen Krieg, weil der Westen in den Besitz der Reichtümer der islamischen Länder gelangen will. Die Fudala wird viele Orte haben, um ihre Ideen zu verbreiten. Denn: jede Moschee im Irak wird ein "Office" für uns sein, weil es der naturgemäße Ort für religiöse Leute ist, die sich treffen wollen.
Al-Jaqubi, der sich auf der Pressekonferenz über spezifischere Ziele ausschwieg, fügte dem hinzu:
Es ist nicht nötig, dass diese Hawsa den Irak direkt kontrolliert. Wenn die Hawsa natika jede Stadt unabhängig kontrolliert, dann ist die Summe des "Managements" aller Städte gleichbedeutend mit einer Regierung.