Der Punk unter den irakischen Schiitenführern

Muktada as-Sadr will eine eigene Armee aufstellen

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Mehr als 10.000 Gefolgsleute für seine Armee der Freiwilligen hat der jüngste Schiitenführer und zugleich lauteste Antipode zur amerikanischen Besatzung im Irak mittlerweile rekrutiert, meldete der Guardian vergangene Woche. "Die Anzeichen für möglichen Ärger vermehren sich", warnt die englische Tageszeitung.

Muktada as-Sadr

Mit welchen Waffen die "Armee von Al-Mahdi", benannt nach dem legendären "verborgenen Imam", dessen Wiederankunft eines Tages die Welt retten soll, ausgerüstet werden soll, bleibt vage, wie so viele Gerüchte und Geschichten, die über den "Punk" der Schiiten erzählt werden.

Sie wollen nur mit "friedlichen Mitteln" gegen die ungläubigen Eindringlinge, deren Immoralität und "fremden Ideologien", die mit ihnen ins Land gekommen sind, kämpfen, verlautbarte as-Sadrs Sprecher, Scheich al-Khafadschi, betonte aber im Nachsatz:

Die Armee wird nicht mit Stöcken kämpfen; gleichzeitig ist es aber mehr als eine große Menge von Protestierenden. Es ist eine Armee.

Man wolle vor allem den sozialen Verfall in den armen Schiitengebieten aufhalten, heißt es weiter, ein "Wohlfahrtssystem" etablieren, Wachposten aufstellen und für die Einhaltung religiöser Pflichten sorgen.

Wohlfeile Lippenbekenntnisse, die nicht wörtlich zu nehmen sind, nach Informationen der International Herald Tribune, die behauptet, dass Anhänger as-Sadrs Waffen in die heilige Stadt Nadschaf geschmuggelt haben. Darüber hinaus kursieren Geschichten, dass unverschleierte Frauen von den Zeloten mit harter Hand auf ihr Vergehen hingewiesen werden.

Unbestritten ist allerdings Muktada as-Sadrs Popularität; uneins ist man nur darüber, wie viele Anhänger der junge Spross einer hochrenommierten Schiitenfamilie tatsächlich hat. Bis zu 50.000 Gläubiger hören as-Sadrs freitägliche Predigten in der Moschee von Kufa, einem Nachbarort von Nadschaf, so die Herald Tribune. Al-Jazeera berichtet von mehr als 100.000. Ein amerikanisches Magazin wähnt sogar zwei Drittel aller irakischen Schiiten hinter dem Sohn des Ayatollahs Muhammed Sadiq as-Sadr, der 1999 zusammen mit seinem Bruder Ayatollah Muhammed Bakir as-Sadr bei einem Unfall ums Leben gekommen ist, bei dem Saddam Hussein nachgeholfen haben soll.

Der Onkel Bakir war der große religiöse Gegenspieler zu Saddam Hussein. Nach dem Fall Bagdads wurden die Plakate mit dem Bild Saddams in den schiitischen Vierteln mit Bilder des verehrten Bakir as-Sadr ersetzt; der Stadtteil "Saddam-City" in "Sadr-City" umbenannt.

Auf diese Herkunft und auf die große Schar der Anhänger, die größtenteils aus der jüngeren Generation stammen, beruft sich Muktada, der offiziell keine religiöse Autorität besitzt. Zwar gibt er sein Alter mit 30 Jahren an: er soll aber in Wirklichkeit nur 23 Jahre zählen, zu jung für einen "Mardscha at-Taqlid (Vorbild der Nachahmung)", die höchste Autorität im schiitischen Islam.

Wenn es um religiöse Autorität geht, muss sich as-Sadr auf den befreundeten Ayatollah al-Haeri berufen, den sein Onkel als Nachfolger in der Führung eingesetzt haben soll, was ihn nicht weiter anficht, da er für seine klerikalen Gegenspieler in der "Hausa (Hawsa)" - einer Art vatikanischem Oberrat im irakischen Schiismus - ohnehin nur Verachtung übrig hat.

Der höchste Imam, Ali Sistani, Führerfigur in der Hausa, hat sich in seinen Augen durch das jahrelange Schweigen während des Regimes von Saddam Hussein korrumpiert. Dessen Gegenpart unter den Mardschas, Bakr al-Hakim, der Führer der SCIRI (siehe Die Mullahs und das Bündnis mit dem Satan, ist für as-Sadr durch seine Zusammenarbeit mit den verhassten Amerikanern - al-Hakims Bruder sitzt im Regierungsrat - entehrt. Darüber hinaus wirft ihm as-Sadr vor, dass er die Schiiten im Süden des Landes 1991 zu einem Aufstand gegen Saddam Hussein aufgewiegelt habe, um sie dann aber ihm Stich zu lassen.

Im Gegensatz zu den offiziell anerkannten Autoritäten spricht Muktada zu seinen Anhängern nicht in reinem Hocharabisch; seine mit politischer Polemik ("Wer immer für die Besatzung ist, ist kein Muslim", "Die Befreiung ist Allah zu verdanken, nicht den USA") durchsetzten Predigten soll er in einer einprägsamen Mischung aus Straßendialekt und Hocharabisch halten. Vor allem bei den Schiiten aus den ärmeren Regionen und Stadtvierteln kommt er damit gut an, besser als der zurückhaltende Ali Sistani und Bakr al-Hakim. Die Menge der Anhängerschaft ist wichtig: ein "Zaim", der Primus unter den Schiitenführern, ist derjenige, der die meisten Anhänger hat.

Doch selbst in der eigenen Familie ist Muktadas strikte Ablehnung der Amerikaner nicht unbestritten. "Die Amerikaner haben etwas geschafft - den Fall des Regimes, wozu wir in 30 Jahren Blutvergießen und überfüllten Gefängnissen nicht imstande waren", zitiert der Guardian einen Cousin as-Sadrs, der zwar den Regierungsrat unterstütze, aber eine Einladung zur Teilnahme abgelehnt haben soll.

Für den zuständigen Militär in Nadschaf, Colonel Conlin, ist Muktada ein "unreifer Junge, der von anderen manipuliert wird", von dem mithin keine Gefahr ausgehe, zumal es in Nadschaf und anderen Städten im schiitischen Süden keine Anschläge auf US-Truppen gegeben habe.

Aber Massendemonstrationen, wie vor einigen Wochen, als as-Sadr in einem lokalen Fernsehsender behauptete, dass sein Haus von US-Truppen umstellt sei und man ihn verhaften wolle. Eine Falschmeldung, so die US-Offiziellen. Man habe ein paar Hubschrauber über dem Gebiet kreisen lassen und die Truppen verstärkt, weil Paul Woölfowitz zu Besuch war. Der Chef des Lokalsenders wurde entlassen. Die Angelegenheit ist einer der Streitpunkte im Konflikt zwischen Wolfowitz und Al-Jazeera.

Wahrheit und Gerücht liegen eng zusammen, wenn es um as-Sadr geht. So wurde ihm vorgeworfen, dass er an der Ermordung des aus dem Exil zurückgekehrten - und von England und den USA unterstützten - Schiitenklerikers Ali Khoei (siehe Iraqi Opposition, go home !) maßgeblich beteiligt war. As-Sadr bestreitet dies ("Er war in der Gasse, in der mein Haus steht. Ich wollte ihm zur Hilfe kommen"). Auch das Haus von Ali Sistani sollen seine Anhänger im April belagert haben, mit der Forderung der Geistliche solle Nadschaf innerhalb von 48 Stunden verlassen.

Unklar ist auch as-Sadrs Beziehung zu den iranischen Mullahs. Vor einigen Wochen sei er dort mit höchsten Ehren empfangen worden. Offiziell lässt Teheran verlauten, dass man ihn "zügeln" wolle.