Die Mullahs und das Bündnis mit dem Satan

Wer kommt nach Saddam? Teil 2: Der irakische Schiitenführer Bakr al-Hakim

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Die Sunniten, etwa 17 % der irakischen Bevölkerung, besetzen seit Gründung des modernen Irak die entscheidenden Machtpositionen im Land. Das soll sich ändern, sobald das gegenwärtige Regime abdanken muss; die Schiiten, bislang unterpivilegiert, reklamieren ihre Ansprüche im künftigen Irak.

Einen großen Teil ihrer Unterredung mit dem amerikanischen Präsidenten haben Kanan Makiya (vgl. Wer kommt nach Saddam?) und andere Exil-Iraker damit verbracht, George W. Bush darüber aufzuklären, dass es im Irak zwei große Gruppen von Arabern gebe, Sunniten und Schiiten. Dass eine irakische Opposition überhaupt existiert, schien dem Präsidenten noch im Januar dieses Jahres, als die Unterredung stattfand, ein völlig neuer Gedanke, berichtet der amerikanische Autor George Packer in einem lesenswerten Porträt Makiyas und dessen Visionen von einem demokratischen Irak. Mittlerweile könnte der anhaltende militärische Widerstand, der den Invasoren aus den schiitischen Hochburgen im Süden des Irak entgegen schlägt, auch den naivsten amerikanischen Befreiungs-Konzeptionalisten davon überzeugen, dass die schiitische Mehrheit der irakischen Bevölkerung ein wichtiger Faktor in der anvisierten Neuordnung des Landes ist.

Die Schlüsselfigur der schiitischen Opposition gegen Saddam Hussein heißt Ayatollah Muhammed Bakr al-Hakim. Schon sein Titel verrät, weshalb die Amerikaner das Oberhaupt der irakischen Schiiten nur ungern in ihre Planungen mit einbeziehen. Man fürchtet dessen Verbindungen zu den Mullahs im Nachbarland Iran. Die Aufrüstung Saddam Husseins in den achtziger Jahren durch die Amerikaner wurde mit einem befürchteten Übergreifen der iranischen Revolution auf den Irak begründet. Die freundschaftlichen Beziehungen Muhammed Bakr al-Hakims zu dem religiösen Oberhaupt der Iraner, Ayatollah Khamenei, dessen Mullahs die Armee und die auswärtige Politik des Iran kontrollieren, rühren an alte Ängste der Amerikaner.

Doch auch der "Oberste Rat der islamischen Revolution im Irak (SCIRI), geführt von Bakr al-Hakim, misstraut den USA. Dass die Amerikaner im letzten Golfkrieg die Schiiten erst zum Widerstand gegen Saddam ermuntert und dann schmählich den rachelüsternen Schergen Saddams überlassen haben, weil ihnen der Diktator als berechenbareres Übel erschien als die Schiiten, ist nicht vergessen und wird von alten strategischen Haudegen wie dem derzeit gefragtesten "Nahost-Experten" Scholl-Latour ("der Räuber Hotzenplotz der Schützengräben" TITANIC) auch als Grund dafür angegeben, weshalb die Schiiten statt zu den alliierten Truppen überzulaufen, wie in der Planung der Amerikaner vorgesehen, lieber ihre Heiligtümer gegen den Zutritt der ungläubigen Schmutzfüße verteidigen.

Der Ahnvater der Schiiten, Ali, Stiefsohn und Vetter des Propheten, wurde 661 in der Nähe der irakischen Stadt Kufa ermordet, seinen Söhnen, Hussein - "Der Größte unter den Martyrern" und Abbas Ibn Ali, widerfuhr ein ähnliches Schicksal, 19 Jahre später. Die Attentate sind eine wesentliche Grundlage des Schismas zwischen Sunniten und Schiiten; die Stadt Kerbela, wo Hussein fiel, gilt den Schiiten als ebenso heilig wie Mekka den Sunniten.

Zum Verständnis der Macht und des Einflusses, den Bakr al-Hakim auf etwa 60% der irakischen Bevölkerung ausübt, ist das wichtig. Anders als Achmed Dschalabi, braucht er keine amerikanische Unterstützung, um sich als ernst zu nehmender Faktor im Irak nach Saddam Hussein zu legitimieren. Der Ayatollah kann sich auf eine mächtige Tradition stützen - religiöser Art: die Wurzeln seiner Familie gehen direkt auf den Propheten zurück - und, damit verflochten, politischer Art: der jahrzehntelange Widerstand gegen Saddam Hussein: der Vater Muhsin al-Hakim, ehemaliges Oberhaupt der weltweiten Schiitengemeinde, hatte schon1968 eine Fatwa gegen Saddam ausgerufen. Seither hat Saddam Hussein unzählige Mitglieder der Familie al-Hakim ermorden lassen. Muhammed Bakr selbst wurde mehrmals verhaftet und gefoltert. 1980 gelang ihm die Flucht ins Exil, zuerst nach Syrien und dann in den Iran.

Von dort aus regiert er die SCIRI, deren bewaffneter Arm, die Badr-Brigaden, benannt nach einer Schlacht im Jahre 624, die Ali im Namen des Islam gegen eine übermächtige Streitmacht führte und gewann. Der Bruder des Ayatollahs, Abdulaziz al-Hakim, Mitglied der sechsköpfigen Führungsrates der Opposition, befehligt die geschätzte 15 000 Mann starke Truppe, wie viele davon bereits im irakischen Kurdistan stationiert sind und über welches Arsenal sie verfügen, weiß niemand genau. Mitte März berichtete die BBC von einer Parade der Truppe im Norden Iraks vor versammelten Journalisten, die, so die Mutmaßung des BBC-Reporters, extra dafür eingeladen wurden, um eine zweifache Botschaft zu übermitteln: erstens, dass mit dem SCIRI zu rechnen sei und zweitens, dass dessen Führung zwar eine "notwendige Grundlagenarbeit" des US-Militärs gutheiße; ein Verbleiben der USA im Irak nach der Entfernung des Regimes, die Einsetzung eines militärischen "Prokonsuls", sei jedoch völlig unakzeptabel.

Das letztere zumindest deckt sich mit den Aussagen ihres geistigen Oberhaupts, der in allem anderen doch Rücksicht auf seine iranischen Brüder im Glauben nehmen muss. So sehr von seiner Seite betont wird, dass der irakische Schiismus nicht mit dem iranischen gleichzusetzen sei, so sehr der Ayatollah betont, dass er mittlerweile mit den anderen Oppositionskräften für eine föderale Demokratie einsteht, um jeden Verdacht, seine Organisation sei der (iranische) Brückenkopf für eine islamische Revolution (immerhin Bestandteil des Namens seiner Organisation) auszuräumen; so wenig kann er öffentlich der "notwendigen (militärischen) Grundlagenarbeit" der USA das Wort reden, auch wenn ihm, wie den Mullahs im Iran, daran gelegen ist, dass Saddam entfernt wird. Wenn nötig sogar mithilfe des großen Satans.

Auszug aus der "Deklaration der Schiiten im Irak"

(...) Die Forderungen der Schiiten können wie folgt zusammengefasst werden:

1. Beendigung der Diktatur und Einführung der Demokratie
2. Einbeziehung Kurdistans in einen föderalen Staat.
3. Beendigung der Diskriminierung von Schiiten. Die Deklaration der irakischen Schiiten entwickelt eine Perspektive für eine schiitische Selbstentfaltung in einem künftigen Irak. Die wichtigsten Punkte dabei sind:

  1. Beendigung der Diskriminierung von ethnischen und religiösen Gruppierungen und Beseitigung der Auswirkungen dieser fehlgeleiteten Politik.
  2. Einführung einer parlamentarischen Demokratie und einer staatlichen Verfassung, die keine Vorherrschaft einer Religionsgemeinschaft oder ethnischen Gruppierung zulässt.
  3. Gleichwertige Staatsbürgerschaft für alle Irakis als Grundgarantie für nationale Einheit.
  4. Uneingeschränkte Anerkennung aller nationalen, ethnischen und religiösen Gruppierungen und gleichwertige Staatsbürgerschaft (...)
  5. Einführung der Organisationsstrukturen eines föderativen Staates mit einem hohen Grad an Dezentralisierung und echter Machtkompetenz für die gewählten Regionalbehörden und -parlamente.
  6. Volle Anerkennung der international festgeschriebenen Menschenrechte
  7. Gewährleistung einer islamischen Identität der irakischen Gesellschaft

Quelle: KONKRET 4/2003