Der ungewollte Soundtrack zur Post-9-11-Situation und eine moderne Definition des Punk
Bad Religion und der "Process of Belief"
Wenn Greg Graffin sagt, Glaube sei ein biologisches Phänomen, ohne das man gar nicht leben könne, dann nimmt man ihm das ab. Er hat seinen Doktor in "evolutionary biology" gemacht. Mit 15 Jahren gründete er und seine Kumpels Jay und Brett die kalifornische Band Bad Religion, bis heute eine der einflussreichsten Punk-Bands Amerikas. Seine Aufgabe sieht er als erledigt an, wenn seine Texte irgendwie den kritischen Diskurs anregen und dazu beitragen, die Geheimhaltung einer geschlossenen Gesellschaft kollabieren zu lassen. Bad Religion's neue Platte "The Process of Belief" ist nicht nur ihr reifstes, persönlichstes und politischstes Album, sondern der ungewollte Soundtrack zur Post-9-11-Situation und eine moderne Definition des Punk.
Musikalisch ist die neue Platte sehr abwechslungsreich geworden. Die 14 Lieder sind mal schnell, mal akustisch, mal düster, mal fröhlich, aber immer typisch Bad Religion. Mag sein, dass es an der Rückkehr zum Indy Label Epitaph liegt (Hier kann man sich übrigens die ganze Platte anhören). "Jetzt, da Brett Gurewitz wieder in der Band ist war es nur klar, dass wir auch wieder bei seiner Plattenfirma unter Vertrag gehen." Greg Graffins klarer, für dieses Genre fast ungewöhnlicher Gesang wird unterstützt von den typischen Chören, die sich mit den instrumentellen Arrangements zu einem außergewöhnlichen harmonischen Kunstwerk verbinden. Das allmächtige Rolling Stone Magazine kritisiert die allzu eingängigen Melodien und die altbekannten Gitarrenriffs. Letztere Kritik ist natürlich eine Allzweckwaffe gegen die Rockmusik, die fast immer am erfolgreichsten war, wenn sie sich auf die altbekannten Akkordschemen verließ.
Textlich werden Bad Religion immer deutlicher, je mehr das Global Village zum globalen Tollhaus wird. Das Spektrum der Aussagen erinnert einen unweigerlich an die Ereignisse dieser Tage. Ein Song wie "The Defense" spricht für sich:
Nothing comes easier than madness in the world today
I'd like to watch a thousand cable channels but there's nothing on
And my high speed connection's monitored daily by the pentagon
We are the pray and culture is the predator
I'm running out of time where conditions are positional
There's got to be a way to overcome this grim reality.
These things are seldom what they seem
I'm not inclined to enjoy my dreams
Is there an option left for me?
I'm not immune to dispondency
We trace the mortal edge to state the obvious
This world is perilous for us.
Im Song Supersonic fragt Graffin wie es sich anfühlt, durch die Geschwindigkeit des kulturellen Wandels abgehängt zu werden. "Kyoto Now!" ist eine unmissverständliche Aufforderung an die Öligarchen im Weißen Haus.
The Process of Belief is an elixir when you're weak
Mit dieser Textstelle aus dem Song "Materialist" bringen Bad Religion das auf den Punkt, wofür sie seit über zwei Jahrzehnten stehen. Bad Religion's Glaube ist der an die eigenen Prinzipien und an den Punk. Die Band geht seit 1980 Against the Grain (http://www.epitaph.com/bands/index.html?Id=86409) und setzt mit Kritik dort an, wo es am unangenehmsten ist. Das aktuelle Plattencover zeigt die schwarz-weiße Welt, die Bad Religion immer wieder thematisieren: auf der einen Seite der eingeschränkte Blickwinkel der Religionen, auf der anderen Seite der grenzenlose Technikglaube.
"You're either with us or you're with the terrorists." (George W. Bush)
Greg Graffin's Essay A Punk Manifesto macht klar, warum sich mit diesem Satz jemand als Nicht-Punk geoutet hat. Gerade Politiker seien für Punks eine perfekte Zielscheibe, da diese "Meister der Verbreitung von Angst" keinen Respekt hätten vor denjenigen, die das Offensichtliche aussprechen, auch wenn ihr sozialer Status dadurch gefährdet wird. Aus der Erfahrung der Ablehnung resultiere die tolerante Grundhaltung des Punk und daher sei er auch für alle offen.
"Das derzeitige Punk-Vorurteil ist geprägt durch Marketing und eine unglückliche Betonung von Optik gegenüber Substanz." (Greg Graffin)
Anzeichen dafür findet man nicht nur, wenn man in die Charts guckt, sondern auch, wenn man Die Zeit liest. Demnach hat der Sex Pistols Manager Malcolm McLaren 1976 "den Punk erfunden", der heute immerhin noch "auf dem Laufsteg" weiter lebe.
Dass man so denken muss, wenn man nicht auf die Veranstaltungen dieser Subkultur geht, leuchtet ein. Erst neulich auf dem Konzert der Terrorgruppe kündigte Sänger Archi Alert an, dass die nächsten Chaostage in Kabul stattfänden, da die doch immer da seien, wo Bundeswehr und Polizei sind:
Osama wird stolz auf uns sein. Obwohl ich den gar nicht so in Ordnung finde. Der ist nämlich nur ein Trittbrettfahrer. Das hat der alles von uns gelernt!" (Archi "MC Motherfucker" Alert)
Diejenigen jedenfalls, die den Punk nur noch "als Mode" erkennen, werden spätestens dann eine Bestätigung erfahren, wenn die ersten Bin Laden T-Shirts auf der Straße auftauchen.
Philosoph Graffin würde dazu freilich sagen:
Punk ist der persönliche Ausdruck von Einzigartigkeit, die der Erfahrung des Aufwachsens mit der menschlichen Fähigkeit zu reflektieren und Fragen zu stellen entspringt. (Greg Graffin)