Der visuelle Bonustrack

"Kikujiro's Sommer", ein neuer Film von Kitano Takeshi, ist in den Kinos.

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Mitte der neunziger Jahre war Kitano Takeshi noch für einen Cocktail aus Orientalismus und Gewaltästhetisierung bekannt. Dann wandelte er sich zunehmend in einen poetischen Filmemacher, der vor allem an zwei Dingen festhielt: Absurdität und der Arbeit am Bild, weshalb ihm manchmal die Malerei als Bezugsmedium nachgesagt wird. "Kikujiro's Sommer" ist ein poetisches Roadmovie über einen japanischen Jungen auf der Suche nach seiner Mutter, das entlang der visuellen Metapher eines bebilderten Tagebuchs erzählt wird.

Als der in den verwahrlosten Nachbarschaften Tokios Geborene Mitte der 90er mit "Sonatine" in größerem Stile von sich reden machte und vor allem in London zum neuen Kultstar des Asian Cinema avancierte, so war es auf Grund eines Cocktails aus Orientalismus und einer - damals im Zuge der Tarantino-Filme entfachten - Gewaltästhetisierung. Filme wie "Violent Cop" (89) und "Boiling Points" (90) waren expressiv, voller Cut-Ups und schneller Schüsse. Exotisch waren dabei ebenso die in Paradiesfarben gekleideten Mafiosi wie die stark an die Nouvelle Vague angelehnte Ästhetik.

Formal wurde Kitano mit Ozu verglichen, aufgrund seiner epischen Wucht auch mit Kurosawa. Der scharfe, zugleich schräge Blick durch die Soziologie-Brille ließ ihn so brisant wie Oshima erscheinen. Innerhalb seiner traditionsreichen Geschichte schien Japan einen neuen Star aufsteigen zu sehen. Die reduktionistische Formel - coole Gangster, coole Schnitte und philosophische Schlußpunkte - geht jedoch spätestens bei "A Scene at the Sea" (91), seiner dritten Produktion, nicht mehr auf. Der Film über einen taubstummen Surfer ist unverkennbar Kitano, kommt allerdings ohne die besagten Attribute aus, darüberhinaus auch ohne Dialoge. Es ist ein Stummfilm in Chaplin-Manier, die Bilder strotzen vor Poesie.

Aus dieser Zeit stammen wohl Kitanos Zitate, er verstehe den Film als ein stummes Medium und würde seine Hauptaufgabe darin sehen, die Schauspieler Mimik und Gestik wirkungsvoll einsetzen zu lassen. Seine akribische und zugleich improvisierte Arbeit am Bild setzt sich auch in anderer Form auf dem Set fort. Er ist dafür bekannt, schon in der Kamera zu editieren und die Szenen vor Ort auf die Schauspieler und die gegebene Situation umzuschreiben - künstlerische Kontrolle, die Kontrolle des Bildes. Klingt wie die Arbeitsweise eines Videoclipproduzenten.

Griffe in die Trickkiste

Kitanos Bilder sollen den Zuschauer in ihren Bann ziehen. Sie sollen aber auch kluftartige Räume schaffen, die Distanz zulassen. Auf diese Weise baut Kitano eine Kommentarebene für die medial-ästhetischen Belange seiner Filmproduktionen ein. "Kikujiros Sommer" ist dafür zweifelsfrei ein gutes Beispiel. Ein Griff in die visuelle Trickkiste liefert den narrativen Rahmen. Die Geschichte eines mit seiner Großmutter lebenden Jungen, der eines Sommers während der Schulferien zusammen mit einem rauhbeinigen Kauz losgeht, um seine Mutter zu suchen, wird aus dessen selbstbebilderten Tagebuch heraus erzählt. Der Film beginnt mit einem beschrifteten, seitenfüllenden Farbfoto und schreitet so Episode für Episode weiter voran. Es sind Portraits von Charakteren, die neu ins Spiel treten und im Zentrum eines zukünftigen Abenteuers stehen, das bestanden sein will. Doch als die beiden letztendlich die gewünschte Adresse finden, stellt sich heraus, dass seine Mutter bereits eine neue glückliche Familie aufgebaut hat. Der Junge muss umkehren - es ist der emotionale Höhepunkt dieses Films.

Auf dem Rückweg werden die beiden Nomaden vollends zum Team. Ihnen begegenen alte Bekannte, die sie bereits auf dem Hinweg trafen: ein homosexuelles Biker-Couple und ein verrückter Hippie-Literat. Was folgt, ist ein sommerlicher Rausch in prächtigen Farben, umgeben von atmenden, tropischen Wäldern. Und alles was sie tun ist: spielen. Spiele, die sich der mittlerweile recht freundlich gestimmte Kauz ausdenkt, die er organisiert und auch leitet. Hier ist Kitano in seinem Element. Spätenstens an dieser Stelle fühlt man sich an "Sonatine" (93),"Getting Any?" (95) und "Hana-Bi" (97) erinnert, in denen explizit gespielt wird. Teils als Ablenkung, teils als Kommunikation, aber immer als Motor der Handlung und als metaphorisches Bindeglied zum Rahmen der Inszenierung.

In wessen Haut wir stecken

Neue Einstellungen sind bei Kitano oft ein Lacher, weil die Figuren zunächst für eine Weile bewegungslos in einer Stellung verharren. Erst langsam lösen sie sich aus der steifen Haltung und tauchen ab - in ihre Rolle. In "Kikujiros Sommer" wird an einer Stelle das Neben-sich-Stehen damit illustriert, dass ein Darsteller völlig in die Rolle eines Unterhaltungsroboters abgleitet, der für seine Performances mit Geld gefüttert werden will. Als der Junge keine Münze mehr hat, ist damit vorerst Schluss - man hält sich an die Regeln. Inwieweit diese Regeln vom Jungen selbst bestimmt werden, lassen seine lebhaften Träume, in denen er die Erlebnisse des Tages in rituellen Bildwelten verarbeitet, offen.

Vielleicht steckt hier die Bedeutung von Träumen für die Medienkultur: Nicht die Sehnsucht erfüllende Bilder machen den Reiz aus, sondern die Art ihrer Verknüpfung mit Sound, nebst der Schichtung von narrativen Texturen als intermediale Komponente. Und diesen Verdacht hat man gleich zu Beginn des Films: Als Kitano in der synchronisierten deutschen Fassung zum ersten Mal den Mund aufmacht, perlt eine ungewohnte Voice-Actor-Stimme von seinen Lippen. Er scheint dabei nicht in seinem Körper zu sein, die Stimme klingt hohl. Es ist ein surrealer, traumhafter Augenblick - komplett unbeabsichtigt, aber vielsagend und sehr komisch.