Der wilde Westen, ein Vorort von Detroit
Clint Eastwood liefert mit "Gran Torino" den wichtigsten Beitrag zum Action- und Westerngenre der letzten Jahre. Und er trägt seinen eigenen Mythos endgültig zu Grabe.
Das Klischee ist altbekannt: Schon früh im Film hustet eine Hauptfigur, die Kamera fängt ein jetzt blutbesprenkeltes weißes Stofftaschentuch ein, und jeder Zuschauer weiß, dass diese Person den Abspann des Films nicht erleben wird. Dieser blutige Husten ist im Film ein untrügliches Symptom für eine unheilbare und tödlich verlaufende Krankheit, einer weiteren Diagnose bedarf es nicht mehr. Auch Clint Eastwood weiß das, und er weiß, dass er damit niemanden mehr überraschen wird. Sein Detroiter Ex-Autobauer Walt Kowalski ist einer dieser Todgeweihten, schon die erste Szene auf der Beerdigung dessen Frau fängt seine Krankheit ein, zoomt dabei heran, verweilt wenige Frames zu lange, als dass es sich noch um eine Belanglosigkeit halten könnte. Diesen vermeintlichen "spoiler" also vorweg: Ja, Clint Eastwood lässt in "Gran Torino" seine Hauptfigur sterben, und der Zuschauer erfährt es bereits nach 30 Filmsekunden. Am Ende kommt trotzdem alles ganz anders.
Es ist ein ewiges Spiel mit der Überraschung, das Eastwood in "Gran Torino" mit seinem Publikum treibt. Immer wieder führt er Altbekanntes vor, greift Stereotypen, Phrasen und Klischees auf, und modifiziert sie ganz plötzlich gerade so weit, dass sie zur Selbstreflexion werden. Und immer wieder entstammen diese Elemente den früheren Filmen Eastwoods. Ein Beispiel: Walt Kowalski ist auf eine Feier der asiatischen Nachbarn eingeladen, Tochter Sue hatte den knapp 80-Jährigen dazu überredet, und jetzt auch in den Keller geführt, wo die Jugendlichen gemütlich zusammensitzen. Die Situation ist etwas peinlich und unpassend, aber trotzdem dauert es nicht lange, bis Walt mit der attraktiven 16-jährigen Youa Blicke austauscht. Die Montage ist eindeutig: Eastwood und das Mädchen, abwechselnd im Bild, die Blicke - setzte man die Bilder zusammen - aufeinander gerichtet. Dazwischen ist immer wieder Thao, der schüchterne Nachbarsjunge, um den sich Walt später kümmern wird, zu sehen, mit hängendem Kopf auf einer Waschmaschine sitzend, allein. Wäre Eastwood 30 Jahre jünger und verkörperte gar noch eine seiner frühen - angeblichen! - Macho-Rollen, so wäre alles klar. Der Loser will das Mädchen, der reife und eben sehr männliche Held kriegt es. Stattdessen geht dieser zu Thao: "You're blowing it with that girl who was there. She likes you, you know." Die Blicke zwischen Walt und Youa: Nur eine Illusion des Schnitts, erschaffen aus der Erwartung des Zuschauers.
Und diese Erwartungshaltung kann mitunter gnadenlos sein: Als Rocky Balboa zum sechsten Mal in den Ring stieg, las man überall seichte Witzchen über Altersheime und Rollstühle, und wie unpassend das Boxen da doch sei. Als John Rambo zurückkehrte, waren diese Stimmen angesichts der zur erwartenden Grimmigkeit zwar leiser, aber keineswegs verstummt. Das Alt-Werden ehemaliger Helden lädt zu deren Auslachen ein - das mag durchaus ein kathartisches Lachen sein, aber an der Existenz des Vorurteils, gleich eine etwas lächerliche Show geboten zu bekommen, besteht kein Zweifel. Umso geschickter ist es von Eastwood, diese Haltung des (Genre-)Publikums zu antizipieren und bereits im Trailer sogar zu fördern. Wir sehen Eastwood, wie er mit einem Gewehr ein junges Gang-Mitglied bedroht, wie er einen anderen Jugendlichen verprügelt, und zwischen all dem markige One-Liner, mit rauher Stimme vorgetragen. "Das ist ein Eastwood, der es noch einmal wissen will", denken wir uns, und wir denken an seinen "Dirty Harry" oder das frühe Regie-Meisterstück "Ein Mann gibt nicht auf". Oder wir finden das albern: "Gran Torino - Dirty Harry als Rentner?" lautet der Titel des entsprechenden Threads in einem großen Filmforum.
So oder so, Walt Kowalski ist kein Harry Calahan, aber er ist ein Genre-Held. Oder besser: Er war einer. Ein Veteran des Koreakriegs, der sein Arbeitsleben am Fließband von Ford verbracht hat. Er ist ein Teil amerikanischer Kultur, ein Teil amerikanischer Wirtschaft, ein Teil amerikanischer Politik, kurz: Ein Patriot, der es längst nicht mehr nötig hat, über seinen Patriotismus überhaupt zu reden. Seine uramerikanische Identität materialisiert sich im titelgebenden Auto, dem Gran Torino, den Kowalski damals selbst am Fließband zusammengeschraubt hat, und den er immer noch hegt und pflegt und aus der Garage gut sichtbar vor das Haus fährt, wenn er seinen Nachmittag auf der Veranda verbringt. Der Zusammenprall mit seinen Hmong-Nachbarn ist folgerichtig kein Produkt des Rassismus, den Kowalski so überzeugt zu praktizieren scheint, sondern erwächst aus einem gefährdeten Selbstbild. Wer ist denn noch ein richtiger Amerikaner, wenn in der Gegend alle möglichen Ethnien versammelt sind? Und wer ist (der polnisch-stämmige) Kowalski dann selbst?
Eastwoods Kowalski ist zuerst einmal all das, was die amerikanische Kritikerin Pauline Kael damals bereits Harry Calahan und Co. vorwarf. Eastwoods Helden seien eine "right wing fantasy of fascist medievalism"1, und Kowalski scheint genau das zu sein, was herauskommt, wenn man sein ganzes Leben als einer dieser Actionhelden verbracht hat. Einmal will er Thao zeigen, "wie sich echte Männer unterhalten", und nimmt ihn mit zu seinem Frisör, dem "crazy Italian prick", mit dem sich Kowalski bei jeder Gelegenheit freundschaftlich gegenseitig beschimpft. Fluchen, Schimpfen und markige Sprüche werden hier explizit zum Ausdruck männlicher Identität. Weniger offensichtlich handhabt Eastwood die ewige Bitterkeit seiner griesgrämigen Helden. Deren komisches Gegrunze ist einerseits das Resultat eines lebenslang sorgsam gepflegten (weil für männlich gehaltenen) Zynismus, andererseits aber stets auch comic relief - schließlich ist auch Bill Munny nach Jahren des Ruhestands zuerst einmal vom Pferd gefallen.
"Gran Torino" ist der Schlussstrich unter Eastwoods Lebenswerk als Schauspieler, der kaum einem anderen Künstler so reflektiert und pointiert gelingt. Die Geschichte von Walt Kowalski ist, wie die Geschichte um Harry Calahan, um Ben Shockley, um Bill Munny und um den namenlosen Revolverhelden zu Ende gehen könnte. Eastwood scheint darin jeden Diskurs, der um seine früheren Filme geführt wurde, aufgreifen zu wollen: die zuvor erwähnte Politisierung seiner Actionrollen, die psychoanalytischen Deutungen der übergroßen Dirty Harry-Pistole (ein Fetisch, der jetzt als Gran Torino aufersteht), auch die Gender-Diskurse sowohl um Eastwoods Männlichkeit als auch um die vermeintlich schwachen Frauenrollen an seiner Seite. Letzteren nimmt sich "Gran Torino" an, indem er auf eine Frauenrolle auf Augenhöhe komplett verzichtet - ein Trick, den Eastwood schon in "Ein Mann gibt nicht auf" mit der seinem Helden haushoch überlegenen Sondra-Locke-Figur angewandt hat (neben anderen ähnlichen Beispielen wie "A Perfect World", "Dirty Harry 2-4", "Million Dollar Baby"...). Wenn Eastwood starke Frauenrollen schreibt, dann ist ein bewundernder Blick kaum zu übersehen. Sein Kowalski steht sogar zwischen zwei solcher Figuren, seiner gerade verstorbenen Frau, die - wie Aussagen bspw. des Pfarrers nahelegen - mütterlich-erziehend auf den alten Zyniker einwirkte, und dem selbstbewussten und unbeirrbaren Nachbarsmädchen Sue, die als Ersatztochter eine ähnliche Wirkung ausübt. Die einzige klassische Frau ist Kowalskis Enkelin, deren selbstverliebtes durch-den-Film-Stolzieren nur seine Geringschätzung hervorruft.
Wie "Gran Torino" also einerseits gendertheoretische Aspekte bereits explizit verarbeitet und darauf rekurriert, so geht der Film auch mit den Mechanismen der Genres um, die Eastwood entscheidend mitgeprägt hat. Weite Teile des Films erscheinen wie eine Fortsetzung von Altbekanntem, aber sie sind notwendig, um letztlich als Illusion entlarvt zu werden. Walts Gewehr und Pistole, die sein ohnehin unerschütterliches Selbstvertrauen noch zementieren, müssen sich letztlich als wirkungslose Spielzeuge erweisen. Schließlich sind sie und die Körperlichkeit, die sie verkörpern, in "Gran Torino" nie mehr als der passive Schutz eines überholten Helden, der für ihre aktive Anwendung längst zu alt ist. Es ist Eastwoods größter Triumph, das nicht nur zu erkennen, sondern seinen Zuschauern diese Selbsterkenntnis auch noch lange Zeit vorzuenthalten, gar das Gegenteil zu behaupten. Sein Film ist Post-Western, Post-Action, Post-Kriminalfilm, und er ist nicht nur ein Film von und mit, sondern vor Allem auch über Clint Eastwood.
Ein Film über einen Clint Eastwood von früher, der in seiner Essenz erst fast zum Ende kurz auftaucht, nachts auf einer kaum beleuchteten Straße, nur wenig mehr als eine Silhouette. Die Augen zusammengekniffen, die Pose bereit zum Duell, ist dieser Eastwood doch nur noch eine schwache Erinnerung an den Eastwood von früher, der mit eisernem Brustpanzer in "Eine Hand voll Dollar" zum Duell antrat oder am diktatorischen Sheriff Gene Hackman "erbarmungslos" Rache übte. Mit dem Abspann dann singt Eastwood selbst:
So tenderly your story is /
nothing more than what you see /
or what you've done or will become /
standing strong do you belong /
in your skin; just wondering.
Seine vormals rauhe und markante Stimme wirkt jetzt zerbrechlich und müde.