Des Kanzlers neue Kleider
Österreichische Studenten gehen auf die Barrikaden, Schüssel nimmt lächelnd den Hut - Gusenbauer kommt unter Buh-Rufen der eigenen Genossen an die Macht
Die von den Sozialdemokraten angepeilte Wende in der österreichischen Innenpolitik scheint bis zur nächsten Wahl vertagt. Das neue Regierungsprogramm bleibt in wichtigen Fragen mehr als vage. Es gibt weder konkrete Vorschläge zur Entlastung des Faktors Arbeit, noch zu einer gerechteren Verteilung der Steuerlast. Die konservative ÖVP konnte hingegen an vielen Positionen festhalten, für die sie eigentlich abgewählt worden war. Von den Wahlversprechen der erst platzierten SPÖ blieb wenig übrig. Die strittige Frage des Ankaufs neuer Abfangjäger bleibt bis auf weiteres ungeklärt. Statt der, von den Sozialdemokraten geforderten Abschaffung der Studiengebühren einigte man sich mit auf einen Kompromiss. Danach soll es künftig möglich sein, sich mit 60 Stunden Sozialarbeit oder Nachhilfe zu 6 Euro die Stunde die Gebühren quasi zurückzuverdienen. Eine glatte Schnapsidee finden Studentenvertreter, aber auch Sozialdienste. Spontan gingen Studenten auf die Straße. Die SPÖ-Jugend fühlt sich von der eigenen Partei verraten und kündigt Demonstrationen zur Angelobung der neuen Regierung an.
Am 1. Oktober 2006 jubelten die österreichischen Sozialdemokraten über einen unerwarteten Wahlsieg. Bei der konservativen ÖVP gab es dagegen lange Gesichter. Der Schock über den Verlust der Führungsposition saß tief. Das größte Entgegenkommen an die SPÖ sei es, überhaupt zu verhandeln, sagte der ÖVP-Kanzler Wolfgang Schüssel. Viele Österreicher verurteilten diesen Ausspruch als unerhörte Arroganz eines abgewählten Kanzlers. Die Umfrage-Werte für die Konservativen fielen in den Keller. Und nicht wenige Genossen empfahlen ihrem Partei-Vorsitzenden und designierten Bundeskanzler Alfred Gusenbauer nicht mehr auf die ÖVP zu setzen, sondern den Sprung in eine Minderheitsregierung zu wagen. Lieber Neuwahlen riskieren, als sich von einer unwilligen ÖVP vorführen zu lassen, dachten viele Sympathisanten der SPÖ zu diesem Zeitpunkt.
Doch es kam anders. Die Grünen schlossen eine Unterstützung einer Minderheitsregierung aus, ebenso die FPÖ. Lediglich das kleine BZÖ versuchte weiter an der Macht bleiben und konnte sich jede dafür geeignete Variante vorstellen. Der österreichische Bundespräsident Heinz Fischer favorisierte unter den gegebenen Bedingungen eine große Koalition. Also wurde mit der ÖVP verhandelt. Ohne die Option auf Unterstützung durch eine der anderen Parteien hatte Alfred Gusenbauer wenig Druckmittel. Das Ergebnis fiel aus, wie es skeptische Genossen erwartet hatten. Ein zerzauster Alfred Gusenbauer musste „die Hosen herunter lassen“, so das einhellige Urteil der österreichischen Innenpolitik-Kommentatoren.
Traditionelle Schlüsselressorts wie Außen-, Innen-, Finanz- und Wirtschaftsministerium verblieben bei der ÖVP. Den Bereich Bildung konnte die SPÖ für sich reklamieren. Das umstrittene Wissenschaftsressort verbleibt aber wieder bei den Konservativen. Der Grünen-Chef Alexander van der Bellen konnte sich Sarkasmus nicht verkneifen. „Eine schwarze Regierung mit einem roten Bundeskanzler“, so sein knapper Kommentar. Dabei hätten es die Grünen auch bewenden lassen sollen. Denn als die grüne Bundesgeschäftsführerin Michaela Sburny und der Abgeordnete Karl Öllinger am Dienstag kurzfristig doch noch eine Unterstützung für eine SPÖ-Minderheitsregierung anboten, ernteten sie nur noch Kritik für die „späte Einsicht“.
Proteste an der Basis
Während Alfred Gusenbauer am Montag den Journalisten den ausgehandelten Koalitionspakt noch als Erfolg der SPÖ verkaufen wollte, rumorte es bereits längst in den eigenen Reihen. Funktionäre berichten von Parteiaustritten und wütenden Anrufen von SP-Wählern. Wenige Stunden nach der ersten Pressekonferenz waren dann auch die Studenten bereits auf der Straße und blockierten den viel befahrenen Ring in der Wiener Innenstadt und zogen vor die SP-Parteizentrale. Vor allem ein Detail der Koalitionsvereinbarungen hatte das Fass zum Überlaufen gebracht: die Studiengebühren. Sie wurden unter Kanzler Schüssel eingeführt, die SPÖ versprach im Wahlkampf deren Abschaffung. Heraus kam ein Kompromiss. Die 363,36 EUR pro Semester werden bei Ableistung von 60 Stunden gemeinnütziger Arbeit wieder zurückgezahlt. Bei den Studenten, vor allem bei den linksorientierten, kam das an wie ein schlechter Scherz. Denn es war immer Credo der Sozialdemokratie, auch jungen Menschen aus sozial schwächeren Schichten, ein Studium zu erleichtern. In Ermangelung eines Systems wie dem deutschen BAföG müssen die meisten österreichischen Studenten nebenbei noch einiges arbeiten, um sich Lebensunterhalt und Studienmaterialen zu verdienen. Die Studiengebühren wurden als zusätzliche Belastung empfunden. Die ärmsten Studenten und Stipendienberechtigte bekommen die Gebühr zwar auch heute schon zurück, doch die zahlende Mehrheit stammt deshalb noch lange nicht aus begüterten Verhältnissen. Dass jetzt vorgeschlagen wurde, etwa Nachhilfestunden oder Sozialdienst zu leisten, um die Studiengebühren ersetzt zu bekommen, ärgert deshalb nicht nur die sozialdemokratischen Studenten. Binnen weniger Stunden füllte sich etwa das Internetforum der österreichischen Tageszeitung Der Standard mit weit mehr als Tausend mehrheitlich ablehnenden Postings, was sonst kaum ein Thema schafft.
Entwertung von Sozialberufen
Die Reaktionen der Studentenvertreter fielen ebenso eindeutig aus. In einer ersten Aussendung sprach die Österreichische HochschülerInnenschaft (ÖH) vom „größten anzunehmenden Unfug“. Barbara Blaha und Lina Anna Spielbauer vom ÖH-Vorsitzteam:
Anstatt Studierende zu entlasten, wird ihnen mehr Arbeit aufgebrummt. (...) bekommt man 6,05 Euro in der Stunde. Ein durchschnittlicher Studierendenjob ist besser bezahlt. (...). Das ist schlicht und einfach eine billige Möglichkeit für den Staat, ErsatzzivildienerInnen zu holen.
Tatsächlich verdienen Studenten für Nachhilfe 12 Euro und mehr. Warum sie diese Leistung also für sechs Euro anbieten sollten, sieht kaum jemand unter den Studenten ein. Ein an der Besetzung der SPÖ-Parteizentrale beteiligter Student fauchte erbost in ein Medien-Mikro: „Damit werden nur noch mehr prekäre Arbeitsverhältnisse geschaffen.“ Gemeinnützige Arbeit hört sich ehrenwert an, die in sozialen Berufen tätigen Menschen fühlen sich durch den Vorschlag aber entwertet. Die Gewerkschaft der Gemeindebediensteten protestierte gegen den „fortgesetzten Missbrauch des Begriffs ‚Sozialarbeit’“:
Gemeinnützige Arbeiten, die über das Niveau von ‚Papierlaufklaubvereinen’ hinausgehen, bedürfen der Professionalität. Diese kann nur durch Ausbildung, Fortbildung und Supervision der in sozialen Berufen Tätigen sichergestellt werden. Laien können in diesen Bereichen nur ergänzend unter Anleitung, Supervision und Aufsicht von Profis eingesetzt werden. Insbesondere die 6000 in Österreich tätigen SozialarbeiterInnen, die über eine mindestens drei jährige Ausbildung im tertiären Bildungsbereich (an Fachhochschulen) verfügen, wurden und werden durch solche Vorschläge in ihrem beruflichen Selbstverständnis diskeditiert. Zu glauben, dass StudentInnen professionelles Handeln im Bereich der Sterbebegleitung in Hospizen oder der Pflege von älteren Mitbürgern ersetzen könnten, zeugt von völliger Unkenntnis der Problemstellungen in diesen Arbeitsbereichen. Dies mit dem Lohnäquivalent von 6,00 Euro pro Stunde zu versehen kulminiert die Niveaulosigkeit dieses Vorschlages.
Hilfsorganisationen sehen das ähnlich. Caritas-Direktor Dr. Michael Landau sprach gegenüber dem ORF von einem „unausgereiften Vorschlag“. Für die sensible Hospizarbeit etwa könnte man nicht einfach Studenten einsetzen. Wer auch immer – ob ÖVP oder SPÖ – auf die Idee der Aufrechnung von Studiengebühr gegen Sozialdienst gekommen sein mag, beide Parteien haben damit einmal mehr eine bestimmte Geisteshaltung bewiesen, die sich nicht nur in Österreich breit macht und äußerst fragwürdig ist: Der Dienst mit und am Menschen wird in westlichen Gesellschaften immer geringer geschätzt – und bezahlt. Offensichtlich kann sich ja „irgendwer“ um die Alten, Kranken und sozial Schwächeren kümmern – Hauptsache billig. Gespart wird an der Arbeit, die direkt den Menschen zu Gute kommt, während dringend notwendige Verwaltungsreformen nicht angepackt werden. Heiße Eisen wie Überbürokratisierung und Beamten-Privilegien greifen Parteien generell ungern an.
Vergessene Junge, ausgehungerte Universitäten
Ganz zu schweigen vom Thema Generationen-Gerechtigkeit. Ein früherer Vorschlag von Alfred Gusenbauer, einen Solidarbeitrag von Beziehern hoher Pensionen (etwa über 3.000 EUR) einzuheben, was in Österreich primär ehemals gut dotierte Beamte betroffen hätte, verschwand bald wieder in der Versenkung. Gänzlich überfordert wirkte SPÖ-Bundesgeschäftsführer Norbert Darabos, als die Jungsozialisten in die Parteizentrale eindrangen. Er versuchte die Studenten mit folgenden Worten zu beruhigen: "Wir haben soziale Errungenschaften erzielt, davon profitieren weniger die Jüngeren, sondern vielmehr die Älteren, aber damit muss man leben.“
Die Proteste gingen auch am Dienstag weiter. Der Vorsitzende der Sozialistischen Jugend, Torsten Engelage, kündigte an, im Parteivorstand gegen den Koalitionspakt zu stimmen. „Ich protestiere auch gegen eine Liberalisierung des Arbeitsmarktes, die miserable Situation der Lehrlinge und Zivildiener. Wenn die Regierung angelobt wird, dann sind wir ihre erste Opposition“, sagte Engelage.
Selbst von der ÖVP-nahen Aktionsgemeinschaft, die eher konservative Studierende vertritt, kam Kritik am Koalitionsmodell. Und die Wirtschaftsstudenten mahnten dringende Strukturreformen ein. Die Probleme an Österreichs Unis gehen tatsächlich weit über die Studiengebühren hinaus. Unter den Jahren der ÖVP-Kanzlerschaft war das Wissenschaftsressort beim Bildungsministerium. Die damalige Ministerin, Elisabeth Gehrer (ÖVP), trieb vor allem den Ausbau der Fachhochschulen voran. Die Universitäten wurden „kaputt gespart“, Strukturreformen unterlassen, wie nicht nur das linke Lager beklagt.
Überfüllte Hörsäle, Knock-Out-Prüfungen, überlastete Professoren, kaum betreute Studenten gehören zum Alltag an Österreichs Unis. In Forschung und Lehre wurde kaum investiert. Dafür auch noch Studiengebühren zu zahlen, halten viele für eine Zumutung. Gleichzeitig bot der reguläre Arbeitsmarkt aber wenig Perspektiven für junge Menschen mit Abitur. Gegen die relativ hohe Jugendarbeitslosigkeit entwickelte die alte rechtskonservative Regierung kaum überzeugende Konzepte. Bevor junge Menschen gar nichts tun, entscheiden sich viele dann eben für die Weiterbildung an einer Uni. Die Abschlussquote ist im europäischen Vergleich aber niedrig. Vielen wird die Mehrfachbelastung Studium und Nebenjobs dann einfach zu viel.
Einer der sicher nie dem linken Lager der SPÖ zugeordnet wurde, der ehemalige Finanzminister und heute Industrielle, Hannes Androsch, zeigte sich gerade im Hinblick auf den Wissenschaftsbereich fassungslos angesichts des ausgehandelten Koalitionspakts. Die kolportierten 200 Millionen Euro, die in den gesamten Bildungsbereich fließen sollen, seien dürftig, meinte er in einem Interview. In Forschung und Entwicklung müsse ein kleines Land wie Österreich kräftig investieren, um Wettbewerbsfähigkeit und Wirtschaftsstandort abzusichern, so Androsch.
Weitere Proteste
Trotz aller Proteste wurde im SPÖ-Bundesparteivorstand der Koalitionspakt schließlich mit 75 Prozent der Stimmen angenommen. Ablehnung kam von den sozialdemokratischen Jugendorganisationen, den Pensionisten und einzelnen Landesorganisationen. Alfred Gusenbauer versuchte dennoch gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Sein Image scheint aber nachhaltig beschädigt. Die ÖVP konnte sich insgesamt bei den Verhandlungen stärker durchsetzen. Ob die Konservativen unter Alt-Kanzler Schüssel mit dem Beharren auf den eigenen politischen Positionen, für die sie im Oktober eigentlich abgewählt worden waren, dem Land wirklich Gutes getan haben, wird die Realpolitik der Zukunft zeigen. Schüssel nahm jedenfalls sichtlich zufrieden den Hut und legte am Dienstag den Parteivorsitz zurück. Der bisherige ÖVP-Klubobmann Wilhelm Molterer wird Vizekanzler.
Wie auch immer Schüssel in die Geschichtsbücher eingehen wird, eines hat er bei seinem Abgang sicher nicht hinterlassen: Aufbruchstimmung in Österreich. In einer ersten Blitzumfrage (OGM für den Österreichischen Rundfunk) gaben 49 Prozent an, dass sich unter der neuen großen Koalition wohl kaum etwas ändern werde, sondern ihrer Meinung nach, die Politik der letzten Jahre fortgesetzt werden wird. Nur 39 Prozent der Österreicher sind gegenteiliger Ansicht. Zwölf Prozent machten hier keine Angaben. Neo-Kanzler Gusenbauer wird nicht nur in der eigenen Partei noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten haben. Der Start ist jedenfalls denkbar schlecht. Die sozialistische Jugend und der Studentenverband VSSTÖ haben zur Regierungsangelobung bereits weitere Proteste angekündigt. Auch die Österreichische Hochschülerschaft will demonstrieren, selbst die "Polizeigewerkschaft - Fraktion sozialdemokratischer Gewerkschafter" hat sich angemeldet. Die Sozialistische Jugend Linz hat eine eigene Satire-Seite aus Protest eingerichtet. Die unmissverständliche Aufforderung an den eigene Parteivorsitzenden: Abtreten!