Deutsche Wirtschaft: Krank oder doch gesund?
Seite 2: Der alte und neue "kranke Mann Europas"
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Wenig Zutrauen in eine Erholung der deutschen Wirtschaft hat man dagegen auch im Ausland. Das Wirtschaftsmagazin The Economist, an welchem die berüchtigte Automobil-Familie Agnelli den Löwenanteil besitzt, schmückt das Titelblatt seiner aktuellen Ausgabe mit einem DDR-Ampelmännchen, das am Tropf hängt.
Darunter wird die Frage gestellt: "Ist Deutschland wieder der kranke Mann Europas?" Die Frage ist ganz offensichtlich rhetorischer Natur, denn der Economist stellt der deutschen Wirtschaft ein verheerendes Zeugnis aus.
Unter den drei Oberbegriffen "de-risking, decarbonisation and demography" zeichnet er das Bild einer Nation, die sich durch überbordende Bürokratie, verfehlte Investitionen in Zukunftstechnologien und eine zu restriktive Fiskalpolitik auszeichnet (für die der Bundeskanzler Modell steht).
Hinzu kommt laut Economist eine zu energieintensive Produktion mit einem überdimensionalen "Co2-Fußabdruck", der fehlgeleitete Ausstieg aus der Atomenergie sowie die verpasste Chance, qualifizierte Fachkräfte anzuwerben. Die ernüchternde Zusammenfassung:
Damit Deutschland in einer stärker fragmentierten, grüneren und alternden Welt gedeihen kann, muss sein Wirtschaftsmodell angepasst werden. Doch während die hohe Arbeitslosigkeit die Koalition von Gerhard Schröder in den 1990er-Jahren zum Handeln zwang, sind die Alarmglocken dieses Mal leichter zu ignorieren.
Nur wenige in der heutigen Regierung, die sich aus den Sozialdemokraten, den liberalen Freien Demokraten und den Grünen zusammensetzt, geben zu, wie groß die Aufgabe ist.
The Economist (ohne Autorenangabe): Is Germany once again The sick man of Europe?
Deutschlands Geschäftsmodell im verarbeitenden Gewerbe
Bemerkenswert ist, dass der Economist nicht nur die altbekannten Stellschrauben der neoliberalen Deregulierung anspricht, an denen Deutschland in seiner Zwickmühle nun gezwungen ist, zu drehen, sondern dass hier auch ganz konkret Deutschlands Geschäftsmodell im verarbeitenden Gewerbe als nicht mehr zeitgemäß beschrieben wird.
Bemerkenswert deshalb, weil doch gerade die Vereinigten Staaten als erste Adresse für die auswandernde deutsche Industrie – die in Teilen doch als so zukunftsfähig galt – mit ihren massiven Subventionen eine Re-Industrialisierung anstrebt. Und das überaus erfolgreich.
Der Economist rät Deutschland allerdings nicht, mit den extrem subventionierten Volkswirtschaften der USA und Chinas in Wettbewerb zu treten, sondern empfiehlt neben einer wirtschaftlichen Deregulierung eine "digitalisierte Bürokratie" als Erfolgsrezept für eine gesündere Zukunft.
Ein ähnliches Rezept, wie es auch der kriegs- und krisengebeutelten Ukraine verschrieben wird.
Egal, welche Transformation sich in Deutschland vollzieht, sehr wahrscheinlich wird es dabei ordentlich knirschen. Die Frage ist wohl nur noch, ob es sich um einen temporären oder finalen Wohlstandsverlust handelt.
"Radikale Zukunftsorientierung"
Vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, wenn die "Alles wird gut"-Mentalität des deutschen Kanzlers in Teilen der Bevölkerung als das Ergebnis einer kognitiven Verzerrung wahrgenommen wird.
Befürchtet man angesichts der jüngsten Enthüllung einer zweifelhaften LNG-Auftragsvergabe ein mangelndes wirtschaftliches Gespür des ehemaligen Finanzministers, ist zu hoffen, dass wenigstens seine Berater nicht an einer solchen Verzerrung leiden.
Bei der Ökonomin Ulrike Malmendier, Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (sog. Wirtschaftsweise), sollte das nicht der Fall sein: Schließlich untersucht die Harvard- und Stanford-Absolventin als Expertin für Verhaltensökonomik "kognitive Verzerrungen im Kontext von Unternehmensführung und finanziellen Entscheidungen", wie es auf Wikipedia heißt und es ihre Homepage verrät.
Allerdings übertrifft die Verhaltensökonomin Olaf Scholz nicht nur in seinem zur Schau gestellten Optimismus, sondern auch in der Ausrichtung auf einen radikalen Bruch mit dem "Geschäftsmodell Deutschlands". So erklärte sie kürzlich gegenüber dem ZDF, die negativen Wirtschaftszahlen
(…) kämen auch daher, dass Deutschland im vergangenen Jahr sehr viel besser durch die Energiekrise kam, als zunächst gedacht.
So manche Experten hätten einen Einbruch von bis zu sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwartet. Das sei ausgeblieben – und dadurch seien auch die Nachholeffekte viel geringer und dadurch die Wachstumsrate nicht so groß, erklärt Malmendier.
ZDF
Die Interpretation des hier schreibenden Autors – nämlich, dass die Situation Deutschlands deshalb nicht so tragisch ist, weil man schlimmere Annahmen getroffen hatte –, stellt Telepolis gerne seinen Lesern zur Diskussion. Unmissverständlich hervor tritt in Malmendiers Ausführungen dagegen eine nur zu gut bekannte Technik, politische Entscheidungen hinter vermeintlichen Sachzwängen zu verstecken:
Sowohl die Merkel-Regierung als auch die Ampel-Koalition seien für die wirtschaftliche Lage nur bedingt verantwortlich: Die Umstände seien entscheidend zunächst durch die Corona-Krise und dann durch den Angriffskrieg auf die Ukraine beeinflusst worden.
ZDF
Um die Krise abzuwenden, rät Malmendier der Politik zu einer "radikalen Zukunftsorientierung", die sich in "drastischere(n) Entscheidungen" und "Experimente(n) mit neuen Industrien" niederschlagen soll. Subventionen für traditionelle Industrieproduktion sollten dagegen "auf den Prüfstand", das heißt: nach Möglichkeit abgeschafft werden.
Malmendiers Einlassungen nähren beim Autor dieses Beitrags den Eindruck, dass es nicht das Ziel der Regierung ist, eine Deindustrialisierung aufzuhalten, sondern im Gegenteil: Diese zu beschleunigen.