Deutsche Wirtschaft: Krank oder doch gesund?

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Alarmierende Zahlen beim kranken Mann Europas. Der Bundeskanzler wehrt ab. Wirtschaftsweise will das Industriegewerbe einer radikalen Transformation opfern. Ein Beitrag zur Debatte.

Wie die Zeit sich doch ändern kann. Im November 2022 nannte das bekannte Hamburger Wochenblatt die Deindustrialisierung Deutschlands noch ein "Märchen". Eine Abwanderung der energieintensiven Branche werde die Wirtschaftsleistung Deutschlands "nicht entscheidend schmälern", so die Expertise des Ökonomen Stefan Kooths in der ultraseriösen Zeit.

Wer dagegen schon zu dieser Zeit vor einer Deindustrialisierung warnte, galt gemeinhin als Opfer rechtspopulistischer Scharfmacher.

Spätestens im Juli war die Märchen-Erzählung vorbei, als der Präsident des ifo-Instituts Clemens Fuest im selben Medium verlautbaren ließ, dass eine Deindustrialisierung bereits zu beobachten sei.

Anfang August verabschiedete sich die traditionell Nato- und US-freundliche Wochenzeitung dann lakonisch vom "Land des Wirtschaftswunders", mit dem Titel: "Adieu, altes Deutschland". Die Ausgabe war in Münchner Nobelvororten so schnell vergriffen, wie sonst nur neue Adressen für Briefkastenfirmen.

Das Handelsblatt ließ Fuest dagegen schon zwei Monate nach Beginn der russischen Invasion prophezeien, dass Deutschland "der große Verlierer" der "neuen Weltordnung" sei, die sich da anlässlich des Ukraine-Kriegs und dem Bruch mit Russland (und China) abzeichne.

Der nicht abreißende Strom schlechter Nachrichten, die Telepolis im Zusammenhang mit der These von der Deindustrialisierung bereits mehrfach dokumentiert hat, scheint Fuests Szenario zu bestätigen.

China überholt Deutsche "ohne Biss"

So meldete das Statistische Bundesamt (Destatis) kürzlich, dass die Zahl der beantragten Regel-Insolvenzen im Juli um rund 24 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat gestiegen sind.

Die Zahl der vollständigen Gewerbeaufgaben indes lag um ganze 14 Prozent höher als im Vergleichszeitraum. In Reaktion auf diese Zahlen schlug der Bundesgeschäftsführer des Bundesverbands mittelständische Wirtschaft (BVMW), Christoph Ahlhaus, Alarm:

Wir sind am Beginn einer riesigen Pleitewelle und das Schlimmste ist: Der Blick ins Ausland zeigt, Deutschland spielt hier eine negative Sonderrolle. Die Probleme sind hausgemacht. Das Schönreden der Politik muss sofort ein Ende haben.

Christoph Ahlhaus

Ein Artikel der Welt zum Thema legte nahe, dass es sich bei jenen Unternehmen um "Zombies" handeln könnte – ein Begriff, mit dem Sorgensbekundungen schon in der Corona-Krise abgewehrt wurden.

Dagegen spricht allerdings die "besondere Häufung", die der Verband der Insolvenzverwalter und Sachwalter (VID) laut Welt "im Einzelhandel, in der Bau- und Immobilienbranche sowie im Krankenhaus- und Pflegebereich" sieht. Aber es ist auch nicht die einzige schlechte Nachricht.

Der Konjunkturindikator des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung steht trotz eines leichten Rückgangs im Juni weiter auf "rot", und signalisiert damit "akute Rezessionsgefahr".

Der Präsident des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall kündigte – zusammen mit der Schelte einer jungen Generation "ohne Biss" – bereits an, dass die Menschen länger arbeiten werden müssen.

Am jüngsten Beispiel von Bundesfinanzminister Christian Lindners sogenanntem Wachstumschancengesetz und Bundesfamilienministerin Lisa Paus' Veto zur Gewährleistung der Kindergrundsicherung stellen Medien die Situation in Deutschland als einen bloßen Konflikt zwischen (neo-)liberaler Wirtschaftspolitik und sozialdemokratischer Politik für die Schwächsten dar.

Doch es geht hier auch um die existenzielle Frage, ob Deutschland seine historische Rolle als Motor Europas sowie als großzügiger Sozialstaat behalten kann. Es sieht nicht danach aus.

Denn während die Politik Debatten führt, fällt Deutschland im internationalen Wettbewerb weit zurück. So berichtete das Handelsblatt kürzlich über eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), wonach China in Europa mittlerweile mehr Autos und Maschinen verkauft als Deutschland. So viel also zum Motor Europas?

Flächenbrände und zerreißende Wertschöpfungsketten

Der Präsident der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), Achim Dercks, sieht die Hauptursache für den Rückgang der deutschen Wirtschaftsleistung – wenig verwunderlich – in der Energiepolitik.

Mit Blick auf den Exodus von Unternehmen ins attraktivere Ausland gelte es, einen "Flächenbrand" zu verhindern, so Dercks. Seine Forderung: Abschaffung der Stromsteuer sowie mehr Investitionsanreize zum Ausbau der erneuerbaren Stromversorgung.

Weitere Vertreter der deutschen Wirtschaft haben ihren Unmut über die politische Krisenbewältigung zuletzt auf dem nordrhein-westfälischen Unternehmertag kundgetan. Wie die Welt berichtet, hielt sich der Präsident der Landesvereinigung der Unternehmensverbände NRW, Arndt Kirchhoff, dabei nicht mit drastischen Darstellungen zurück:

Hier drohen Wertschöpfungsketten zu reißen […] Bei den gegenwärtigen Energiepreisen könnten energieintensive Branchen nicht mehr investieren. Damit ist aber nicht weniger als der Kern der Wirtschaft und damit die Grundlage des Wohlstands in Deutschland gefährdet.

Arndt Kirchhoff

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) reagierte auf die vorgebrachten Bedenken mit derselben Beschwichtigung, die er bereits kurz zuvor im ZDF-Sommerinterview hatte vernehmen lassen.

Sie gründet sich auf sein Versprechen, die drohenden Horror-Szenarien mit einem "ganz neuen Tempo" in Sachen Ausbau der Erneuerbaren aufzufangen. Einem subventionierten Industriestrompreis erteilte der Kanzler derweil jedoch eine Absage.