"Deutschland ist stark im Griff einer konservativen Wirtschaftselite"
Der frühere Finanzminister Norbert Walter-Borjans, der "Robin Hood der Steuerehrlichen", über Steuerkriminalität und -gerechtigkeit, Wirtschaftswissenschaft und Nutzung von Twitter
Herr Walter-Borjans, auch nach Ihrer aktiven Zeit als Finanzminister in Nordrhein-Westfalen im Kabinett von Hannelore Kraft in den Wahlperioden 15 und 16, 2010-2017, in denen Ihr Einsatz für Steuergerechtigkeit und die Stärkung der Steuerfahndungsbehörden - etwa beim Ankauf von Steuer-CDs - Ihnen einen Bekanntheitsgrad weit über die Landesgrenzen von NRW hinaus bescherte, bleiben Sie weiterhin zu diesem Thema politisch aktiv. 2018 legten Sie mit "Steuern - Der große Bluff" ein Buch vor, das sich mittlerweile in Wirtschaftssachbuch-Bestsellerlisten findet. Nicht nur, dass Sie darin unser Steuersystem und seinen Sinn auch für Nicht-Fachleute sehr anschaulich erläutern und zudem konstruktiv seine Mängel herausarbeiten, die Kapitel 2 und 3, in denen Sie Ihre Strategien und Maßnahmen als NRW-Finanzminister zur Eindämmung der Steuerkriminalität und die Reaktionen einschlägiger Kreise darauf schildern, hat durchaus das Zeug zu einem Polit-Thriller. Eine im Auftrag der UNO durchgeführte Erhebung förderte zu Tage, dass wir Deutsche im internationalen Vergleich wieder einmal Weltmeister sind, nämlich bei der Bereitschaft, Steuern zu zahlen. Steht diese etwas pauschale Aussage in einem Widerspruch zu Ihren Ausführungen, nach denen es in Deutschland neben den Pflichterfüllern drei Klassen von Steuerhinterziehern gibt, Steuertrickser, Steuerbetrüger und Steuerräuber? Wie sollte dieses Studienergebnis Ihrer Ansicht nach interpretiert werden?
Norbert Walter-Borjans: Ich kann da keinen Widerspruch erkennen. Im Gegenteil: Während von interessierter Seite gern der Eindruck erweckt wird, dass wir Deutsche uns tagein tagaus über nichts anderes grämen als über die Höhe unserer Steuern, sage ich ja gerade, dass die überwältigende Mehrheit das Niveau der staatlichen Leistungen hierzulande sehr zu schätzen weiß. Die allermeisten Menschen sind sich dabei sehr bewusst, dass das nicht für lau zu haben ist. Und sie wollen nicht weniger, sondern mehr Investitionen in die Zukunft anstatt Steuersenkungen und den weiteren Verfall von Straßen, Brücken und Schulen, miserable Internetanbindung und zu wenig Geld für Bildung und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Was diese überwiegende Mehrheit aber gar nicht mag, ist das Gefühl, dass ein Teil sich auf Kosten der Ehrlichen aus dem Staub macht oder sich sogar Steuern erstatten lässt, die vorher gar nicht gezahlt wurden.
Im Jahr 2011 gelang es Ihnen als Finanzminister des Landes Nordrhein-Westfalen mit den damals rot-grün geführten Bundesländern eine Allianz gegen das geplante Steuerabkommen mit der Schweiz zu schmieden und dieses Gesetz 2012 im Bundesrat zu Fall zu bringen. Nach Ihrer Auffassung hätte es eine Art einmaligen Ablasshandel bedeutet und ein "Weiter so", einen Freifahrtschein für Steuerhinterzieher. Dem ist nun nicht so. Wie beurteilen Sie die dem gescheiterten Abkommen folgende Entwicklung? Sind wir in Deutschland auf einem guten Weg, was die Steuergerechtigkeit angeht?
Norbert Walter-Borjans: Wir haben damals zunächst nicht verhindern können, dass Finanzminister Wolfgang Schäuble dieses unselige Abkommen unterschrieb. Aber es ist uns gelungen, im Bundesrat eine Mehrheit gegen die notwendige Ratifizierung durch die Länderkammer zu mobilisieren. Das haben die meisten nicht mehr für möglich gehalten. Dadurch haben wir nicht nur gezeigt, dass man mehr erreichen kann als nur anschließende Besserwisserei, sondern dass man etwas durchsetzen kann, wenn man nicht aufgibt.
Vielleicht hat diese unerwartete Wendung bei vielen Steuerhinterziehern sogar für besondere Verunsicherung gesorgt. Viele hatten sich schon in Sicherheit gewähnt, dass nach der Unterzeichnung des Abkommens alles so weitergehen könne wie zuvor. Dass danach fast 130.000 Selbstanzeigen erstattet wurden und allein dadurch weit über fünf Milliarden Euro an die Allgemeinheit zurückflossen, war ein Riesenerfolg. Und dass Steuer-CDs und Enthüllungen investigativer Journalisten, etwa mit den Panama Papers, dem Thema Steuerbetrug mehr Öffentlichkeit verliehen haben, war mitentscheidend dafür, dass die Politik Handlungsdruck empfand.
Seitdem ist auf Ebene der EU und der OECD schon einiges passiert. Leider zögern einzelne Staaten - Deutschland eingeschlossen - immer wieder konsequente Maßnahmen hinaus, weil das Eintreten für gerechtere Regeln oft da endet, wo sie nationalen ökonomischen Interessen zuwiderlaufen. Skrupellosigkeit bis hin zur kriminellen Energie in Teilen der Finanzszene geben zudem keinen Anlass zur Zufriedenheit - und schon gar nicht zu der Annahme, dass der Kampf gegen Steuerbetrug irgendwann abschließend entschieden ist.
Die Infrastruktur des Landes zu erhalten, sie dort wo es notwendig ist auszubauen sowie das Land - im Kontext der digitalen Revolution, Künstlicher Intelligenz und den sicher folgenden Verwerfungen auf den Arbeitsmärkten - zukunftsfähig zu gestalten, erfordert erhebliche staatliche Investitionen. Zudem haben wir in Deutschland einen Investitionsstau. Es ist Vieles liegengeblieben, nicht nur der zukunftsnotwendige flächendeckende Breitbandausbau. Aktuell werden aber globale Konjunktureinbrüche für 2019 befürchtet, es drohe eine Rezession, heißt es, und das exportabhängige Deutschland werde davon voll betroffen sein. Wie immer wird in so einem Fall der Ruf nach unterschiedlichsten Gegenmaßnahmen laut, so u.a. aus den Reihen der Wirtschaftsverbände wieder mal der nach Senkung der Unternehmenssteuern. Wenn Sie Ihrem Parteigenossen im Amt, Bundesfinanzminister Olaf Scholz, beratend zur Seite stehen könnten, was würden Sie ihm und dem schwarz-roten Bundeskabinett vorschlagen?
Norbert Walter-Borjans: Meine Erfahrung ist, dass viele Unternehmensvertreter in kleinen Gesprächsrunden ziemlich wenig von Steuern und stattdessen viel mehr von mehr der Notwendigkeit höherer Infrastruktur- und Bildungsinvestitionen reden. Den Ruf nach Steuersenkungen überlassen sie den Lobbyverbänden, die in der Öffentlichkeit Stimmung machen. Wenn es schlecht läuft, sollen Steuersenkungen die Wirtschaft ankurbeln. Wenn es gut läuft, fragen sie, wann denn endlich etwas an die Gesellschaft zurückgegeben wird. Gemeint sind dann aber vor allem die höheren Einkommensregionen.
Dass sie Teil des Gemeinwesens sind und dass der Staat nicht ein außerirdischer Gegenspieler ist, sollte man bei diesen Auftritten gar nicht vermuten. Auf diese Weise haben sich vor allem global agierende Großkonzerne Stück für Stück aus der finanziellen Mitverantwortung gestohlen und ein internationales "Race to the bottom" ausgelöst. Dabei unterbieten sich die Staaten im Steuerwettbewerb gegenseitig und nehmen sich die Luft für ein angemessenes staatliches Leistungsangebot.
Ein Grund dafür, dass gelegentlich auch Sozialdemokraten dieses Spiel mitmachten, liegt an der Empfänglichkeit für Komplimente von Seiten der sogenannten Wirtschaftselite. Welcher Politiker lässt sich nicht gern Wirtschaftskompetenz bescheinigen? Dieses Zeugnis bekommt man am einfachsten dann ausgestellt, wenn man die Wünsche der Wirtschaftslobby erfüllt. Solche Zückerchen können die unteren und mittleren Einkommensgruppen nicht bieten. Auch das hat dazu beigetragen, dass sich die finanzielle Last mehr und mehr von oben nach unten verschoben hat.
Mein Rat an alle Demokraten, aber natürlich besonders an die eigenen Parteifreunde ist, die entstandene Verteilungsunwucht wieder ins Lot zu bringen. Das nützt auf die Dauer allen. Wenn in konjunkturellen Tiefs mit Steuersenkungen Anschübe ausgelöst werden sollen, dann bitte nur, wenn vorher in Zeiten satter Gewinne auch nach oben korrigiert wurde.
Sie gehen hart ins Gericht mit Lobbyorganisationen wie z.B. der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, INSM, und dem Bund der Steuerzahler, BdSt. e.V., die unter dem Siegel des eingetragenen gemeinnützigen Vereins nach Ihrer Auffassung lediglich bestimmte Interessen finanzkräftiger gesellschaftlicher Gruppen vertreten. Insbesondere der Bund der Steuerzahler hebt immer wieder auf durchaus vorkommende Fehlinvestitionen der öffentlichen Hände ab, ohne darauf hinzuweisen, dass Fehlinvestitionen in privatwirtschaftlich geführten Unternehmungen ebenfalls vorkommen. Sie heben ausdrücklich hervor, dass durch deren Öffentlichkeitsarbeit "Normalverdiener für die Interessen der Bezieher hoher Einkommen in Stellung gebracht" werden. Partikularinteressen werden zudem auch nicht selten von steuerlich begünstigten Stiftungen vertreten. Viele Kritiker stellen aus diesen Gründen die Gemeinnützigkeit solcher Organisationen in Frage. Halten Sie daher erneute Anpassungen im Vereinsrecht und/oder im Stiftungsrecht für geboten oder sehen Sie andere Gegenmaßnahmen?
Norbert Walter-Borjans: Gegen das seriöse Offenlegen der Fehlverwendung von Steuermitteln ist nichts einzuwenden. Selbstverständlich gibt es auch kritikwürdigen Umgang mit Steuermitteln - genauso, wie es Missmanagement in Privatunternehmen gibt, für das auch die Beschäftigten und Konsumenten zu bezahlen haben. Es hilft aber nichts, mit dem Finger auf den jeweils anderen zu zeigen. Verbesserungsbedarf gibt es immer - hier wie da.
Was der Bund der Steuerzahler und die INSM betreiben, zielt aber auf die Distanzierung der Bürger von ihrem Staat ab, um mehr Privatisierung den Weg zu ebnen. Wir haben oft genug erfahren, wem das am Ende nützt und wem es schadet. Mich stört, dass diese Lobbyverbände die Steuerzahler mit irreführender Zahlenakrobatik im Endeffekt gegen deren eigene Interessen mobilisieren. Das werden wir aber nicht ändern, indem wir das verbieten, sondern indem wir die Zerrbilder entlarven und für eine starke Gegenlobby sorgen, die die Interessen der kleinen Einkommen und der wirklichen Mitte vertritt.
Dass die Nichtregierungs-Organisationen, die sich dafür einsetzen, sich derzeit massiver Attacken und Versuchen ausgesetzt sehen, ihnen die Gemeinnützigkeit zu entziehen, während die finanziell bestens ausgestatteten Wirtschaftsverbände unangetastet bleiben, ist ein absolutes Unding.
Auf Seite 137 in Ihrem Buch findet sich der folgende Satz: "Notfalls wird mit wissenschaftlichen Auftragsuntersuchungen zu belegen versucht, dass die ökonomische und soziale Stabilität nur gewährleistet bleibt, wenn wirtschaftliche Partikularinteressen von der Politik möglichst ohne Abstriche berücksichtigt werden." Denkt man dies weiter, dann wird bei Erfolg einer solchen Vorgehensweise nicht nur Politikverdrossenheit gefördert, sondern auch - sofern noch vorhanden - das Vertrauen in unser Wissenschaftssystem geschädigt. Ein solches Vorgehen von Lobbyorganisationen ist kein rein deutsches Phänomen, wir finden es in nahezu allen westlichen Demokratien in unterschiedlicher Ausprägung. Sehen Sie hier Zusammenhänge mit den Wählerverlusten der großen Volksparteien in Europa und/oder mit dem Vormarsch rechtspopulistischer und rechtsextremer Kräfte?
Norbert Walter-Borjans: Dass man politische Forderungen mit vorhandenen wissenschaftlichen Erkenntnissen untermauert, ist nicht zu verurteilen. Schwierig bis inakzeptabel wird es, wenn wissenschaftliche Studien zur Stützung einer schon vorhandenen politischen Forderung bestellt werden und dann durch sehr willfährige Aussagen auffallen. Dazu gehören die Studien namhafter Juristen zur rechtlichen Zulässigkeit von Cum-Ex-Geschäften, mit denen die Steuerkasse um über 30 Milliarden Euro ausgeplündert wurde. Dazu gehören aber auch Studien, die mit völlig schiefen Vergleichen die Behauptung stützen sollen, dass die Einkommensteuersätze ständig gestiegen seien, obwohl sie in Wahrheit gesenkt wurden.
Ob das allerdings das Aufkommen rechtspopulistischer Parteien erklärt, wage ich zu bezweifeln. Den Schaden, den die Wirtschaftslobby anrichtet, sehe ich eher darin, dass sie das Vertrauen in Politik und Staat systematisch untergräbt. Sie erklärt den Bürgern auf der einen Seite, der Staat nehme ihnen nur ihr Geld und ihre Freiheiten, und gleichzeitig nutzt sie jede Gelegenheit, ihre eigenen Interessen gegenüber Politik und Staat durchzusetzen. Auf diese Weise sind weite Teile des demokratischen Parteienspektrums in den Verdacht geraten, dass sie sich im Lob einer wirtschaftlichen Elite sonnen und deren Denke übernehmen, dass jede und jeder Erfolg haben kann, wenn sie oder er nur will.
Die Leute haben ein feines Gespür dafür, wie weit sich ihre politischen "Anwälte" mit der Gegenseite einlassen. Wenn dann noch Folgejobs nach der politischen Karriere dazukommen, die mit vorher vertretenen Positionen nur schwer in Übereinstimmung zu bringen sind, leidet auch die Glaubwürdigkeit der engagierten aktiven Politiker. Das mag erklären, warum sich Menschen für "Alternativen" erwärmen. Verständlich ist es nicht, denn gerade die Populisten fallen in Sachen Selbstlosigkeit regelmäßig durch die größte Abweichung von Anspruch und Wirklichkeit auf.
In Ihrem Buch identifizieren Sie die Schnittstellen zwischen Politik und ministerialen Verwaltungen als Haupteinfallstore von Lobbyorganisationen und Berater(un)wesen zur Durchsetzung partikulärer Interessen einzelner Gruppen und Verbände. Z.B. die jüngst erfolgten Meldungen über Beratungsausgaben im Bundesministerium der Verteidigung scheinen Ihnen recht zu geben. Ist das möglicherweise ein strukturelles Problem? Sehen Sie Möglichkeiten, dem Abhilfe zu schaffen?
Norbert Walter-Borjans: Die Komplexität vieler Aufgaben führt dazu, dass eine Verwaltung nicht alles mit Bordmitteln erledigen kann. Das wäre unbezahlbar. Aber es muss absolute Transparenz darüber herrschen, wo externe Experten beteiligt und welche Interessenkollisionen denkbar sind.
Es kann nicht sein, dass externe Berater Gesetzeslücken schaffen können, für die sie anschließend gewinnträchtige Geschäftsmodelle entwickeln, denen sie dann als Wirtschaftsprüfer auch noch einen Unbedenklichkeitsstempel aufdrücken können. Es muss auch möglich sein, unseriöse Beraterfirmen von öffentlichen Aufträgen auszuschließen. Und es muss mehr für eine bessere Kommunikation zwischen der Verwaltungs- und der Politikebene getan werden.
Ein Ministerium begreift sich selbst nicht als Politik. Als politische Ebene gelten nur der Minister und seine unmittelbare Umgebung. Wenn diese Ebene den Informations- und Meinungsaustausch mit der Verwaltung nicht erkennbar wünscht und fördert, erreichen viele Entscheidungen die Spitze gar nicht - entweder aus dem Berufsethos heraus, Probleme auf der Verwaltungsebene allein lösen zu wollen, oder aus falsch verstandenem Schutz für die Hausspitze.
Wenn ich auf eines aus meiner siebenjährigen Tätigkeit ein bisschen stolz bin, dann darauf, einen Kommunikationsfluss geschaffen zu haben, der die Kolleginnen und Kollegen in meiner Verwaltung animiert hat, Probleme und Problemlösungsideen bis nach oben durchzureichen.
"Misstrauen in den Staat zu schüren, hat in der Tat Methode"
Zum Beschluss des Zweiten Senats vom 22. Juni 1995 - 2 BvL 37/91 des Bundesverfassungsgerichts zur Vermögensteuer dokumentierte der damalige Richter Ernst-Wolfgang Böckenförde seine abweichende Meinung. Darin heißt es: "Im Eigentum gerinnt die Ungleichheit der freigesetzten Gesellschaft zur Materie und wird Ausgangspunkt neuer Ungleichheiten. Stellt man dieses unter Sicherung von dessen unbegrenzter Akkumulation sakrosankt, besteht die Gefahr, daß sich die Ungleichheit ungezügelt potenzieren kann und sich darüber die freiheitliche Rechtsordnung selbst aufhebt." Und zwei Absätze weiter: "Der Staat kann die Leistungsfähigkeit, die in der Innehabung großer Vermögen liegt, nicht mehr nutzen und wird gegenüber einer möglichen Eigendynamik, die sich aus der Akkumulation von Vermögenswerten ergeben kann, machtlos." In gewisser Weise hat Böckenförde hier den entfesselten Markt vorausgesehen und die Gefahr des Niedergangs der "freiheitlichen Rechtsordnung". Und Sie befürchten nun im Zusammenhang mit der Digitalen Revolution eine weiter fortschreitende Vermögenskonzentration, u.a. durch Robotik und Künstliche Intelligenz, und stellen die Frage nach der Verteilung der Digitalisierungsdividende. Haben wir überhaupt noch eine Chance gegen die international operierenden IT-Multis? Welche Möglichkeiten hat ein einzelner Staat wie Deutschland oder ein Staatenbund wie die Europäische Union, hier voran zu gehen?
Norbert Walter-Borjans: Die Feststellung Böckenfördes können wir gar nicht laut genug wiederholen. Wohl wissend, dass, wer es tut, heute noch heftiger als linker Ideologe gegeißelt wird als damals schon. Die Furcht vor diesem sofort einsetzenden Sturm der Entrüstung, der ausbricht, wenn man Verteilungsfragen und Machtkonzentration thematisiert, ist eine Ursache dafür, dass der Monopolisierung der digitalen Wirtschaft viel zu lange zugesehen wurde. Die Folge ist, dass ein enormes Machtpotenzial in den Händen einiger weniger Unternehmen und der Staaten, in denen sie sitzen, entstanden ist.
Erst mit Trump und der Affäre um Facebook und Cambridge Analytica ist vielen bewusst geworden, wie abhängig wir von anderen sind, deren Verlässlichkeit wir für alle Zeit als gegeben unterstellt hatten. Wenn ein deutscher Automobilproduzent einen Tag nicht produzieren würde, hätte das weltweit wesentlich geringere Folgen als wenn einer der Digitalgiganten einen Tag den Zugang zu seinen Daten sperren würde. Wir haben eine potenzielle Gefährdung entstehen lassen, die weit über den Schaden hinausgeht, der dadurch entsteht, dass diese Global Player ihre Steuerzahlungen weitestgehend umschiffen können.
Aus den Ausführungen Böckenfördes folgt indirekt auch, dass der Staat sich in einer unangenehmen Sandwich-Position befindet. Einerseits müssen die demokratisch gewählten Regierungen Regelungen für die Märkte sowie Interessensausgleiche festlegen, andererseits hat der Staat selbst Interessen, er ist nicht außen vor, sondern selbst ein Teilnehmer auf den Märkten, als Auftraggeber und Kunde, auf dem Arbeitsmarkt, u.v.m. Diese Doppelrolle des Staates macht es für bestimmte finanziell bestens ausgestattete Kräfte leicht, ihn zu diskreditieren und insbesondere in der Steuerpolitik Misstrauen gegen ihn zu schüren. Gibt es Auswege aus diesem strukturell bedingten Dilemma, die das Vertrauen in "den Staat" zumindest verbessern können?
Norbert Walter-Borjans: Misstrauen in den Staat zu schüren, hat in der Tat Methode und aus historischen Gründen bei uns auch deutlich mehr Erfolg als etwa in Skandinavien. Dort ist das Bewusstsein "Der Staat sind wir" deutlich ausgeprägter. Wir geben Daten bereitwillig an Google, Facebook, Amazon und andere, aber Daten an den Staat? Das geht gar nicht.
Vertrauen in Politik und Staat zurückzugewinnen, ist das A und O für die Sicherung unserer demokratischen Grundverfassung. Das gelingt aber ganz sicher nicht dadurch, dass sich alle politischen Kräfte dem neoliberalen Mainstream hingeben und mit Staatsferne kokettieren. Die Neoliberalen haben es schon viel zu weit dahin geschafft, die Bürger von ihrem eigenen Gemeinwesen zu entfremden. Sie haben damit aber nicht das Ziel erreicht, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied sein und ohne Staat zurechtkommen will, sondern dass sich ein beängstigend großer Teil einen anderen Staat wünscht. Das ist das gefundene Fressen für die Brunnenvergifter von rechts. Der Ausweg kann nur darin bestehen, dass es auch unter den Demokraten Kräfte gibt, die sich klar zu einem starken und handlungsfähigen Staat im Dienst der Menschen bekennen und vorleben, dass sie das auch für sich persönlich ernstnehmen.
Noch einmal zurück zu den IT-Multis. Bei den "Big Five", Apple, Amazon, Google/Alphabet, Facebook und Microsoft, so scheint es, ist aufgrund der öffentlichen Debatten um KI, Datenschutz und Privatsphäre in der letzten Zeit Microsoft ein wenig "unter dem Radar" durchgeflogen. Dabei überstieg der Börsenwert der Redmonder zuletzt wieder den von Apple. In Deutschland und auch anderswo gibt es nahezu keine öffentliche Verwaltung oder Institution, die nicht von Microsoft-Produkten abhängig ist. Was halten Sie von staatlich geförderten Initiativen, z.B. in Richtung Open Source, sich aus dieser Abhängigkeit zu befreien? Oder sehen Sie noch andere Möglichkeiten?
Norbert Walter-Borjans: Ich bin tief enttäuscht darüber, dass München die Vorreiterrolle für eine Verwaltungs-IT auf der Grundlage von Open Source so leichtfertig aufgegeben hat, nur weil Microsoft dort seinen Deutschlandsitz hat. Von München aus hätte ein Zeichen ausgehen können. Die Gefahren, von einigen wenigen abhängig zu sein, habe ich ja schon beschrieben. Anstöße durch den Staat, die Abhängigkeit zu verringern, sind meiner Ansicht nach überfällig.
"Verarmung der volkswirtschaftlichen Pluralität in Deutschland"
An den Universitäten in den westlichen Industrienationen dominieren heute die Vertreter der neoklassischen Theorie und bestimmen die volkswirtschaftliche Modellarithmetik. Kritiker - vor allem aus den Reihen der sogenannten heterodoxen Ökonomie - beklagen den Mangel an Pluralität ökonomischer Modelle an universitären Lehrstühlen. Kann die praktische Politik von einer größeren Modell- und Theorievielfalt in der Volkswirtschaftslehre überhaupt profitieren? Sollten die Hochschulpolitiken der Bundesländer dies aktiv fördern oder wäre das ein Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit?
Norbert Walter-Borjans: Ich habe die Verarmung der volkswirtschaftlichen Pluralität in Deutschland schon mehrfach beklagt. Wenn man sich anguckt, wie breit die Volkswirtschaftstheorie in anderen Staaten - allen voran in den USA - aufgestellt ist, zeigt sich erneut, wie stark Deutschland im Griff einer konservativen Wirtschaftselite ist.
Lange Zeit wurde die Volkswirtschaftslehre in Deutschland quasi als Natur- und nicht als Gesellschaftswissenschaft begriffen. Es gab sozusagen nur eine richtige Denkweise. Die ist dem Nachwuchs in den Führungsetagen der Unternehmen genauso eingeimpft worden wie den Wirtschaftsjournalisten in den Zeitungs-, Radio- und Fernsehredaktionen und auch den Vertretern in den Parlamenten - gleich welcher politischen Positionierung.
Inzwischen gibt es erkennbare Ansätze, das zu ändern. Die Gründung des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Hans-Böckler-Stiftung vor rund fünfzehn Jahren war ein wichtiger Meilenstein. Gustav Horn, Achim Truger als neues Mitglied des Sachverständigenrats, aber auch sein Vorgänger Peter Bofinger und eine Reihe junger VWL-Professoren haben den Beton schon ein Stück aufgebrochen. Wer sich allerdings die zum Teil diffamierenden Reaktionen auf die Berufung Achim Trugers aus dem Establishment des Sachverständigenrates ansieht, weiß, wie weit wir noch von einer deutschen Volkswirtschaftslehre als pluraler Gesellschaftswissenschaft entfernt sind.
Ich gehöre ganz entschieden zu denen, die von pluraler Wirtschaftswissenschaft auch eine Verbreiterung der politischen Debatte erwarten. Ich selber habe in den 1970er Jahren in Bonn VWL studiert. Die sehr mathematische Ausrichtung hat damals viele abgestoßen. Dabei hat gerade diese mathematische Herangehensweise sehr unterschiedliche Betrachtungsweisen erlaubt. Das hilft mir bis heute.
In Ihrem Buch äußern Sie, dass Streit und harte Auseinandersetzungen unter Politikern nicht in persönliche Feindschaft münden müssen und beschreiben den respektvollen Umgang miteinander am Beispiel des ehemaligen Bundesfinanzministers Wolfgang Schäuble sowie des ehemaligen Schweizer Botschafters in Berlin, Tim Guldimann. Da Sie dies hervorgehoben haben, lässt Ihrer Auffassung nach die politische Streitkultur in Deutschland insgesamt zu wünschen übrig?
Norbert Walter-Borjans: Ich glaube, dass es immer Politikerinnen und Politiker gab, die in der Sache hart streiten konnten und sich trotzdem als Menschen schätzten, und solchen, die mit Menschen anderer Auffassung einfach nicht klarkamen. Ich gehöre nun mal eindeutig zur ersten Kategorie, habe dadurch viel gelernt, manch andere überzeugen können und gelegentlich auch meine Meinung geändert. Ich bedaure die, die sich mit ihren Glaubensschwestern und -brüdern einmauern, damit sie bloß keinen Zweifel an ihrem Weltbild bekommen.
Sie erzählen in Ihrem Buch, dass die mediale Verbreitung der Themen Steuergerechtigkeit und Steuerkriminalität ein eher zähes Unterfangen war. Unbeabsichtigte Schützenhilfe erhielten Sie kurz nach der NRW-Landtagswahl 2012, als der damalige oppositionelle CDU-Fraktionsvorsitzende Karl-Josef Laumann Sie metaphorisch sehr farbig als einen selbsternannten Robin Hood bezeichnete. Flugs griffen Medien diese Bezeichnung als "Robin Hood für Steuergerechtigkeit" auf und das Thema erfuhr nunmehr eine steigende Popularität. Einmal anders gefragt, was bedeutet das für unsere Medienlandschaft? Muss jedes Mal der Umweg über eine solche Popularisierung - hier über das Bild des Rächers in Strumpfhosen - gegangen werden, bevor wichtige Themen wie Betrug und Räuberei am Gemeinwesen in eine breitere Öffentlichkeit gelangen können?
Norbert Walter-Borjans: Machen wir uns nichts vor: Gerade bei komplizierten Zusammenhängen helfen vereinfachende Bilder und Köpfe, denen wir vertrauen. Ohne öffentliche Aufmerksamkeit entsteht auch nicht der Druck auf die Politik, etwas zu ändern. Nehmen wir das Beispiel Plastikmüll: Ohne die emotionalisierenden Bilder von riesigen, im Meer treibenden Plastikinseln wäre die Dramatik von der Öffentlichkeit und der Handlungsbedarf von Seiten der Politik noch immer nicht erkannt worden.
Steuerbetrüger hatten auch deshalb lange ein leichtes Spiel, weil sich die Bereicherung in Milliardenhöhe zu Lasten der Allgemeinheit unterhalb des Radars der Öffentlichkeit bewegte und nur selten Empörung hervorrief. Daran haben die Berichte über Steuer-CDs und ihre Folgen, über Panama Papers und Anklagen gegen Prominente etwas geändert. Auch die misslungene Diffamierung meiner Rolle als "Robin Hood der Steuerehrlichen" hat dazu beigetragen. Das war nicht freundlich gemeint, hat aber versehentlich ein Markenzeichen erzeugt. Dafür bin ich Karl Josef Laumann - übrigens auch einer von denen, für die sich lautstarker Streit in der Sache und anständiger Umgang miteinander nicht ausschließen - bis heute dankbar. Jetzt müssen wir nur dafür sorgen, dass die Wahrnehmung des enormen Missstands nicht wieder nachlässt.
Gestatten Sie mir zum Schluss eine Frage zu Ihrer persönlichen Medienauswahl. Sie begannen 2016, noch zu Ihrer Zeit als Finanzminister, Twitter aktiv zu nutzen und tun dies bis heute. Vor dem Hintergrund der aktuellen Datenleaks, der fast schon permanenten Diskussion über Sinn und Unsinn von "sozialen" Netzwerken sowie Robert Habecks öffentlich bekundeter Entscheidung, Facebook und Twitter den Rücken zu kehren, wie nutzen Sie Twitter und was bringt es Ihnen?
Norbert Walter-Borjans: Die Frage, was ich mit meinen Tweets, Retweets und Likes an Informationen für eine manipulative Verwendung an anderer Stelle zur Verfügung stelle, beschäftigt mich natürlich. Das Problem löst sich aber nicht durch die Verweigerung eines Einzelnen. Twitter ist ein Informationskanal, den man gebrauchen und missbrauchen kann. Ihn nur noch denen zu überlassen, die ihn missbrauchen, um zu zündeln, wäre nach meiner Meinung der falsche Ansatz für eine kritische Auseinandersetzung mit den sozialen Medien.
Ohne Twitter hätte ich nach dem Ausscheiden aus dem Amt des Finanzministers keinerlei Plattform mehr für eine wahrnehmbare Beteiligung an der politischen Debatte über Steuern und Steuerbetrug gehabt. Ich sehe ja, wer mir folgt, wer likt und retweetet. Ich erreiche Vertreterinnen und Vertreter regionaler und überregionaler Medien ebenso wie der Politik auf allen Ebenen. Was mich besonders freut, ist das rege Interesse der Parteibasis, aber auch von Menschen ganz unterschiedlicher politischer Auffassung. Die Auseinandersetzungen verlaufen - von ein paar Ausnahmen abgesehen - ziemlich anständig und gelegentlich sogar humorvoll. Und auch, dass hin und wieder politische Gegner einen Tweet liken, so wie ich das umgekehrt auch mache, zeigt, dass soziale Medien politischer Streitkultur nicht entgegenstehen müssen.
Herr Dr. Walter-Borjans, ich bedanke mich für das Interview.
Dr. rer. pol. Norbert Walter-Borjans, Dipl.-Volkswirt, SPD, war Staatssekretär und von 1996 bis 1998 Regierungssprecher (Johannes Rau) in Nordrhein-Westfalen, Wirtschaftsstaatssekretär im Saarland (1998-1999), Wirtschaftsdezernent und Stadtkämmerer in Köln (2006-2010) und in der 15. und 16. Legislaturperiode 2010-2017 Finanzminister des Landes Nordrhein-Westfalen im Kabinett von Hannelore Kraft. Darüber hinaus war er Vorsitzender des Finanzausschusses des Bundesrates sowie von Dezember 2011 bis Dezember 2014 im Wechsel mit Hessen Vorsitzender der Finanzministerkonferenz.
Das Interview wurde für Telepolis von Dr. Joachim Paul geführt. In der 16. Legislaturperiode von 2012 bis 2017 war er Abgeordneter der Piratenfraktion im Landtag von Nordrhein-Westfalen und dort von 2012 bis 2015 Fraktionsvorsitzender sowie u.a. von 2015 bis 2017 wirtschaftspolitischer Sprecher der Piratenfraktion.
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