Deutschland sucht den Superbürger

Hochzeitsbankett. Bild: Pixabay License

Die ehrenwerte Gesellschaft. Kommentar zum aktuellen Kult des Bürgertums

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Frank Walter Steinmeier tat es, Ulf Poschardt auch, Alexander Gauland sowieso und Björn Höcke konnte natürlich auch nicht fehlen - sie alle beteiligten sich an einem neuen Sport, der anscheinend bald olympisch wird: Bürger sein wollen. Um die Marke "Bürgerlichkeit" wurde zuletzt gestritten, als sei die Herstellerfirma an der Börse notiert. Um was für eine Sorte Bürgerlichkeit geht es hier überhaupt?

Reden wir hier von der bürgerlichen Klasse, die ab der frühen Neuzeit mit richtig erfolgreichen wirtschaftlichen Startups, dem Bankenwesen und passenden politischen und sozialen Ideen den Adel als herrschende Klasse zu beerben suchte? Und die, kaum dass sie dieses Ziel durch blutige Revolutionen erreicht hatte, die Welt mit dem vollentwickelten Kapitalismus beglückte? Doch wohl eher nicht.

Definition?

Aktuelle Bürger verstehen sich allgemein ungern als Angehörige einer Klasse und denken auch nur mit gemischten Gefühlen an ihre revolutionäre Geschichte; der Bürger mag sich generell nicht gern mit Ideologien und ihrer Kritik auseinandersetzen, was auch nur passend ist, denn er selbst glaubt ja, keine zu haben. Sollte man zusammenfassen, worum es beim aktuellen Kult des Bürgertums eigentlich geht, dann könnte die Zusammenfassung lauten: Der Bürger definiert sich als den normalen Menschen.

Dass dieser normale Mensch weiß, männlich und im Fall des deutschen Bürgers natürlich Deutscher ist, versteht sich von selbst; man will ja die gute, alte Normalität sehen, wenn man in den Spiegel schaut. Freilich kommt es für den Bürger darauf an, zu welcher Geschmacksrichtung von Bürgerlichkeit er sich bekennt. Die Medien- und die Linksliberalen haben mal ein Buch gelesen, kennen drei Sprüche von Hannah Arendt, zwei Grundgesetzartikel und lassen öfter den Schlips weg.

Die Wirtschaftsliberalen sehen sich als Leistungsträger und finden Demokratie gut, so lange sie ihren Geschäften nützt; wenn diese Geschäfte ungezählte Leichen zur Folge haben, dann ist das eine bedauerliche Notwendigkeit.

Und neuerdings tritt eine weitere Sorte Bürger an, oder, man könnte auch sagen, sie spukt herum: die Nazis in Schlips und Kragen, wie es sie nach der Nazizeit schon einmal gab. Damals mussten sie ihre vergangenen Verbrechen vertuschen; ihre Enkel und Urenkel bereiten neue vor, wollen aber auch dabei fesch dastehen - man könnte hier schon von einer gewissen Spiegelsymmetrie sprechen.

Beim jüngsten Bürgerlichkeitswettrennen geht es um einen Kampf zwischen den Wirtschaftsliberalen aller Parteien (denn sie fühlen sich in allen wohl, die ihnen nützen) und den adretten Nazis, die vom bloßen Zweckrationalismus abgekommen und zur Triebabfuhr qua Gegnervernichtung fortgeschritten sind. Für letztere ist die Definition dessen, was als normaler Mensch zu gelten hat, nicht ein bloßer Überbau aus Symbolen, Vorurteilen und Platitüden, sondern geheiligte Pflicht.

Gebügelte Radikalität

Erst die eiserne Normalitätsdefinition gibt die Blaupause für die geplanten Säuberungsprogramme her; alles, was dieser Definition nicht entspricht, soll zum Abschuss freigegeben werden. Im Konflikt mit dieser Form der gebügelten Radikalität gibt der sonst so schlaue und siegessichere Wirtschaftsliberale eine komische Figur ab: Wird er doch nachts von der bösen Ahnung wach gehalten, dass seine fakultativdemokratischen Bekenntnisse einer Welt der verschärften Konkurrenz nicht angemessen sein könnten. Natürlich ist der Endzweck einer gesunden, wirtschaftsfreundlichen Bürgerlichkeit nicht die Vernichtung, natürlich nicht!

Aber vielleicht ist die glaubwürdige Drohung mit Vernichtung für die Wirtschaft ganz nützlich? Vielleicht könnte man unliebsame Elemente, Kritik, Gewerkschaften, Linke, Naturschutz, Minderheitenschutz und andere negative Standortfaktoren mit ein bisschen echtem Faschismus besser im Griff behalten, statt nur mit der Polizei und mit Geschäftsordnungspolitik auf dämlichen Parteitagen und in verschnarchten Parlamenten?

Natürlich sind Bolsonaro, Orbán, Salvini, Erdoğan und ihre Klone und Doppelgänger überall auf der Welt patentierte Drecksäcke, aber vielleicht, vielleicht haben sie auch Recht? - Der organisatorisch-politische Ausdruck dieser Gewissenszweifel ist hierzulande die vollmundige Beschwörung einer weitgehend eingebildeten demokratischen Tradition, die von den Praktikern, den Machern testweise schon einmal kräftig unterlaufen wird: Die Tentakel der alten und der scheinbar neuen Monstren tasten einander ab. "Deutschland, Deutschland über alles" singen die einen, und die anderen sagen: "Kommt drauf an, ob’s dem Export schadet, aber wer hat grundsätzlich was gegen ein wenig Gesang?"

Die komische Figur der Medien- und Linksliberalen

Die komischste Figur bei all dem geben aber die Medien- und Linksliberalen ab. Sie wissen ja, worauf all das hinausläuft. Deswegen führen sie im Kampf gegen die Rechts- und Reichsbürger die fürchterlichsten Waffen an, die sie in ihrem Arsenal zur Verfügung haben: Diskussion und Aufklärung. Der feste Wille, die neuen Nazis in Talkshows zu entzaubern, sie in Interviews zu "stellen" und über ihre Absichten in fairen Pro- und Kontradiskussionen aufzuklären, hat dazu geführt, dass die dermaßen Entzauberten und Gestellten in Ostdeutschland mittlerweile ein Viertel der Wahlbevölkerung für sich begeistern können.

Ohne die Bühnen, die ihnen die halben und ganzen Linksliberalen auf dem "Marktplatz der Ideen" kostenlos geboten haben, wäre das kaum möglich gewesen. Aber in totaler Überschätzung ihrer Diskursmacht halten die wackeren Demokraten an ihrer Strategie fest. Wahrscheinlich, bis sie von den Handlangern ihrer rechten Gesprächspartner abgeschlachtet werden. Man sieht hier das komplette Versagen der linksliberalen Bildungsbürger vor all dem, wogegen der beste von ihnen, Kurt Tucholsky, sie impfen wollte.

Und so taumeln die deutschen Bürger auf eine Katastrophe zu, von der sie nachher wieder nichts gewusst haben werden. Sie gehorchen dabei unterschiedlichen äußeren und inneren Stimmen, aber sie taumeln in die gleiche Richtung. Fast könnte man meinen, dass ein Land mit solch prächtigen Bürgern eine Partei von expliziten, uniformierten Faschisten kaum noch nötig hat.