Deutschland und Israels Krieg in Gaza: Wie wird das oberste UNO-Gericht heute entscheiden?

Holzvertäfelter Sitzungssaal des IGH

Sitzungssaal des IGH in Den Haag. Bild: Ankor Light, Shutterstock.com

IGH prüft einstweilige Maßnahmen gegen Deutschland. Vorwurf gegen Israel wegen Völkermordes in Gaza. USA kritisieren Verfahren. Hier die Hintergründe zum Fall.

Im Prozess Nicaraguas gegen Deutschland wegen Unterstützung eines mutmaßlichen Völkermordes im Gaza-Streifen durch die israelische Armee wird der Internationale Gerichtshof heute eine erste Entscheidung treffen. Die Sitzung ist nach Angaben auf der Internetseite des Gerichtshofes für 15:00 Uhr angesetzt.

Das oberste Gericht der Vereinten Nationen in Den Haag wird zunächst über einen Antrag Nicaraguas auf einstweilige Maßnahmen entscheiden, der unter anderem einen Stopp der Rüstungslieferungen gefordert hatte. Das Land argumentiert, dass die deutschen Waffenlieferungen an Israel einen Völkermord ermöglichen. Deutschland hatte die Klage zurückgewiesen.

Ebenso wie die Hauptklage Südafrikas gegen Israel wegen mutmaßlichen Völkermordes im Gaza-Streifen hat der Fall rasch eine politische Dimension bekommen. Dazu hat nun auch die US-Regierung weiter beigetragen.

Eine Sprecherin des Weißen Haus hat zurückhaltend auf die möglichen Folgen potenzieller Haftbefehle des Internationalen Strafgerichtshofs gegen den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu und andere Israelis reagiert. Karine Jean-Pierre betonte bei einer Pressekonferenz erneut, die USA unterstützten die Ermittlungen nicht.

Die US-Regierung sei fest davon überzeugt, dass der Strafgerichtshof in Den Haag keine rechtliche Zuständigkeit habe. Jean-Pierre war gefragt worden, ob die potenziellen Haftbefehle gegen führende Vertreter der israelischen Regierung die Verhandlungen über eine Feuerpause beeinflussen könnten.

Die USA sind einer von drei Staaten, die das oberste Gericht der Vereinten Nation nicht anerkennen. Die Vereinigten Staaten stehen damit an der Seite von Russland und China.

Mit der Frage der Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofes in den Haag hatte sich allerdings schon die Anklageschrift Nicaraguas ausführlich auseinandergesetzt.

Nicaragua sandte am 2. Februar diplomatische Note

Laut einer Note des nicaraguanischen Außenministeriums vom 2. Februar 2024 soll Deutschland die Lieferung von Waffen, Munition, Technologie oder Komponenten an Israel unverzüglich einstellen, da diese zur Begehung von Völkermordverbrechen verwendet werden könnten.

Zudem kritisiert Nicaragua die Entscheidung Deutschlands, die Finanzierung des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) auszusetzen. Diese Entscheidung ist wenige Tage vor dem Termin in den Haag von der Bundesregierung revidiert worden, offiziell wurden die Zahlungen wieder aufgenommen.

Zur Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofes

Die Zuständigkeit des IGH basiert auf Artikel 36 seines Statuts. Sowohl Nicaragua als auch Deutschland haben eine Erklärung abgegeben, in der sie die obligatorische Zuständigkeit des Gerichtshofes auf der Grundlage von Artikel 36 (2) anerkennen.

Zwar hatte Nicaragua die Zuständigkeit des IGHs in wenigen Fällen zwar nur eingeschränkt anerkannt. Dies bezieht sich allerdings lediglich auf Auslegungen von Verträgen oder Schiedssprüchen, die vor dem 31. Dezember 1901 unterzeichnet und ratifiziert oder getroffen worden sind.

Keine Vorbehalte gegen Artikel IX der Völkermordkonvention

Eine weitere Grundlage für die Zuständigkeit des Gerichts in diesem Streitfall ist Artikel 36 (1) des Statuts und Artikel IX der Völkermordkonvention, der beiden Parteien beigetreten sind.

Artikel IX der Völkermordkonvention sieht vor, dass Streitigkeiten zwischen den Vertragsparteien in Bezug auf die Auslegung, Anwendung oder Erfüllung der Konvention, einschließlich solcher, die sich auf die Verantwortung eines Staates für Völkermord oder für eine der anderen in Artikel III aufgeführten Handlungen beziehen, auf Antrag einer der Streitparteien dem Internationalen Gerichtshof vorgelegt werden. Weder Nicaragua noch Deutschland haben einen Vorbehalt zu Artikel IX dieser Konvention gemacht.

Existenz eines Streits bestätigt

Laut der etablierten Rechtsprechung des Gerichts ist die Existenz eines Streits eine unabdingbare Voraussetzung für die Ausübung seiner Zuständigkeit. Ein Streit ist eine "Meinungsverschiedenheit über einen Rechts- oder Sachverhalt, ein Konflikt rechtlicher Ansichten oder Interessen" zwischen den Parteien.

Um die Existenz eines Streits festzustellen, berücksichtigt das Gericht insbesondere alle zwischen den Parteien ausgetauschten Erklärungen oder Dokumente.

Vorwürfe gegen Deutschland

Nicaragua wirft Deutschland vor, seine Verpflichtungen unter der Völkermordkonvention von 1948 grob und systematisch verletzt zu haben. Es behauptet, dass Deutschland mit vollem Wissen um die unrechtmäßigen Handlungen seine Pflicht zur Verhinderung des Völkermordes, der laut Gericht plausibel gegen das palästinensische Volk verübt wird, nicht erfüllt hat.

Zudem soll die Bundesregierung die Verletzung der Völkermordkonvention durch Israel erleichtert haben, indem es Hilfe und Unterstützung, insbesondere Waffen, bereitgestellt hat, die zur Begehung von Völkermord verwendet werden könnten.

Nicaragua wirft Deutschland zudem vor, seine Verpflichtungen unter dem humanitären Völkerrecht, insbesondere den Genfer Konventionen von 1949 und ihren Zusatzprotokollen von 1977, sowie dem Gewohnheitsvölkerrecht nicht erfüllt zu haben.

Deutschland weist Vorwürfe zurück

Deutschland hat den Empfang der oben genannten Mitteilung Nicaraguas durch eine Note vom 14. Februar 2024 bestätigt und an die Ständige Vertretung Nicaraguas bei den Vereinten Nationen in New York übermittelt.

Auf einer Pressekonferenz der Bundesregierung am 7. Februar 2024 lehnte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes die Vorwürfe Nicaraguas ab. Diese Haltung ist unter Recht Experten jedoch umstritten. Im Interview mit Telepolis hatte der Völkerrechtler Kai Ambos zwar darauf hingewiesen, dass die Feststellung eines Völkermordes durch Israel an den Palästinenser dem Nachweis eines Vorsatzes bedarf. Zudem müsste ein solcher Völkermord erst im Hauptverfahren Südafrika gegen Israel festgestellt werden; das sei äußerst schwierig.

Deutschland in eigener Argumentation gefangen

Andererseits muss sich Deutschland auch an seine eigene Argumentation halten. Aus Regierungskreisen hieß es, dass Israel "mit dem Ziel handelt, sich gegen die bewaffneten Angriffe der Hamas zu verteidigen". Daher geht es um Verteidigung und nicht um die Absicht, einen Völkermord zu begehen.

Björn Schiffbauer von der Universität Rostock aber wandte gegenüber tagesschau.de ein, das Verbot von Völkermord sei absolut und Teil des zwingenden Völkerrechts. Es kann durch nichts, auch nicht durch Selbstverteidigung, gerechtfertigt werden.

Deutschland kann in seiner Intervention nur erklären, wie es den Begriff allgemein interpretiert. Laut Christian Tams von der Universität Glasgow geht es nicht um die Anwendung des Übereinkommens auf einen bestimmten Sachverhalt, sondern um die allgemeine Auslegung des Rechts.

Deutschland für weite Auslegung des Rechtsbegriffs

Deutschland hat dies jedoch bereits in einem anderen Völkermordverfahren getan, nämlich im Fall Gambia gegen Myanmar, für das Deutschland eine weite Auslegung argumentierte. Mike Becker, Völkerrechtsexperte vom Trinity College Dublin, erklärt gegenüber tagesschau.de, dass Deutschland nun auf die Interpretation beschränkt ist, die es im Myanmar-Fall vor Gericht vertreten hat.

Er sehe keine Möglichkeit für Deutschland, von dieser Position abzuweichen, zitiert tagesschau.de den Juristen Becker.