Deutschland vor dem IGH: Worum es beim Fall 193 geht
Nicaragua wirft Deutschland vor, Israel wider besseres Wissen völkerrechtswidrig zu unterstützen. Die Anhörungen stehen bevor. Wie wird Berlin reagieren?
Nicaragua hat Deutschland wegen der Gewährung von Militärhilfe an Israel und der Streichung von Mitteln für das Palästinensische Flüchtlingshilfswerk (UNRWA) vor dem Internationale Gerichtshof (IGH) verklagt. Dazu wird dieser am 8. und 9. April Anhörungen abhalten.
Nicaragua hatte den IGH, der auch als Weltgerichtshof bekannt ist, Anfang März ersucht, Dringlichkeitsmaßnahmen zu erlassen, mit denen Berlin aufgefordert werden soll, die Militärhilfe für Israel einzustellen und seine Entscheidung, die Finanzierung des UNRWA einzustellen, rückgängig zu machen.
Wichtige westliche Geldgeber des UNRWA, darunter auch Deutschland, haben die Finanzierung des Hilfswerks ausgesetzt, nachdem zwölf seiner Zehntausenden palästinensischen Mitarbeiter verdächtigt wurden, an den Angriffen vom 7. Oktober auf Israel beteiligt gewesen zu sein.
Dringlichkeitsanhörungen des IGH sind dazu gedacht, gegebenenfalls einstweilige Verfügungen zu veranlassen, die sicherstellen sollen, dass sich ein Streitfall in der Zeit bis zur endgültigen Entscheidung nicht verschärft.
"Den Völkermord erleichtert"
Nicaragua argumentiert, dass Deutschland durch die Unterstützung Israels und die Sanktionierung des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) "den Völkermord erleichtert und jedenfalls seiner Verpflichtung nicht nachgekommen ist, alles zu tun, um die Begehung von Völkermord zu verhindern".
Nach Ansicht Nicaraguas verstößt Deutschland in den besetzten palästinensischen Gebieten damit gegen die Völkermordkonvention von 1948 und die Genfer Konventionen von 1949 über das Kriegsrecht.
In einer Pressemitteilung fasst die nicaraguanische Regierung den Stand der Dinge von Anfang März zusammen: "Bis heute wurden im Gazastreifen bei einer Bevölkerung von etwa 2,3 Millionen Menschen mindestens 29.782 Palästinenser getötet und 70.043 verletzt, insgesamt also mehr als 100.000 Menschen getötet, verletzt oder vermisst. Allein im Gazastreifen wurden 1,7 Millionen Menschen zwangsumgesiedelt."
Deutschland, Kanada, die Niederlande und Großbritannien mitverantwortlich?
Die Schlussfolgerung Managuas: "Deutschland ignoriert weiterhin seine Verpflichtungen und unterstützt aktiv die Verstöße Israels gegen das Völkerrecht, zum unmittelbaren und schweren Schaden des palästinensischen Volkes, insbesondere der Bewohner von Gaza, und der internationalen Gemeinschaft."
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In einer Verbalnote machte Nicaragua außer Deutschland auch Kanada, die Niederlande und das Vereinigte Königreich für "mutmaßliche Verbrechen des Völkermords an der palästinensischen Bevölkerung" verantwortlich, "die während des israelischen Krieges gegen die islamistische Gruppe Hamas im Gazastreifen begangen wurden".
Unterstützung Israels wider besseres Wissen
In diesem Zusammenhang erinnerte Managua auch daran, dass der IGH aufgrund der Fakten und Umstände des israelischen Vorgehens gegen die Palästinenser in Gaza am 26. Januar 2024 zu dem Schluss kam, "dass zumindest einige der von Südafrika geltend gemachten Rechte plausibel sind".
"Mit all den öffentlich zugänglichen Nachrichten und Videoaufnahmen der Gräueltaten, wie sie sich ereigneten, zusammen mit den Erklärungen internationaler Beamter und dem Beschluss des IGH vom 26. Januar 2024" könne Deutschland nicht bestreiten, dass es "von der schwerwiegenden Rechtswidrigkeit des israelischen Verhaltens wusste".
Deutschland habe Israel politisch, finanziell und militärisch unterstützt, obwohl es zum Zeitpunkt der Genehmigungen gewusst habe, dass vor allem die militärische Ausrüstung "für schwere Verstöße gegen das Völkerrecht eingesetzt werden würde".
Aushungern und Zwangsumsiedlungen
Auch in Deutschland dämmert es einigen, dass die Unterstützung für Methoden wie Aushungern und Zwangsumsiedlungen ganz sicher nicht geeignet sind, Deutschlands Glaubwürdigkeit in der Welt zu stärken – ganz zu schweigen von den verheerenden Auswirkungen vor Ort.
So werden etwa im IPG-Journal einige durchdachte Forderungen erhoben: "Die Bundesregierung sollte sich in aller Schärfe für den Schutz der humanitären Helferinnen und Helfer einsetzen und, … die Angriffe auf und Tötung von humanitärem Personal auf das Schärfste verurteilen."
Zum Stichtag 25. März waren 171 Mitarbeitende des Hilfswerks getötet worden.
Zudem solle die Finanzierung von UNRWA unverzüglich wieder aufgenommen werden, weil es "das einzige leistungsfähige Hilfswerk" in Gaza sei und "uneingeschränkten humanitären Zugang zu allen Teilen des Küstenstreifens" benötige.
Tel Aviv die Kontrolle der humanitären Lieferungen entziehen
Das werde jedoch nur möglich sein, "wenn der Regierung von Benjamin Netanjahu die Kontrolle der humanitären Lieferungen an der Grenze zu Gaza entzogen wird". Internationale Inspektionen unter Führung des Büros für die Koordinierung Humanitärer Hilfe der Vereinten Nationen (UN OCHA) sollten dies sicherstellen.
Die israelischen Behörden könnten dabei einen Beobachterstatus erhalten.
Der deutsche Regierungssprecher Wolfgang Büchner erklärte anlässlich der Klageerhebung allerdings lediglich, Deutschland werde seinen Standpunkt vor Gericht darlegen, fügte aber hinzu, dass Berlin die Klage Nicaraguas für ungerechtfertigt halte.
Die entscheidende Frage aber wird sein, ob Deutschland sich einem Schiedsspruch gegebenenfalls beugt und die Hilfe für UNRWA auch im Gazastreifen wieder aufnimmt.
UNRWA-Mitarbeiter gefoltert?
Die EU, Spanien, Kanada, Schweden, Irland, Dänemark und Australien haben ihre Zahlungen an UNRWA bereits wieder aufgenommen und teilweise sogar erhöht. Dazu hat wohl Israels Weigerung geführt, überzeugende Beweise für die Anschuldigungen zu liefern.
Zudem hatten UNRWA-Mitarbeiter beklagt, dass sie durch Folter zu falschen Geständnissen über die Zugehörigkeit zur Hamas gezwungen worden seien. Auch Deutschland unterstützt UNRWA weiterhin – bisher aber lediglich für Maßnahmen außerhalb des Gazastreifens.