Deutschlands Wilder Westen
Seite 2: Im Verbrecher-Jargon
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Im Erfolgsrausch des Sommers 1941 schwadronierte Hitler (am 4. August 1941) darüber, Moskau fluten zu lassen. Die russische Hauptstadt sollte wie Leningrad und Kiew von deutschen Truppen nicht erobert werden, sondern nur eingeschlossen.
Danach sollte die Versorgung in den Städten durch Luftwaffe und Artilleriebeschuss zerschlagen werden, sodass ein Chaos ausbreche, wie Goebbels am 18.08.1941 darlegte. Anstelle Moskaus beabsichtigte Hitler danach einen riesigen See anzulegen.
Im Verbrecher-Jargon wurde auch ansonsten der "riesenhafte Kuchen handgerecht" zerlegt. "Der Riesenraum müsse natürlich so rasch wie möglich befriedet werden; dies geschehe am besten dadurch, dass man jeden, der nur schief schaue, tot schieße."
Immer wieder läuft man in der Beschäftigung mit dem Feldzug in die Gefahr der Hitler-Zentrierung. Eine der wichtigsten Fragen bleibt demgegenüber: Wie bedeutsam ist die Eigendynamik des Krieges, die sich von dem Moment an entfaltete, an dem die deutschen Truppen die Grenze überschritten? Wie bedeutsam sind Nervosität und der Einbruch von Ängstlichkeit, der "Wunsch, jedes Risiko zu vermeiden, aber trotzdem fortgesetzt Erfolge einzuheimsen" (so Halder über Hitler), für die deutsche Politik? Im Herbst 1941 notierte der inzwischen desillusionierte Heeres-Generalstabchef Halder: "Der Führer quengelt, entwickelt Ungeduld und Nervosität und zunehmend Neigung, in alle Einzelheiten hineinzureden..."
Ganz offensichtlich war das Augenmaß für das Erreichbare im OKH völlig verloren gegangen. Die Frage nach den realen Erfolgsaussichten des weiteren Angriffs schienen für Halder und Generalfeldmarschall von Brauchitsch eine Frage des Willens zu sein; und ein paar Monate später bezeichnete der Generalstabschef den gesamten Krieg gegen die Sowjetunion als den Krieg des Willens.
Im Einvernehmen mit Generalfeldmarschall von Bock war Halder, im Gegensatz zu den flamboyanten taktisch hochbegabten Panzergenerälen ein Artillerist und Planungsgenie, ein Bürokrat des Strategischen, aber zugleich ein truppenferner Schreibtischtäter, der Meinung, dass "der härtere Wille" recht behalten werde. Auch der Feind habe keine Tiefe mehr und sei sogar sicherlich schlechter dran als die deutschen Truppen.
"Militärisch und rüstungswirtschaftlich ... bereits verloren"
Kurz darauf kam dann die dramatische Wende: Mehr und mehr stockte der Vormarsch vor Moskau, und ab Mitte November 1941 erwischten die sowjetischen Gegenangriffe die deutschen Truppen auf dem falschen Fuß. Die Angriffsarmee konnte nicht auf Verteidigung umstellen und so effektiv die Deutschen dann waren, wenn ihre Angriffswelle rollte, so ineffektiv waren sie, wenn es galt, sich vor den schnellen Gegenstößen des Gegners zu schützen.
Wenn man die vielen Veröffentlichungen zum Beginn des Russland-Feldzugs vor 80 Jahren liest, fällt auf, wie die deutschen Wehrmachts-Generäle dabei immer zwischen Selbstüberschätzung und Depression schwankten.
In der zweiten Hälfte November kam dann der Schock: "Wir sind am Ende unserer personellen und materiellen Kraft", erklärte am 26.11.1941 der Generalquartiermeister General Wagener gegenüber Halder. Generaloberst Fromm informierte Halder schon am 24.11.1941 über die katastrophale Verschlechterung der rüstungswirtschaftlichen Lage.
Fromm dachte an "Friedensnotwendigkeiten"; kurz darauf sprach auch der Reichsminister für Bewaffnung und Munition, Fritz Todt, gegenüber Hitler die Forderung aus, den Krieg politisch zu beenden, militärisch und rüstungswirtschaftlich sei er bereits verloren. Hitler wollte sich darüber jedoch nicht unterhalten.
"New Frontiers" auf Deutsch: "Bodenpolitik der Zukunft"
Der passionierte Karl May-Leser Hitler flüchtete sich zusehends in Traumwelten und Fantasien. Seine Offiziere und Soldaten wurden derweil mehr und mehr zu bockigen Kindern, zu bösen kitschigen Kindern, die in Russland Abenteuer und nachgeholte Kolonialkriege erlebten. Der kolonialistische Aspekt des Russland-Kriegs ist nach wie vor in der deutschen Wahrnehmung unterbelichtet. Dabei hatte Hitler bereits in "Mein Kampf" eine "Bodenpolitik der Zukunft" skizziert, deren essenzieller Teil die "Eroberung des Lebensraums" im Osten war.
Die Sowjetunion und Russland sind der "Wilde Westen" der deutschen Politik im 20. Jahrhundert. Es geht um Grund und Boden, um "New Frontiers" auf Deutsch. Dies wird auch deutlich in kleinen Formulierungen wie jener von den "Bolschewistenhäuptlingen". In "den Roten" verschmelzen auf der Wahrnehmungsebene Indianer mit Kommunisten. Und der deutsche Soldat muss ein Outlaw, ein Außergesetzlicher werden, um "Gottes eigenes Land" zu erschließen.
Im Mai 1941 projizierte Hitler: "Die Ukraine und dann das Wolga-Becken werden einmal die Kornkammern Europas sein." Im Juni äußerte er sich zur "Bezahlung": "Den Ukrainern liefern wir Kopftücher, Glasketten als Schmuck und was sonst Kolonialvölkern gefällt."
Die Wehrmacht schwor ihre Truppe entsprechend ein: "Es geht darum, das rote Untermenschentum, welches in den Moskauer Machthabern verkörpert ist, auszulöschen." Was nun folgt, so auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Gedenkrede der vergangenen Woche, ist "eine deutsche Barbarei" - "die Entfesselung von Hass und Gewalt, die Radikalisierung eines Kriegs bis zum Wahn totaler Vernichtung".
Es stimmt, was Karl Schlögel in der taz schreibt: "Der Vernichtungskrieg ist viel zu monströs, als dass man ihn begreifen könnte. Man muss es trotzdem versuchen."
Literatur: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft - 69. Jg., Heft 6 (2021)